Weit

Chrisch

Mitglied
Weiter​
Ich mache die Kaffeemaschine an und sehe aus dem Küchenfenster wie Autos durch Pfützen fahren und die Parkenden vollspritzen. Die diesige Luft erzeugt eine merkwürdige Stimmung in mir. Ich müsste für das Wochenende einkaufen, wenn ich überhaupt noch etwas essen möchte. Nächste Woche habe ich eigentlich jede Menge Termine. Ich muss unbedingt zum Arzt, meinen Rücken röntgen lassen, habe akute Taubheitsgefühle im rechten Arm oder beim Laufen auch im linken Bein. Auch der Friseur erwartet mich am Dienstag. Konferenz am Mittwoch vom Verein. Montag wollte ich mich endlich mit dem alten Freund Hans treffen. Wir schicken uns manchmal Mails, aber jeder hat seinen Platz in seiner eigenen Familie. Die Schnittmenge unserer Interessen ist mit den Jahren immer weiter geschrumpft.
Gedankenverloren ziehe ich mich an und schaue mir zu, wie ich den Koffer packe. Ich lege einen Zettel auf den Fußboden im Flur, falls meine Kinder mich vermissen oder die Polizei nachforschen sollte.
Mehr als „Bin dann mal weg" wie Kerkelings Buchtitel, fällt mir nicht ein. Immerhin habe ich aber mein Handy dabei. Damit können sie mich im Notfall erreichen. Ich stecke es abgeschaltet in meine Jacke, ziehe den Reißverschluss des kleinen Koffers zu, in den ich irgendetwas hineingeworfen habe, kaum mehr als eine Hose und ein paar Hemden. Dann sitze ich, nachdem der Strom und das Wasser abgeschaltet ist, vor dem dunklen Fernseher als wenn ich in ihm sehen könnte wo die Welt ist.
Eine Stunde später fahre ich die Avus hinunter, wobei ich glaube, dass ich falsch unterwegs bin, der Norden ruft. Also, Hüttenweg raus und zurück. Immer Richtung Hamburg. Irgendwann biege ich doch ab. Vielleicht nach Riga und dann wird man weitersehen. So schlängele ich mich erst durch Brandenburg und dann bin ich plötzlich in Anklam, stecke im Stau wie vor fünfzehn Jahren.
Damals wartete meine Freundin in Heringsdorf mit ihren Kindern. Ihr süßes kleines Mädchen ist jetzt eine erwachsene Frau mit eigenem Kind. Die Zeit verschwimmt; wenn mich nicht gerade das Knie etwas plagen würde, wann wäre ich jetzt?
Wenn ich auf Usedom oder Rügen bin, dann wünsche ich mir jedes mal dort zu wohnen, möglichst dicht an der See, aber Berlin ist doch stets meine Heimat gewesen. Ich liebe Fisch, besonders gebratenen. Wie wäre es eigentlich in Finnland an einem der Tausend Seen zu angeln? Bisher hielt mich der Gedanke an die Millionen Mücken und die Ablehnung meiner Exfrau zurück, aber jetzt?
Irgendwann komme ich an die polnische Grenze. Mir wird plötzlich schlecht und auf dem Klo sitzend wird mir klar, warum. Erleichtert stelle ich später fest, dass die Grenzer nichts von den Vopos der DDR haben, mir nicht an die Wäsche wollen und sogar nett sind. Damit ändern sie mein Weltbild, das immer noch stark von der abstoßenden Diktatur geprägt ist. Dankbar nehme ich die Freiheit der heutigen Zeit in mich auf.
Es wird langsam dunkel. Irgendwie komme ich zur Fähre in Swinemünde rüber nach Schweden. Will ich zu Mankells Wallander? Seine Krimis lese ich ganz gerne, aber solcher Art Pilgerfahrt liegt mir nicht. Vielleicht fahre ich kurz durch Ystad, wo die Romanfigur arbeitet. Nein, ich will irgendwie spüren, dass es noch Gegenden gibt, die unbewohnt sind. Sicher wird irgendjemandem das Land gehören, aber vielleicht finde ich etwas, das richtig weit weg ist.
Ich miete mich auf der Fähre ein. Die teuerste Kabine scheint mir gerade angemessen, der automatischen Gedanke an Sparsamkeit ist mir im Augenblick völlig egal.
Irgendwann geht es los. An der Reling schaue ich auf die entschwindende Stadt. Die See ist schwarz, aber die Sterne strahlen, ein merkwürdiger Kontrast. Später in der Bar betrinke ich mich als wenn ich irgendetwas hinunterspülen müsste. So schwanke ich in meine Unterkunft. Lange dreht sich mein Leben und die Deckenleuchte.
Mit einem ekligen Geschmack im Mund erwache ich. Ich hasse es in meinen Sachen zu schlafen. Klopfend wird mir klar gemacht, dass Schweden auf mich wartet und die Kajüte umgehend geräumt werden muss.
Herrlich wie das warme Wasser auf mein Gesicht prasselt.
Zwei Stunden später bin ich wieder in meinem kleinen Auto unterwegs, hinaus aus der Stadt. Ich habe keine Lust auf Häuser, schnell raus und immer nach Norden. Es wird Tag und die Sonne zieht am Himmel; die Tankanzeige neigt sich dem Ende zu; ich fahre weiter. Irgendwo bleibt er stehen, gibt stotternd auf. Er kann meinem Vorwärtswillen nicht mehr folgen. Ich Rolle auf den nächsten Parkplatz. Plötzlich bekomme ich keine Luft mehr in diesem kleinen Vehikel, reiße die Tür auf und marschiere einfach los. Stunden später, wie im Traum, stehe ich, völlig außer Atem, auf einem Hügel. Mein Herz hämmert warnend. Keuchend schaue ich mich um. Da ist kein Horizont. Himmel und Erde gehen ineinander über. Ich falle auf den Rücken. Die Sonne verschwindet, so fühle ich mich auch. Liegend lasse ich die Pracht des Himmels auf mich einströmen.
Wenn das hier das Ende ist, dann ist das ein sehr schöner Anfang.
 



 
Oben Unten