Was mich zum Bleiben bewegt

Ati

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Was mich zum Bleiben bewegt?

Ich weiß nicht, ich habe eigentlich noch nie so wirklich darüber nachgedacht. Nein, das wäre gelogen. Natürlich habe ich mich das schon gefragt und war überrascht von der Vielzahl an Antworten, die mir spontan eingefallen sind.

Da wäre zum Beispiel das Lachen und die Neugier in Kinderaugen, wenn ich in der Stadtbücherei vorlese. Ihre Freude, wenn sie mich sehen. Bedauerlicherweise habe ich keine eigenen Kinder, doch wenn ich also irgendwann nicht mehr bin, weiß ich wenigstens, dass ihnen die Trauer darüber erspart bleiben wird und die Kinder in der Bücherei werden mich schnell vergessen.

Freunde – wobei, viele sind nicht mehr übrig und die wenigen sind weit weg. Es ist lange her, dass mich einer von ihnen in den Arm genommen hat. Wenn ich also irgendwann nicht mehr bin, wird zum einen eventuell sowieso keiner mehr übrig sein und falls doch, wird er es erst viel später mitbekommen, weil ich einfach nicht mehr zu erreichen bin.

Die Familie – aber genau genommen haben alle ihr eigenes Leben und eigene Probleme. Wir sehen uns schon lange Zeit kaum noch, nicht nur, weil ein Teil weit entfernt wohnt. Das ist gut so, denn wenn ich also irgendwann nicht mehr bin, wird mich niemand aus der Familie groß vermissen, denke ich.
Mein Hund, wer soll sich um ihn kümmern, wenn ich nicht mehr bin – allerdings: der Nachbar kümmert sich ja jetzt auch um ihn und da geht es ihm gut. Wenn ich also irgendwann nicht mehr bin, weiß ich, dass er gut versorgt ist.

Meine Ärzte, vermutlich werden sie von heute auf morgen arbeitslos, wenn ich nicht mehr in ihre Praxen oder Kliniken komme. Okay, ich gebe es zu, die Pauschalen ihrer Kassenpatienten könnten sie da durchaus retten. Doch wenn ich also irgendwann nicht mehr bin, können sie sich eindeutig und endlich ausgiebiger mit ihren anderen Patienten befassen.

Liebe – Liebe ist etwas wundervolles, ich glaube fest daran, dass es sie gibt. Für jeden von uns. Allerdings …. habe ich sie je erlebt? Habe ich mich je soweit öffnen können, dass die eine verwandte Seele mich finden konnte? Habe ich je Liebe einfach so annehmen können? Eher nicht, einfach weil ich nicht glauben kann, dass ich sie verdiene. Wenn ich also irgendwann nicht mehr bin, wird es niemandem das Herz brechen, denn ich habe die, die mir ihre Liebe geben wollten so erfolgreich von mir weggestoßen, dass sie es irgendwann aufgegeben haben, um nicht an mir zugrunde zu gehen.

Wut – ich würde einer bestimmten Person gerne das heimzahlen, was sie mir angetan hat. Ihr Verhalten hat mein Leben für immer verändert. Doch selbst wenn ich meine Rache bekomme, wird wenn ich also irgendwann nicht mehr bin nichts von dem, was passiert ist, ungeschehen sein. Was nützt also diese Rache?

Meine Arbeit. Ich liebe sie, weil ich weiß, dass ich anderen damit helfen kann. Ich werde geschätzt für das, was ich da mache. Doch wenn ich es recht bedenke, bin ich wie jeder andere beliebig austauschbar. Wenn ich also irgendwann nicht mehr bin, werde ich keine wirkliche Lücke hinterlassen.

Oder der nächste Frühling – ich liebe den Frühling und habe schon einige wunderschöne erlebt, habe Kraft durch die Farben und das Licht gesammelt, aus der Zeit des Erwachens und des Wachstums. Ein wundervolles Geschenk der Natur. Wenn ich aber irgendwann nicht mehr bin, kommt und geht der Frühling auch so, dafür braucht er mich nicht.

Natürlich möchte ich, dass mein Leben eine Spur hinterlässt. Doch wenn ich es mir genau überlege, lebe ich gar nicht wirklich. Ich existiere schon so lange einfach und umschiffe die Klippen, die das Leben für mich bereit hält lediglich mehr oder weniger erfolgreich, meist mit Hilfe anderer. Wenn ich also irgendwann nicht mehr bin, wird es keine nennenswerte Spur geben, die es sich zu verfolgen lohnt.

Es gibt noch so viele Gründe mehr zu bleiben, sie aufzuzählen, würde zu lange dauern. Doch wenn ich es mir genau überlege, sollte man die Frage anders formulieren. Was hindert mich noch am Gehen?
 



 
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