Wehret den Anfängen

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zola

Mitglied
"Die Anfänge!", Dr. Lüdtke stöhnte. Das Schlimmste an den eingereichten Kurzgeschichten waren die Anfänge. Sie verhinderten, daß man weiterlas und nachher mußte man sich vorwerfen lassen, die Geschichte gar nicht ganz gelesen zu haben.
"Wehret den Anfängen!", kam Lüdtke in den Sinn, und auf einmal erschienen ihm die Anfänge wie glatzköpfige Neonazi-Schlägerbanden. Er legte den Stapel an die Seite seines chaotisch überfüllten Schreibtischs und rief seine Lieblingspornoseite auf. Doch bereits beim ersten Videoaufruf stürzte sein PC ab. Lüdtke fühlte sich elend und beschloß, irgendeinen Vorwand zu finden, in die Stadt gehen zu können.
Der Verlagsleiter, Typ Oberstudiendirektor in Verbindung mit Untersuchungsrichter, hielt nichts von Home Office und kannte gerade bei Lüdtke kein Pardon. Lüdtke war durch die goldenen Zeiten des laissez-faire in der Redaktion des Kursbuches für abhängig-überwachte Beschäftigung eigentlich ungeeignet, aber seine Autorenkontakte waren durchaus bemerkenswert: Mit Bodo Kirchhoff das Studium abgebrochen, Duzfreund von Peter Henning, auf der Einladungsliste beim jungen Unseld, Gast im Hause Walser (Alissa, Therea, Johanna), Podiumsteilnehmer mit Mosebach, Sloterdijk, Grünbein. Auf der Journalistenliste für Klagenfurt. Drei Monographien zu Musil, Heinrich Mann und Robert Gernhardt.
Lüdtke litt darunter, daß er als Lektor für Anthologien kaum was verdiente und ihm die ausländischen Lizenzen ins Programm gedrückt wurden, die sein ohnehin schon bescheidenes Budget von neun Neuerscheinungen und zwei Anthologien auf eines von jeder Sorte reduzierte. Lüdtke las heimlich und besessen Houellebecq und verzehrte sich nach dessem neustem Werk.
Hinter dem Bahnhof gab es ein Massagestudio, an dem Lüdkte mehrmals scheu vorbeigeschlichen war. Die vergammelte Aluminiumtür lies den von ihm favorisierten Hausfrauensex mit einer älteren Mutti erwarten. Aber er befürchtete, auf eine schlanke Ukrainerin zu treffen, die ihn spöttisch mustern würde. Lüdtke nahm gar keinen Vorwand, sondern sagte im Gruppensekretariat kurz Bescheid, daß er zum Mittagessen gehe.
Sobald er auf der Straße war, wurden seine Knie weich und sein Mund trocken. Nun gab es nur noch ein Ziel, einen Weg den ins "Studio 69", wie sich der Salon verheißungsvoll nannte. Zum Bahnhof waren es etwa 7 Minuten; ein Zeitraum, in dem Dr. Lüdtke zweimal fast überfahren worden wäre. Vor dem Studio schaltete er sein Handy aus und klingelte. In diesem Moment trat ein anderer Gast hinzu, ein älteter, dicker Osteuropäer in Trainingshosen mit zerlaufenen Schuhen
von Takko. Einige Sekunden vergingen. Lüdtke wurde es ungemütlich. Blut schoß in sein Gesicht. Ihm wurde schwindlig. Auf einmal öffnete ein anderer Osteuropäer die Tür und gab ein kurzgesprochenes "Heut' erst um vier" zu den Wartenden.
Lüdtke war unendlich erleichtert und beschloß, statt dem Studio im Havanna ein paar Tapas zu nehmen. Er würde nie wieder dort klingeln.
 
B

bonanza

Gast
zola, bei deinem text verhält es sich genau andersherum.
der anfang machte mich an. der rest verlief sich in
verständnislosigkeit.
armer lüdtke.
immerhin eine aussage, die ich unterstütze.
ein guter anfang ist unbedingt nützlich. aber er
nützt nichts, wenn danach nur noch leeres gefasel kommt.

bon.
 

zola

Mitglied
Hallo, Bonanza, vielleicht hätte Lüdtke nicht so viel erleben dürfen, sondern hätte einfach bei den Anfängen bleiben sollen.
 



 
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