Waschbär Viktor und die guten Manieren

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HFleiss

Gast
Viktor und die guten Manieren

Es war einmal ein kleiner Waschbär, der Viktor, und er wohnte mitten im finsteren Walde,
in einem großen dicken Eichenbaum. Viktor hatte keine Geschwister. Tag für Tag kletterte er heimlich auf die Spitze der Eiche und hielt Ausschau nach anderen Waschbärenkindern. Aber nie, wirklich nie, kam eines vorbei. Und so langweilte sich Viktor schrecklich. Und was den Ärger über dieses traurige Waschbärenleben noch ärger machte: Den lieben langen Tag erzog Mutter Martha an ihm herum. Viktor, ihr Stolz, ihr Kronsohn, er sollte es einmal besser haben als seine Eltern, am liebsten wäre es ihr, wenn er in der Stadt bei den Menschen wohnen würde, wo die Müllcontainer stehen und Waschbären niemals hungern müssen.

Darum brachte Mutter Martha dem armen Viktor gute Manieren bei, wie sie unter den Menschen üblich sind: also beim Essen nicht schmatzen, sich nicht wie ein Ausgehungerter auf den Teller stürzen, sondern abwarten, bis Mutter Martha ihm einen guten Appetit wünschte, nicht an den Krallen knabbern, täglich das Fell pflegen und die Meisenjungen, die eine Etage über Waschbärs wohnten, in Ruhe lassen, danke und bitte, na ja, und was es sonst noch so an einem kleinen Waschbären zu erziehen galt. Also sehr viel, viel zuviel für Viktor, der lieber ein Waschbär ohne gute Manieren gewesen wäre.

Waschbär Viktor war ein Dickkopf. Nie tat er das, was Mutter Martha verlangte. Das erste Wort, das er lernte, ohne dass Mutter Martha es ihm beibrachte, war Nein. So wirst du dich niemals in der Stadt zurechtfinden, Kind, sagte sie bekümmert, wenn er wieder mal vom Eichbaum gefallen war, gerade in dem Moment, als sie ihm schreckerfüllt zurief, er solle achtgeben und nicht herunterfallen. Nun grade, rief Viktor übermütig, aber höflich, und plumps, lag er zu Füßen der Eche. Grün und blau war sein Fell zuzeiten, und Mutter Martha hatte zu tun, ihn wieder gesund zu pflegen.

Jetzt kennt ihr Viktor, den Waschbären, und sein trauriges Leben. Richtig schlimm wurde es aber erst, als er in die Schule kam. Schularbeiten machen – puh, und Mutter Martha saß immer dabei und gab acht, dass er nicht radierte. Schreib ordentlich, sagte sie verärgert, wenn sie merkte, dass Viktor unter dem Tisch mit den Füßen zappelte. Und zappel nicht so viel, ermahnte sie ihn dann. Aber Viktor tat, als ob er nichts gehört hätte, zappelte und radierte, und Mutter Martha stöhnte jeden Tag: Was hab ich Schlimmes getan, dass ich einen so unfolgsamen Sohn habe? Und dann tröstete Viktor sie: Ich bin ja noch nicht erwachsen, aber eines Tages – du wirst schon sehen. Dann streichelte Mutter Martha ihren Viktor und gab ihm stolz einen Kuss mitten auf das Schnäuzchen.

So verging die Zeit, mit Ach und Krach hatte Viktor die Schule beendet, und er sollte in die weite Welt gehen, auf Wanderschaft, um auf eigenen Füßen stehen zu lernen und seinen Müllcontainer in der Stadt zu finden. Frohgemut, endlich konnte niemand mehr an ihm herumerziehen und ihm gute Manieren beibringen, machte sich Viktor auf den Weg. Kreuz und quer lief er durch den Wald, merkte sich nicht Weg noch Steg, und als es dunkelte, staunte er: Er hatte sich verlaufen. Nun war er ganz allein auf der Welt, niemand war da, der ihm den Weg zeigen würde, und so lernte Viktor den Gebrauch seiner Waschbärennase. Und die führte ihn auch richtig in die Stadt, dort, wo die Müllcontainer der Menschen stehen, von der ihm Mutter Martha immer vorgeschwärmt hatte.

Die Stadt war schön, und sie war schrecklich. Ungeheuer hausten dort, mit glühenden Augen
blinzelten sie Viktor an, und Viktor, dem das Herz im Halse schlug, blinzelte mutig zurück. Aber die Ungeheuer machten sich nichts daraus, und mit Stampfen und Gestank kamen sie ihm entgegen, und wäre Viktor nicht beiseite gesprungen, sie hätten ihn gefressen. Aber Viktor war nicht auf den Kopf gefallen, mit großen Sprüngen lief er ihnen davon, und welch Glück, denn jetzt geht die Geschichte von Waschbär Viktor weiter, sonst wäre sie nämlich hier schon zu Ende, und ich sehe es euch an der Nasenspitze an, ihr seid noch nicht müde.

Unser Viktor hatte sich schnell von dem Schreck erholt und tat, als sei er ein Tourist wie andere auch, steckte seine Nase hierhin und dorthin, und als Frau Wiedemeyer vom Zeitungskiosk ihn für eine riesige Maus hielt und ein ohrenbetäubendes Geschrei erhob, konnte Viktor nur lachen: Er und eine Maus! Vorsichtshalber machte er sich trotzdem aus dem Staub, nicht ohne sich höflich von ihr zu verabschieden. Aber Frau Wiedemeyer war viel zu aufgeregt, um seine guten Manieren zur Kenntnis zu nehmen.

Viktor schlenderte durch einen Park. Plötzlich, seine Waschbärennase schnupperte: Es roch nach – ja wonach denn? Langsam schlich sich Viktor näher an den verführerischen Duft heran, und endlich stand er vor einem der sagenhaften Müllcontainer, den ihm die Mutter so eindringlich beschrieben hatte, dass er sich jetzt bestimmt nicht irren konnte. Er vergaß alle guten Manieren und stürzte sich kopfüber in den Müllcontainer.

Es war schon Tag geworden, als Viktor sich endlich aus dem Müllcontainer heraustraute, vollgefressen, und weil er auch noch lange geschlafen hatte, voller Tatendrang. Ja, Mutter Martha hatte recht gehabt, in der Stadt mit ihren vollen Müllcontainern ließ es sich gut leben.
Das einzige, was ihn störte, waren die unfreundlichen Ungeheuer mit ihren glühenden Augen.
Dieser Gestank und dieser Krach! Wirklich unhöflich. Wie die Menschen das nur aushielten. Warum wehrten sie sich nicht? Da war das Geschlecht der Waschbären von anderem Holz, tapfer und geradlinig, auch das hatte ihm Mutter Martha beigebracht. Tapferkeit geht vor Manieren, entschied er. Dem nächsten Ungeheuer würde er nicht davonlaufen, sondern ihm die Stirn bieten.

Und also stellte er sich auf die Straße, vor ein anderes Ungeheuer mit drei Augen, einem roten, einem gelben und einem grünen. Kühn blickte Viktor ihm entgegen. Schon merkte er, wie sein Mut wuchs, das Ungeheuer blinzelte ängstlich, mal rot, mal gelb, mal grün, rührte sich aber nicht von der Stelle und piepste kläglich. Andere Ungeheuer jedoch, und Viktor bemerkte es nicht, kamen ihm zu Hilfe, und als Viktor endlich begriff, war es zu spät.

Viktor erwachte in der Quarantänestation des Stadtzoos, beide Beine eingewickelt, sie schmerzten und sein Kopf dröhnte. Was war nur geschehen? Und wie kam er hierher? In diesen Käfig? Und all die anderen Waschbären ringsum in den Käfigen?

Nachmittags kam Frau Dr. Ilona Liebetraut, wickelte Viktors Beine aus, besah sie sich, gab ihm eine Spritze und einen Stups auf die Nase. „Wird schon werden, du Held.“ Viktor strampelte und fauchte, aber es half nichts, immer gewinnen die Menschen. „Keine Manieren, der Neuzugang“, tadelte Frau Doktor und schloss die Käfigtür hinter ihm.

Doch Viktor war schon wieder eingeschlafen und konnte nicht widersprechen. Und als er wieder laufen konnte, gab man ihn zu den anderen Waschbären im Stadtzoo. Hier lebt er jetzt, ihr könnt ihn ganz leicht erkennen: Er hat zwei dunkle Augen, die er hinter einer schwarzen Brille versteckt. Und wenn ihr ihm einen Apfel durchs Gitter reicht, kneift er kennerisch ein Auge zu, zögert ein wenig, ehe er nach dem Apfel langt, und verneigt sich dann vor euch, wie ein Gentleman. Höflich und korrekt, wie es sich Mutter Martha für ihren Kronsohn erträumt hatte. Und wenn er sprechen könnte wie die Menschen, was würde er sagen? „Ah, Boskop!“ würde er sagen, allerhöchstens. Was sonst? Oder habt ihr etwas anderes erwartet? Ausgerechnet von einem Waschbären?
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
absolut

entzückend. du hast dich sehr gut in den waschbären hineinversetzt und auch in die recht junge leserschar.
lg
 



 
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