Weihnachten ist wie ein Bad

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Weihnachten ist wie ein Bad
Weihnachten ist wie ein Bad, dachte sie. Gestern hatte sie es wieder genossen, das Licht des Christbaums, das mit nichts anderem zu vergleichen ist, wie es alles zum Leuchten bringt, das Wohnzimmer vergoldet. Sie hatte alles losgelassen und nur auf die Krippe gesehen aus dem Erzgebirge, schön, dass man so etwas jetzt wieder bekommt, nur, sie nehmen auch ihren Preis dafür, aber den brauchen sie wohl. Sie erinnerte sich mit kaltem Schaudern an die Erzählungen ihrer Mutter von den Kindern in den Knopffabriken Thüringens, und manchmal blieben ihre Finger in den Maschinen. An die Finger in den Knopfmaschinen dachte sie, als sie die Geldscheine hinzählte, obwohl diese Kinder längst gestorben waren in diesem mörderischen Jahrhundert. Ihre Tochter sollte eine Krippe haben, und nun hatte sie davor gesessen und auf das Kind in der Krippe geschaut, während die Kinder das Geschenkpapier von den Päckchen rissen. Sie konnte sich nicht sattsehen an diesem kleinen Kind, alles andere versank um sie herum, sie hörte nicht, als der Junge auf seiner Autorennbahn die Renner rasen ließ, gedankenlos ließ sie sich von dem Mädchen abhorchen mit dem Stethoskop aus dem Arztkoffer. Sie konnte sich von Maria und Joseph nicht trennen und nicht von dem Kind.
Es dauerte lange, bis sie wieder auftauchte. Dann aber freute sie sich über den Lärm der Rennbahn, erinnerte sich an ihren Jungen, der sich damals einen Mountain-Express gewünscht hatte und auch bekam, ein lärmendes Blechspielzeug, mit dem er drei Tage lang die Familie terrorisierte. So ist das, wenn man Kinder hat. Was ihr Junge wohl in Brisbane seinen Kindern unter den Baum legt? Ob er am Strand feiert? Weihnachten in der Badehose?
Heute war sie allein. Sie war froh darüber, aber auch dankbar, dass ihre Tochter sie zum Heiligen Abend eingeladen hatte. Ohne den Weihnachtsbaum, die Kerzen, die Kinder, die Krippe hätte sie dieses Gefühl nicht gehabt, einzutauchen in ein reinigendes, erfrischendes, beruhigendes Bad. Sie goss noch einmal Wasser in den Filter, nun würde der Kaffee reichen für den Vormittag. Sie nahm die Kanne, die Packung mit den Dominosteinen, Honigkuchen, Marzipan und Gelee, sie schmecken nur in diesen Tagen, ging ins Wohnzimmer, zündete die Kerze auf dem Tannengesteck an. Was soll sie auch mit einem Baum, ohne Kinder würde er sich grämen im leeren Zimmer. Sie goss sich einen Kaffee ein, freute sich über das tiefschwarze Getränk und über den goldenen Rand rundherum, griff nach einem der dunkelbraunen Würfel, legte ihn dann aber wieder zurück, stand auf, ging zur Wand, und öffnete die 24. Tür ihres Adventskalenders. Gestern war sie nicht dazu gekommen, erst musste sie zum Schlachter, das Fonduefleisch holen, dann musste sie es kleiner schneiden, die machen immer so große Stücke, dann sollte sie die Geschenke noch einwickeln, nur die Bücher und das Parfüm packen sie heutzutage noch im Laden ein, es war so viel zu tun für jemanden, der sonst nichts mehr erledigen muss. Jetzt aber öffnete sie das große Tor.
War sie nicht kindisch, eine alte Frau und ein Adventskalender? Als die Kinder ausgezogen waren, fand sie ihn auf dem Boden. Keiner hatte ihn mitgenommen. Junge Leute lachen über den Kitsch. So ein buntes Bild vom windschiefen Stall, schwebende Engel, die Posaune blasen, dunkle Hirten, die auf die Knie fallen, Könige, die Geschenke bringen, Ochsen, Schafe und Esel, was sollen junge Leute damit! Aber sie hatte ihn aufgehängt, jedes Jahr wieder, und sie freute sich über den blauen Mantel der Maria und den finster blickenden Joseph im Hintergrund, und das Jesuskind trug einen goldenen Strahlenkranz um den Kopf. Natürlich wusste sie, was hinter der 24. Tür war, aber sie war glücklich, jedes Jahr feierlich die beiden Flügel dieses Fensters zu öffnen.
Aufatmend ließ sie sich auf ihren Stuhl fallen. Jetzt erst biss sie in den Dominostein. Ja, sie war ein Kind. Sie war ein Kind seit siebzig Jahren. Doch sie schämte sich dessen nicht. Den goldenen Kranz ums Haupt trug sie nicht. Das wusste sie. Immer, wenn sie neugierig in einen Kinderwagen guckte, so ein winziges Gesicht sah, tauchte vor ihren Augen das Kind auf, das sie hatte wegmachen lassen, sie wollte doch erst ihre Lehre abschließen, es passte einfach nicht. Einen strahlenden Kranz auf den Locken verdiente man sich nicht mit dem stundenlangen Warten im kargen Zimmer der billigen Absteige, bis er dann endlich kam, und sie holte später atemlos ihre Kinder von der Nachbarin, um zeitig genug das Essen auf dem Tisch zu haben, auf das er Anspruch hatte, solange er das Geld nach Hause brachte. Plötzlich war es wieder da, dieses brennende Lodern im Bauch, als sie damals zur Bescherung gerufen wurde, und sie hatte ihrer Mutter doch 5 Mark aus den achtlos auf dem Küchentisch abgelegten Portemonnaie genommen. Die Kerzen am bunten Tannenbaum leuchteten, als wäre das nicht gewesen. An diesem Fest war Weihnachten zum erstenmal wie ein Bad für sie. Im Licht der Kerzen verbrannten vor Jahren die Schläge, die sie ihrer Vierzehnjährigen verabreicht hatte, weil sie erwischt worden war mit einem Nagellack bei Douglas, in ihren Lichtern schmolzen die Ketten, die sie an die Flasche gefesselt hatten, nachdem er gegangen war für immer, denn die andere war fünfzehn Jahre jünger, blond und ging regelmäßig auf die Sonnenbank.
Es ist keine Schande, ein Kind zu sein von dem da, dessen Namen sie nur selten dachte. Für die anderen bin ich nur die Alte, die sich aufregt, wenn der flotte Single nebenan wieder die Treppe nicht gemacht hat, eine Rentnerin, die sich schon mal an der Kasse frech vordrängelt, obwohl sie doch genug Zeit haben müsste. Seit jenem peinlichen Weihnachten konnte ihre Mutter das Geld lose in die Schublade des Küchenschrankes legen, sie rührte es nicht an, nie wieder.
Wie in dieser Jugendzeit lernte sie auch jetzt von dem Kind in der Krippe. So viele Schritte konnte sie ihm hinterhergehen, und sie würde es tun. Sie wollte nicht wieder schweigen, wenn ein trunkener Deutscher in der U-Bahn die fremde Familie beschimpfte: Nicht mal Deutsch sprechen können die, aber von meinen Steuern leben! Sie wird die Angst abstreifen und den Mund aufmachen. Sie wird auch der Reichmann im Treppenhaus zuhören, die immer das gleiche erzählt, von den Kindern, die sich nicht sehen lassen, von der Hüfte, die so sehr schmerzt. Nein, das waren keine Weihnachtsgedanken, das hatte mehr mit dem Gefühl zu tun, das sie früher hatte, wenn sie Weihnachtsbaum abschmückte und auf den Balkon stellte, wenn die Tage heller und länger wurden. Jetzt fängt alles neu an, so empfand sie es jedes Jahr.
Als sie gefunden wurde, war die Kerze verloschen und der Kaffee kalt geworden.
 



 
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