Weg in die Freiheit - Ein Brief

hwg

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Lieber Jonathan!
Das ist mein Abschiedsbrief an Dich. Ich weiß, dass er Dich nicht mehr erreichen wird.
Gestern habe ich erfahren, du hast Dir das Leben genommen. Deshalb ist dieser Brief ein Selbstgespräch. Mein Versuch, mir etliches von dem, was zwischen uns gelaufen ist, von der Seele zu schreiben.

Es war im Taxi, als ich den Brief Deiner Schwester las. Ich war unterwegs nach Graz-Andritz, zwei Straßen weit entfernt von der Wohnung, in der wir vor Jahren für einige Wochen gemeinsam gelebt hatten. Ich begriff die Nachricht, konnte jedoch nicht darauf reagieren. Irgendwas blockte jedes Gefühl ab. Und erst langsam gestand ich mir ein, dass Dein Tod mich auch erleichterte. Ich wurde bei diesem Gedanken rot. Warum fühlte ich mich entlastet? Wir hatten uns doch auch gern gehabt. Ich horchte in mich hinein. Aber kein Gefühl der Trauer kam auf.
So landete ich bei meinen Autorenkollegen. Wir wollten zusammen die Ausgabe der neuen Literaturzeitschrift besprechen. Ich sagte zu ihnen: "Ihr müsst mir helfen. Ein Freund von mir hat sich umgebracht. Ich kann aber nichts empfinden."
Ich streckte mich auf dem Sofa aus, Klaus legte seine Hand auf meine angespannte Bauchdecke. Und mit der Zeit kam hoch, was ich jahrelang runtergeschluckt hatte - Hassgefühle, die ich mir aus schlechtem Gewissen nie eingestand.

Du hattest die Schuldgefühle anderer in Deine Lebensführung eingeplant. Vor drei Jahren war es, als Du Dir wieder einmal die Pulsadern aufgeschnitten hattest. Du warst im Spital gelandet. Und damals stellte der Arzt Deine Schwester vor die Alternative: "Entweder Sie nehmen ihn mit nach Hause oder ich muss ihn in die Psychiatrie überweisen." Die Entscheidung für uns, bei unserer Sympathie für Deine Schwester, unserem politisch linken Anspruch und unserer Kenntnis der Situation auf der psychiatrischen Abteilung war klar. So kamst Du in unsere Wohngemeinschaft.

Du warst keine Zumutung. Du konntest weich und offen sein. Du warst intelligent und verstandest, Dich und Deine Heimvergangenheit beredt darzustellen. Skepsis und Kritik kamst Du oft durch Deine Selbstkritik zuvor. Und Du hattest ein Arsenal an Techniken, Dich und uns über den Ernst Deiner Situation hinwegzutäuschen. Deine Alkohol- und Tablettenabhängigkeit hatte ich erst viel später so richtig kapiert. Klar! Ab und zu kamst Du besoffen nach Hause. Und einmal musste ich Dir auf dem Boden meines Zimmers das Messer wegnehmen, da Du Dich wieder einmal verstümmeln wolltest. Es war Deine Möglichkeit, uns alle zu bannen. Es war Dein Stolz, der Dir nicht erlaubte, Dich so zu sehen, wie Du nun mal warst: Einsam, lebensunfroh und von der Zuneigung anderer abhängig.

Du hattest Recht: Auch ich habe Jahre gebraucht, um meine Schwächen mir einzugestehen und mich anderen zuzumuten. Aber Du konntest Dich in Verachtung flüchten. Gingst auf den Strich. Sonntest Dich in der materiellen Großzügigkeit älterer Liebhaber, um Dich nach einer Weile wieder auf Dich selbst zurückzuziehen. Aus solchen Rückzügen entstanden die Bilder, die viel von Deiner Sehnsucht nach Wärme und Anerkennung verrieten. In solchen Situationen kamst Du ins Schwärmen. Erfuhr ich die rosigen Zeiten des Heimes, Deine Freundschaft zu Jungen, in die Du Dich verknallt hattest, aber weiter den rauen Typen spieltest. Was ich bei Theresa, einem Strichmädchen, mitbekommen hatte, traf auch für Dich zu. Nur eine Liebesbeziehung zu einem Gleichaltrigen oder Jüngeren hätte Dich vielleicht retten können. Hätte Dir den Schonraum gegeben, Verbindlichkeit und Verantwortung zu lernen.

Aber da waren ja wir, die schon aus Schuldgefühlen wegen unserer priveligierten Herkunft immer zu Mitleid bereit waren. Die Dir nur begrenzt Widerstand leisten konnten. Da waren Deine Selbstmordversuche, die uns hinderten, voll zu unseren Gefühlen zu stehen. So dass sich die Wut, die Enttäuschung, der Hass sich nur untergründig Bahn verschufen. Und diese unausgelebten Gefühle verdrängten mit der Zeit die positiven Wahrnehmungen. Du hattest auch diesbezüglich Recht: Ich habe mich nicht nur Dir gegenüber verklemmt verhalten, sondern mich in den meisten meiner Beziehungen angepasst, ja sogar unterworfen. Du hast mir zu bitteren Einsichten über mich verholfen. Weil ich nicht zu mir stand, konntest Du mich ausbeuten. Ich forderte Dich geradezu heraus, und ich belog mich, indem ich meinen Hass verdrängte und Dir die moralische Schuld zuschob. Wie viele Freundschaften laufen nach dem gleichen Gesetz ab und kommen über das Moralisieren nicht hinweg? Es war für mich wichtig, den Sprung aus dieser Wohngemeinschaft zu schaffen. Zu viele Tabus und eingefahrene Beziehungen gab es, über die wir uns gegenseitig mit lehrhaften Rationalisierungen zu täuschen versuchten.

Als Ausgleich für meinen Auszug schlug ich dir vor, mit mir nach Italien zu fahren. Ich freute mich auf Venedig. Du hattest Recht - mein Verhalten war demütigend. Du konntest kaum das Hotelzimmer verlassen. Dein Körper brauchte den täglichen Alkoholspiegel. Du warst ein alter, zittriger Greis, den der kleinste Stiegenaufgang zum Japsen brachte. Und da war ich - den nicht zuletzt Deine Sinnlichkeit, die in Deiner Aggressivität überlebt hatte, noch immer anzog. Aber ich konnte einem Kranken nicht die erforderliche Wärme und den notwendigen Schutz geben. Und so lagen wir in unserem Hotelzimmer auf dem großen Bett regungslos nebeneinander und sahen tatenlos zu, wie der Abgrund zwischen uns zunahm. Ich war erleichtert, als Du selber den Entschluss fasstest, zurückzufahren. Das gab mir ein gutes Gewissen. Denn ich sah meinen Urlaub gefährdet. Ich wollte nach dem Lösungsprozess der letzten Wochen endlich Ruhe trinken, keine Probleme haben... Ich war unfähig, auf Deine Wünsche einzugehen. Und doch - wie wichtig wäre es für Dich gewesen, zu erfahren, dass ich Lust auf Dich hatte.

In Wien hörte ich dann lange Zeit nichts von Dir. Ich brauchte lange, um zu erfassen, dass das Gefängnis Dir etwas Positives bedeutete. Ein Erholungsheim, das Dir alle Verantwortung für die Alltagsbewältigung abnahm. Manfred besorgte Dir dann den Platz auf der Baumgartnerhöhe. Aber bevor Du die Entziehungskur antratest, machtest Du erneut einen Fluchtversuch. Lena fand Dich - blutüberströmt. Sie war im siebenten Monat schwanger. Was hätte alles passieren können! Wie leichtfertig Du mit der Lebenslage anderer umgingst! Dann das Problem - was passiert nach dem Entzug? Die Wohngemeinschaft lehnte es ab, Dich wieder aufzunehmen. Deshalb schlug ich Dir vor, vorübergehend bei mir zu wohnen. Wie unrealistisch ich meine Möglichkeiten einschätzte! Doch wir zogen wieder zusammen. Ich wollte dir noch eine Chance geben. Dich nicht durch mein Vorurteil in alte Bahnen zurückdrängen. Und Du konntest alles, was Du unternahmst, begründen. Und das mir gegenüber, der ich jahrelang an die Magie der Worte geglaubt habe. Warum sollte sich einwenden, dass Dir ein Glas Bier nicht bekommt? Später schrieb ich für Dich das Märchen von dem Mann, der sich ein Pflänzchen anschafft, es regelmäßig gießt und es wuchern und wuchern lässt, bis die Pflanze ihn beherrscht und auffrisst. Um mein Vertrauen zu signalisieren, ließ ich mich ausnehmen und hatte Angst, an Dir die Nächstenliebe zu bekämpfen. Und wie sollte ich auch Einfluss ausüben? Wenn ich Dir auf die Nerven ging, gingst du weg. Ich hatte keine Lust, die Straßen abzuklappern, die Bars in der Nachbarschaft. Also übersah ich die Rückfälle, die Diebstähle. Das Sozialamt zahlte. Somit bestand kein Grund für Dich, aus Deinem Verhalten auszubrechen. Du fandest Dein Leben lang Menschen, die sich für Dich einsetzten: Deine Schwester, Manfred, manche Deiner Liebhaber, ich. Und die Sozialarbeiterin. Mit der Zeit gewann ich diese geduldige, mütterliche Frau lieb. Und wir rücksichtslos Du mit ihr umsprangst. Manfred schaffte es endlich endgültig, mich Dir gegenüber auf Konfliktkurs zu steuern. autoritär vorzugehen.

Du aber konntest Dich jederzeit entziehen. Als Deine Sozalhelferin und ich herausbekamen, dass Du innerhalb kurzer Zeit an die eintausend Euro die Kehle runtergeschickt haben musstest, platzte mir der Kragen. Ich ohrfeigte Dich heftig. Polizisten holten Dich ab, Du musstest wieder ins Gefängnis. Zwei Monate später konntest Du mir gegenüber schon wieder den tollen Typen mimen. Die endgültige Trennung stand allerdings fest.

Nun hast Du Dich für den totalen Abgang entschieden. Du bist der Dritte unter meinen Freunden. Ich aber kann mich nicht durch Schuldgefühle lähmen lassen. Ich gehe meinen Weg weiter. Ich weiß, meine Tränen erreichen Dich nicht. Hörst Du wenigstens über den Wolken die Scherben? Land in Sicht, singt der Wind in mein Herz. Die lange Reise ist vorbei. Morgenluft weckt meine Seele auf. Ich lebe wieder und bin frei!
Hannes
 



 
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