Was im Leben zählt

Patrick

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Was im Leben zählt

Rastlos getrieben hielt er inne, als sein Weg in einem Park am Rande der Stadt endete. Obschon sein Leben reich war an allerhand Materiellem - an teuren Anzügen, Uhren, Gemälden, an Grundstücken von denen andere nur träumten, an Aktien, Beteiligungen und Festgeldern, von denen ganze Horden Armer sich über Jahre ihre Existenz hätten sichern können - sein Herz war leer. Und so leer sein Herz, so überladen war sein Geist, voll verwirrter Gedanken und Fragen, die immer mehr Zeit hatten, sich auszubreiten und ihn langsam, aber stetig auffraßen. "So ist es, wenn andere für einen arbeiten und man von den Zinsen lebt!", dachte er, als er sich auf einer Parkbank niedersetzte. Schwer waren seine Beine geworden; es tat gut, einen Moment zu sitzen. Doch es dauerte keine Minute, da blickte er bedeutungslos starr auf die gegenüberliegende Seite, wo eine andere Bank stand, von der ein Windhauch zwei trockene Blätter des längst vergangenen Herbstes hinab trug. Nutzlos saß er da, so nutzlos, wie er sich fühlte. Längst hatte er es satt, all seine Reichtümer zu hüten und zu pflegen; satt in der Welt zu reisen, um in ebenso nutzlosen Gesellschaften einen Moment seine Sorgen im Alkohol zu ertränken.

Auf der Holzbank gegenüber nahmen zwei junge Kerle Platz, die sich unterhielten und gelegentlich laut auflachten. Er beobachtete die beiden, und seine Augen wurden rege und glanzvoll, als ob er plötzlich mit ihrem Erscheinen all seine Enttäuschung vergessen hätte. "Leicht war es damals, als man so jung war, voller Sinn das Leben; verlockend süß war es. Spannung lauerte hinter jedem neuen Tag, und unbeschwert fern lag die Zukunft".
Er sinnierte, während die beiden ein Fläschen Bier öffneten und miteinander teilten. Sie tranken es nicht ganz leer und brachen bald auf. Da war er wieder alleine.

Von fernher hörte er ein tiefes Lachen - Lachen, das ihn schmerzhaft in den Ohren klang; nichts hasste er in diesem Moment mehr als die Freude anderer. Zwei Vagabunden kamen daher und nahmen auf der morschen Holzbank Platz. Er warf einen grimmigen Blick hinüber und wandte sich sogleich ab. Ihre Kleider waren schmutzig und reich an Löchern, die fransig, wie Wolkenfetzen am Himmel, hervorragten. Er wollte schon aufstehen und gehen, so lästig waren ihm diese frohmutigen Gestalten, doch: "Warum flüchten vor diesem Pack?", dachte er und fürchtete lediglich angebettelt oder bespottet zu werden, schließlich saß er auf der Bank, wie auf einem Präsentierteller, in edelstem Frack, frisch frisiert, und sein übermüdetes und angespanntes Gesicht war nicht in der Lage, daran etwas zu ändern. Hin und wieder riskierte er einen Blick, den er schnell abwandte, um jeglichen Kontakt zu vermeiden. Aus ihrem Beutel kramten sie einen trockenen Laib Brot, von dem der eine mit einem scheinbar stumpfen Messer versuchte, Stücke abzuschneiden. Gemächlich kauten sie; schneller waren die Spatzen, die sich auf die Krümel am Boden stürzten. Es dauerte nicht lange, da gingen sie fort, und er, auf der anderen Seite, war wieder alleine.

Schwerfällig und langsam an zwei Krücken folgte ein alter Mann seiner Frau, die sich langsam aus ihrer krummen Haltung auf die rettende Bank fallen ließ. Sie breitete ein Kissen aus, auf das sie ein zweites stapelte. Behutsam klopfte sie auf den kleinen Turm, der ihrem Mann das Sitzen erleichtern sollte. Sie streckte ihre kurzen Arme aus und nahm ihm die Krücken ab. Noch langsamer und vorsichtiger als zuvor sie, setzte sich der Alte. Gemeinsam blickten sie hoch zu den Baumspitzen und nieder zu den Spatzen, die nach den letzten Brotkrümeln suchten. Das alte Paar reichte sich die Hände und schien zufrieden. "Wäre man doch so alt.", dachte er und schaute bewundernd zur morschen Bank, wie auf eine Theaterbühne. "Man ist reif und spürt den Tod - das Ende allen Leidens - in sicherer Nähe". Am liebsten wäre er jetzt selbst gestorben. Endlos lange saßen die beiden, endlos. Und er schlief ein. Da träumte er, dass sein Ebenbild auf der gegenüberliegenden Seite Platz nahm, und erstmals seit endlos langer Zeit spürte er Aufregung. Er ekelte sich vor dem Anblick und stand auf, um hinüber zu gehen und das Scheusal der anderen Seite umzubringen. Er kam näher, und sein Ebenbild verschwand. Wie aus dem Nichts stieg Dunst auf. Er hörte eine Stimme, die er nie zuvor gehört hatte.

"Du schaust auf die Armen herab, die sich, ob ihrer Schwäche, des Lebens erfreuen.
Du beneidest die Jungen, die gerade das Wertvollste ihres Lebens verlieren und immer unsicherer in die Zukunft blicken.
Du wünschst dich selbst alt, wo du gar nicht weißt, welche Gebrechen und Sorgen das Alter bringt.
Du wünschst dir den Tod, da dir fremd ist, was im Leben zählt.
Du bist im besten Alter, gesund und unabhängig, deine Taschen sind reich gefüllt, doch dein Herz ist arm.
Geh, schäm dich! Du, der alles hat, was andere missen.
Doch noch eine Chance will ich dir geben, eine letzte Chance: Teile dein Leben mit den Jungen, den Armen, den Alten. Gehe hin und helfe, wo du zu helfen bereit bist. Und sie werden dir geben, was dir fehlt. Du bist ein Teil vom Ganzen. Und das ist alles, was zählt."

Die Bäume rauschten im lauen Wind. Ein paar Vögel sangen noch.
Die letzten Sonnenstrahlen blinzelten durch das pulsierende Grün. Langsam und still floss der Bach. Auf einer Rose landete ein Schmetterling. In der Ferne erklang Kinderlachen.
Er öffnete die Augen. Alles war anders.
 

Astrid

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Hallo Patrick,

eigentlich wollte ich nur mal kurz schauen, vielleicht anlesen und alles Weitere auf Morgen verschieben, weil meine Augen kaum noch gucken können heute.
Aber ich konnte nicht aufhören, zu lesen. Finde den Text sehr flüssig geschrieben, eine wunderbarer Studie von dem Mann und seiner Begegnung mit der Jugend, dem Alter, Denen, die weniger haben.



"zwei trockene Blätter des längst vergangenen Herbstes hinab trug." finde ich sehr schön und als Metapher auch für sein Leben.

Den Charakter des Mannes und seine Gefühlswelt beschreibst du sehr nachvollziehbar, "nichts hasste er in diesem Moment mehr als die Freude anderer."
Es hätte eigentlich auch ein Mann in unseren Tagen sein können (soll ja immer noch Leute mit Kohle geben).
Doch hier bringst du Worte, die vielleicht eher in vergangene Zeiten passen, vielleicht empfinde ich das auch nur so: "Vagabunden" "Ihre Kleider" würde man heute, glaube ich, nicht mehr sagen. waren schmutzig und reich an Löchern, die fransig, wie Wolkenfetzen am Himmel, hervorragten.
Ragen die Löcher hervor? Hier stimmt das Bild nicht ganz, glaube ich, mit den Wolkenfetzen am Himmel, das ist schon okay, aber vielleicht besser: Ihre Kleidung war reich an Löchern, fransig wie Wolkenfetzen am Himmel.


..."und sein übermüdetes und angespanntes Gesicht war nicht in der Lage, daran (etwas?)zu ändern.

Die Alten finde ich wunderbar beschrieben, wie sie auf den kleinen Turm klopft, so liebevoll.

Ab hier war ich irgendwie ein bisschen enttäuscht, kann es aber nicht genau sagen, warum. Vielleicht weil es nun so genau benannt wird, was ich vorher zwischen den Zeilen las, was ich dachte und fühlte.
Es ist wie ein kleines Märchen und nun kommt der "Zeigefinger". Ich meine das nicht böse, habe im Moment auch keinen wirklich guten Vorschlag anzubieten, vielleicht weniger ist mehr?

Auch von der idyllischen Naturbeschreibung am Schluss und vielleicht ist auch nicht alles gleich anders. Ich weiß, wie du das meinst, ich mache auch gern so diesen hoffnungsfrohen Schluss, doch wünschte ich mir hier weniger. Vielleicht lässt du ihn etwas tun, wohin führt ihn sein erster Weg nach dem Aufwachen? Zeige das, was anders ist, als dass du es nennst.

Aber ich gehe jetzt mit dieser schönen Geschichte ins Bett und werde beim Einschlafen an die Dinge denken, die im Leben zählen. Danke für diese Geschichte.
Astrid
 

Astrid

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Hallo Patrick,

eigentlich wollte ich nur mal kurz schauen, vielleicht anlesen und alles Weitere auf Morgen verschieben, weil meine Augen kaum noch gucken können heute.
Aber ich konnte nicht aufhören, zu lesen. Finde den Text sehr flüssig geschrieben, eine wunderbarer Studie von dem Mann und seiner Begegnung mit der Jugend, dem Alter, Denen, die weniger haben.



"zwei trockene Blätter des längst vergangenen Herbstes hinab trug." finde ich sehr schön und als Metapher auch für sein Leben.

Den Charakter des Mannes und seine Gefühlswelt beschreibst du sehr nachvollziehbar, "nichts hasste er in diesem Moment mehr als die Freude anderer."
Es hätte eigentlich auch ein Mann in unseren Tagen sein können (soll ja immer noch Leute mit Kohle geben).
Doch hier bringst du Worte, die vielleicht eher in vergangene Zeiten passen, vielleicht empfinde ich das auch nur so: "Vagabunden" "Ihre Kleider" würde man heute, glaube ich, nicht mehr sagen. waren schmutzig und reich an Löchern, die fransig, wie Wolkenfetzen am Himmel, hervorragten.
Ragen die Löcher hervor? Hier stimmt das Bild nicht ganz, glaube ich, mit den Wolkenfetzen am Himmel, das ist schon okay, aber vielleicht besser: Ihre Kleidung war reich an Löchern, fransig wie Wolkenfetzen am Himmel.


..."und sein übermüdetes und angespanntes Gesicht war nicht in der Lage, daran (etwas?)zu ändern.

Die Alten finde ich wunderbar beschrieben, wie sie auf den kleinen Turm klopft, so liebevoll.

Ab hier war ich irgendwie ein bisschen enttäuscht, kann es aber nicht genau sagen, warum. Vielleicht weil es nun so genau benannt wird, was ich vorher zwischen den Zeilen las, was ich dachte und fühlte.
Es ist wie ein kleines Märchen und nun kommt der "Zeigefinger". Ich meine das nicht böse, habe im Moment auch keinen wirklich guten Vorschlag anzubieten, vielleicht weniger ist mehr?

Auch von der idyllischen Naturbeschreibung am Schluss und vielleicht ist auch nicht alles gleich anders. Ich weiß, wie du das meinst, ich mache auch gern so diesen hoffnungsfrohen Schluss, doch wünschte ich mir hier weniger. Vielleicht lässt du ihn etwas tun, wohin führt ihn sein erster Weg nach dem Aufwachen? Zeige das, was anders ist, als dass du es nennst.

Aber ich gehe jetzt mit dieser schönen Geschichte ins Bett und werde beim Einschlafen an die Dinge denken, die im Leben zählen. Danke für diese Geschichte.
Astrid

P.S. bei der morschen Holzbank ist noch ein der zuviel.
 

Astrid

Mitglied
Hallo Patrick,

eigentlich wollte ich nur mal kurz schauen, vielleicht anlesen und alles Weitere auf Morgen verschieben, weil meine Augen kaum noch gucken können heute.
Aber ich konnte nicht aufhören, zu lesen. Finde den Text sehr flüssig geschrieben, eine wunderbarer Studie von dem Mann und seiner Begegnung mit der Jugend, dem Alter, Denen, die weniger haben.



"zwei trockene Blätter des längst vergangenen Herbstes hinab trug." finde ich sehr schön und als Metapher auch für sein Leben.

Den Charakter des Mannes und seine Gefühlswelt beschreibst du sehr nachvollziehbar, "nichts hasste er in diesem Moment mehr als die Freude anderer."
Es hätte eigentlich auch ein Mann in unseren Tagen sein können (soll ja immer noch Leute mit Kohle geben).
Doch hier bringst du Worte, die vielleicht eher in vergangene Zeiten passen, vielleicht empfinde ich das auch nur so: "Vagabunden" "Ihre Kleider" würde man heute, glaube ich, nicht mehr sagen. "frohmutige Gestalten"

"Ihre Kleider waren schmutzig und reich an Löchern, die fransig, wie Wolkenfetzen am Himmel, hervorragten."
Ragen die Löcher hervor? Vielleicht besser: Ihre Kleidung war reich an Löchern, fransig wie Wolkenfetzen am Himmel?


..."und sein übermüdetes und angespanntes Gesicht war nicht in der Lage, daran (etwas?)zu ändern.

Die Alten finde ich wunderbar beschrieben, wie sie auf den kleinen Turm klopft, so liebevoll. Aber sie ließsich fallen, und ich glaube eher auf die Bank als in die Bank.
Mir gefällt der Vergleich mit der Theaterbühne und dass er am liebsten selbst gestorben wäre in dem Moment.
Auch wie er sein Ich auf der anderen Bank sieht und was er empfindet.
Doch dann war ich irgendwie ein bisschen enttäuscht, als ich die Stimme hörte. Vielleicht weil es nun so genau benannt wird, was ich vorher zwischen den Zeilen las, was ich dachte und fühlte.
Es ist wie ein kleines Märchen und nun kommt der "Zeigefinger". Ich meine das nicht böse, habe im Moment auch keinen wirklich guten Vorschlag anzubieten, vielleicht weniger ist mehr?

Auch von der idyllischen Naturbeschreibung am Schluss und vielleicht ist auch nicht alles gleich anders. Ich weiß, wie du das meinst, ich mache auch gern so diesen hoffnungsfrohen Schluss, doch wünschte ich mir hier weniger. Vielleicht lässt du ihn etwas tun, wohin führt ihn sein erster Weg nach dem Aufwachen? Zeige das, was anders ist, als dass du es nennst.

Aber ich gehe jetzt mit dieser schönen Geschichte ins Bett und werde beim Einschlafen an die Dinge denken, die im Leben zählen. Danke für diese Geschichte.
Astrid

P.S. bei der morschen Holzbank ist noch ein der zuviel.
 

Patrick

Mitglied
Hallo Astrid,

ich freue mich, dass dir meine Geschichte ein wenig gefallen hat. Die Fehler habe ich ausgebessert und einige deiner Vorschläge umgesetzt. Vielen Dank dafür! Das mit den Vagabunden und den Kleidern etc. dachte ich mir auch. Doch ich lese viel Ende 19., Anfang 20. Jahrhundert und schwelge manchmal in dieser Zeit, die ich selbst nie erlebt habe; daher lasse ich es mal so stehen.

Liebe Grüße
Patrick
 
H

HFleiss

Gast
Lieber Patrick, mit deiner Geschichte du hast das entscheidende Problem unserer Zeit angepackt: die Melancholie der armen Reichen.
Sie werden sowieso schon zu lange vernachlässigt, und es wurde Zeit, dass einer auch mal an sie denkt. Dafür gebührt dir Dank. So viel zum Allgemeinen.

Dass sich der reiche Mensch bescheiden soll, denn das ist die Aussage des Textes - wen willst du damit in unserer heutigen Zeit noch begeistern? Aha, wird ein Reicher denken, noch so ein harmloser Naivling, der mir da über den Weg läuft, wie gut, dass er nicht weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß, ich werde ihn leben lassen.
Oder ihm einen Orden verpassen, dann schreibt noch mehr solcher schönen Geschichten.

Dass ich die Geschichte als Parabel lesen kann, dazu ist sie nicht parabelhaft genug erzählt.
Mir kamen die Tränen bei der Lektüre dieser deiner zu Herze gehenden Story. Die armen Reichen, auch sie, ja auch sie!, auch sie haben ihre Probleme.

Viele liebe Grüße
Hanna
 



 
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