Wenn das Mondlicht singt

Rafi

Mitglied
Wenn das Mondlicht singt

Ihre Augen gewöhnten sich nur langsam an die Nacht. Schwarze Schatten lauerten auf sie da, wo der Wald begann, wo Steine und Baumstümpfe vor dem Haus lagen wie schlafende Tiere, wo sie den See wusste, der ruhig und glatt und kalt im hellen Licht des Vollmondes auf sie wartete.
Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Die alten Holzstufen vor der Veranda knarrten; Geräusche, welche die Nacht zerrissen.
Ihr nackter Fuß berührte den kalten Waldboden, sie spürte Zweige, Laub, Fichtennadeln. Schnell jetzt, schneller. Weg von der Hütte, hin zum See. Auf die Schatten achten, nicht stolpern, nicht stürzen! Der Wind, frisch, kühl, strich über ihre erhitzte Haut, leckte den Schweiß aus ihren Poren.
Der Pfad hinab zum See war kaum mehr als ein dunkelgrauer Strich in der Schwärze unter den dichten Bäumen. In ihrem Kopf pochte etwas, ihre Haut trocknete, sie hielt inne, blickte sich um. In der Wand der Hütte glühte ein helles Rechteck: das Fenster, dahinter eine leise glimmende Petroleumlampe.
Tief sog sie die Nacht ein, schloss die Augen, hob den Kopf, als wittere sie eine Fährte. Weiter laufen, schneller. Der See blitzte unten. Er versprach Erlösung. Sie durfte nicht vom Weg abkommen. Zu dicht die Dunkelheit am Rand, zu schwer und zäh. Sie streckte sich dem kühlen Wind entgegen, lieferte sich ihm aus, empfing ihn gierig, ließ ihn mit sich spielen und benutzte ihn wie einen vorübergehenden Liebhaber. Gespensterfinger! Kristallene Federn! Abkühlung! In ihr jedoch, in ihr brannte es. Die Hitze füllte sie aus, ganz und gar.
Die Schatten begannen sich zu bewegen, wanderten als lichtloses Nichts herum. Konturen schälten sich aus ihnen heraus, von denen sie, die sie sich als einzige in dieser Nacht frei bewegen konnte, neidisch beobachtet wurde.
Wie gerne wären ihr die Schatten als Schatten ihres Schattens gefolgt. Doch sie lief, lief. Zum See hin, zum Licht. Vorsichtig, nicht anstoßen.
Der traurige Ruf eines Käuzchens ließ die Schatten erschrecken. Im Schutz der Dunkelheit lauerte es auf ein unachtsames Nagetier, den Wind und das Laub als Verbündete. Wollte, musste seinen Hunger am warmen Fleisch und noch lebendigen Blut stillen. Lustvoll! Gierig!
Sie fühlte ihr eigenes Herz schlagen, spürte es in ihrem Hals pochen und in ihrer Brust, jedes Mal, wenn ihre Lunge sich mit Luft füllte. Ein paar Schritte noch auf dem Weg, dann würden Licht und Leben strömen. Gehetzt warf sie einen Blick zurück. Nur das helle Rechteck des Fensters. Kein Schatten davor, der es verdunkelte. Die Stufen vor der Veranda schwiegen. Wie lange noch?
Gedanken wehten davon, nahmen Reißaus, verblassten und vergingen in dieser finnischen Nacht wie Schneeflocken, die auf warmen Asphalt fallen.
Sie war frei. Endlich frei!
Alle Ketten und Fesseln, jede Mauer und jede Grenze, jeder Graben und jede Hürde schwand, ließ sie ziehen, musste sie ziehen lassen. Frei! Frei!
Der See – sie hatte ihn erreicht. Fast meinte sie, ihn mit einem Schlag ihrer soeben gewachsenen Flügel überqueren zu können, sich weit, weit über das Land und die Felsen und die Wälder erheben zu können, zusammen mit dem Wind die Seen im Norden erreichen zu können, dem Mond auf der breiten Straße seines silbernen Scheins entgegenfliegen zu können. Ihre Seele löste sich, wurde Eins mit der Nacht und den Schatten und der Welt, wurde schwerelos.
Sie stand am Ufer, atmete schnell, lächelte. Vor ihr glitzerte das Wasser diamanten; hinter ihr war Stille. Keine Schritte, kein Keuchen, kein Ruf. Nur der Wind, der ewige Wind. Und die fast greifbare Dunkelheit.
Von ihrer Haut stieg Dampf auf, der über den See glitt und seine Reise antrat, weit, weit über das Land. So weit, bis er eine andere Haut finden würde, auf die sich niederzulassen ihm gefiel.
Sie spürte die Hitze wieder, feine Schweißperlen sammelten sich zu Tropfen, rannen ihre Arme, ihre Beine, ihren Rücken hinab, fielen und vereinigten sich mit der Erde, versickerten und schenkten ihr Salz und Feuchtigkeit und Leben, aus dem allein neues Leben entstehen konnte.
Ihre Hand tastete die raue, rissige Oberfläche des großen Steines ab, der zeitlebens vom See umspült wurde; weiches, kühles Moos wuchs in den Kuhlen und Kerben.
Ein Schauer durchlief ihren Körper, als sie die Kälte des Wassers an ihren Fesseln wahrnahm.
Kurz zuckte sie zurück, fühlte die prickelnde Erregung, genoss den groben Sand und den Schlamm und die Äste und die Steine unter ihren Füßen, ließ die Frische durch die weit geöffneten Poren in ihre Haut eindringen, in ihre Muskeln und Sehnen und Knochen, in ihr Blut.
Sie schloss die Augen, öffnete weit die Arme, als wolle sie die Nacht an ihr Herz drücken, hörte ihre eigene Stimme einen Schrei formen und wartete, bis die Abkühlung jede Faser ihres Leibes erreicht hatte.
Dann ließ sie sich fallen.
Hinein in die Schwärze des Wassers, hinein in den silbrigen Weg, den der Mond nur für sie allein als Fanal auf die winzigen Wellen gewoben hatte, hinein in die Wiedergeburt, in das junge Leben, in das nasse Eden, das keine Schlange kennt.
Luftblasen tosten um sie herum, quirlten eilig der Oberfläche entgegen aus Angst, das Wasser könne sie besiegen; Luft und Wasser – zwei, die auf Ewig einander jagen.
Als sie endlich auftauchte, den Atem in sich zurückströmen ließ, hatte sich etwas verändert.
Vorsichtig watete sie zurück zum Ufer.
Sie schaute sich um.
War dies noch die gleiche Welt, der sie eben erst entflohen war? War dies noch die gleiche Erde, die nur Augenblicke zuvor von ihren Füßen berührt worden war? War dies noch der gleiche See, der sie aufgenommen und umschlossen hatte, ohne sie festzuhalten? War sie noch die gleiche Frau?
Die Hütte! Die Hütte war so schwarz. Kein helles Rechteck mehr. Es wurde verdunkelt. Von einem Schatten. Schwarz! Schwarz! Er stand auf der Veranda. Er nahm der Hütte das Licht. Er beobachtete sie. Schwach, wie ein sterbender Stern im Universum, sah sie eine Zigarette aufglühen. Er blieb dort, ließ sie allein im See, ließ die Stufen in ihrem Schweigen.
Sie sah ihn nicht, ahnte ihn nur, weil er das Licht verdeckte, und doch wusste sie es. Wusste sie alles. Wie er aussah, wie er roch, wie seine Stimme klang, wie er sich anfühlte. Sie wusste es. Sie sah es zwischen den Schatten.
Er war nackt, die Haare auf seinen Armen und seinen Beinen wiegten sich im Wind. Seine Lippen schmeckten nach Tabak und Wein, sein Atem ging ruhig. Seine Augen klammerten sich an ihren Körper, und dann hörte sie ihn denken.
Komm her, sagte er, ohne seinen Mund zu öffnen, ohne seine Lippen von den Worten verletzen zu lassen, ohne die Nachtluft mit seiner Stimme zu zerreißen, komm zurück.
Sie wandte sich um, sah den Mond auf dem Wasser tanzen. Er und der Wind trieben kleine Wellen gegen den Bauch des großen Steines, wo sie anschlugen und sich teilten und dabei sangen.
Sie sangen das Lied, dessen Strophen das Mondlicht geschrieben hatte und dessen Melodie nur der Mond allein auf einer Harfe spielen konnte.
Sie ließ sich Zeit. Und als sie ihn erreichte, sich an seinen von der Sauna erhitzten, dampfenden Körper schmiegte, ihn roch und spürte, flüsterte sie: „Kiitos kuu. Kiitos järvi. Kiitos suomi. “
Er verstand sie nicht, und doch ahnte er, dass sie ihn liebte. So wie das Land und den Mond und den See. Und es war gut.
 
A

aligaga

Gast
Hallo Rafi,

es kann manchmal durchaus sinnvoll sein, den Leser im Dunkeln herumirren zu lassen wie deine Protagonistin, die in gut drei Viertel der Textlänge für den Rezipienten recht unmotiviert in einer ziemlich überladenen Kulisse unterwegs ist, aber man kann's auch übertreiben. Immer wieder wundert man sich über ihren Schweiß, den man nicht zuordnen kann, bis man am Ende erfährt, dass sie gerade aus der Sauna geschlüpft ist.

Ah so – nicht Krimi, sondern Sauna!

Weht im Wald der Wind wirklich so stark im Unterholz? Wenn ja, rauscht und knarzt es da nicht in den Wipfeln? Wie können die Tapser nackter Füße da noch etwas „zerreißen“? Sieht man wirklich in derart düster-dunkler Nacht den dünnen Dampf von der Haut noch aufsteigen, obwohl ja schon ein so langer Weg hinter einem liegt? Wie kann man auf die beschriebene Distanz Körperhaare an einer Gestalt „sich wiegen“ sehen? Die Figur muss ja behaart sein wie ein Orang-Utan, und auch bei dem sähe man die Bewegung auf seinen Affenarmen erst bei hellem Tageslicht.

Unklar bleibt, warum dem Leser die näheren Umstände so lange vorenthalten werden. Nichts gegen Käuzchenschreie und deren Nahrungsgewohnheiten, aber trotz der Opulenz der Kulisse entgeht dem Leser ohne vorherige Basisinformation jene Lust, die sich der Abkühlung suchenden Saunagängerin bietet. Das ist schade, denn so können deren Gefühle nicht wirklich nachempfunden werden. Es sei denn, man läse den Text ein zweites Mal; dann stolpert man aber erst recht über den Wind, den Kauz und die Körperbehaarung des rauchenden Weintrinkers.

Nicht recht plausibel sind auch die haussprachlichen Ausrufe der Saunagängerin am Schluss des Textes (der gewiss keine Erzählung, sondern allenfalls eine Impression ist): Offensichtlich ist sie die Eingeborene. Wieso bedankt sie sich dann bei dem Behaarten für ein Land, das dem fremd sein muss? …*grübel*…

Tipp: Lass das Mädel getrost gleich zu Beginn aus der Saunahütte kommen und mach die Abkühlphase kürzer und ein Tickchen weniger melodramatisch – es ist doch „nur“ ein Saunagang. Ich könnte mir vorstellen, dass man zum Ausgleich dafür die Begegnung zwischen den beiden am Ende des Stückerls ein wenig sensationeller gestalten könnte – allein schon das gegenseitige Temperaturgefälle zwischen den Hautoberflächen: die Gefühle des Ausländers werden glatt verschenkt (Nixe!). Und lass das Wesen etwas Sinnvolles sagen am Schluss; bestimmt fällt dir da noch etwas Besseres ein.

Gruß

aligaga
 



 
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