Wer zu spät kommt (eine Sommergeschichte)

Sta.tor

Foren-Redakteur
Wer zu spät kommt (eine Sommergeschichte)

Der Tag versprach wieder heiß zu werden. Schon am Morgen stand die Sonne hoch am wolkenlosen Himmel und ließ ihre Hitzestrahlen gnadenlos auf die Hüttendächer des Kinderferienlagers prallen. In den Unterkünften staute sich die Wärme und trieb die kleinen Bewohner ins Freie.
Das sonnenreiche und trockene Wetter hielt nun schon zwei Wochen an und die Betreuer der Ferienkinder hatten alle Hände voll zu tun, die Tage im Camp so abwechslungsreich und erträglich wie möglich zu gestalten. Das Wetter lud natürlich zum Baden in dem, direkt an das Gelände angrenzenden See ein, doch sollten auch andere Aktivitäten nicht zu kurz kommen. Klettern, Wandern, Radfahren standen genauso auf dem Programm wie Tauchen und Schwimmen. Der heutige Tag sollte zudem eine Abwechslung der besonderen Art bringen: eine Schatzsuche!

Fabian fuhr schon zum dritten Mal in das Feriencamp inmitten der Mecklenburgischen Seenplatte. Es gefiel ihm immer sehr gut dort, er hatte neue Freunde gefunden und es gab auch Kinder, die er jedes Jahr wieder traf. Er genoss die langen Sommertage mit Spiel und Spaß sowie die Abende am Lagerfeuer und die aufregenden Nachtwanderungen. Zu hause in der kleinen Neubauwohnung in Berlin musste er sich das Kinderzimmer mit der älteren Schwester teilen, hier konnte er sich wenigstens vorübergehend an einer größeren Bewegungsfreiheit erfreuen.
Gespannt erwartete Fabian die für heute angekündigte Schatzsuche. Er hatte auch in den vergangenen Jahren an diesem Höhepunkt des Ferienlagers teilgenommen und mit einem kleinen Anflug von Neid immer die Schatzfinder bewundert. Dieses Jahr sollte er im Mittelpunkt stehen, das hatte er sich ganz fest noch in der letzten Nacht, kurz vor dem Einschlafen, geschworen. Er würde den Schatz finden, er würde der gefeierte Held sein, ihm gebührt der Ruhm, auf ihn fallen die bewundernden Blicke der Mädchen. Fabian sah alles schon genau vor sich und er konnte den Beginn der Suche nach dem geheimnisvollen Schatz kaum noch erwarten.

Endlich war es soweit. Die Kinder wanderten zu einer nahe gelegenen, ausgedehnten Kiefernschonung. Die Bäumchen hatten eine Höhe von ungefähr zwei Metern und sie standen ziemlich eng beieinander. Der Leiter des Feriencamps erklärte den Schatzsuchern, dass irgendwo zwischen den Bäumen der Schatz verborgen sei. Er bestehe aus einem Pappkarton in dem sich der eigentliche Schatz befände. Dann gab er das Signal zum Beginn der Suche und die Kinder verschwanden, übermütig kreischend, zwischen den Nadelbäumen.

Fabian war einer der ersten im Wald. Hektisch um sich blickend suchte er den Waldboden nach auffälligen Spuren ab, die ihm den Weg zum Schatz verraten könnten. Die Freunde blieben ihm dicht auf den Fersen, was ihm nicht so recht gefiel. Jemand könnte ihm schließlich kurz vor dem Ziel noch seinen Fund wegschnappen. So lief er schneller und schneller immer tiefer in den Wald hinein. Das fröhliche Lachen der anderen wurde leiser und irgendwann verstummte es völlig. Fabian nahm um sich herum nichts mehr wahr. Er war so sehr auf den Blick zum Boden konzentriert, dass er gar nicht mitbekam, wohin er lief und wie viel Zeit verging. Er lief und lief, die Mittagssonne brannte unbarmherzig vom Himmel, er schwitzte und irgendwann, als er sich den Schweiß von Stirn und Nacken wischte, stellte er fest, dass er völlig die Orientierung verloren hatte. Von Ferne hörte er Rufe, aber er konnte nicht verstehen, dass die Betreuer die Schatzsuche für beendet erklärten und alle Kinder aufforderten, aus dem Wald heraus zu kommen. Fabian war zu weit entfernt. So suchte er weiter. Die Hitze hatte seine Kehle schon ausgetrocknet und er wünschte sich, er hätte etwas zu trinken dabei gehabt. Doch er biss sich durch, die Verlockung mit dem Schatz in der Hand den Wald zu verlassen war zu groß. Wieder hörte er aus der Ferne Rufe und kurz erschien es ihm so, als hörte er seinen Namen. Er war sich nicht sicher, beschloss aber in die vermeintliche Richtung des Rufes zu laufen. Von den Tannennadeln waren seine Arme und Schultern bereits mit roten Kratzern gezeichnet und das Laufen fiel ihm nun zunehmend schwerer. Durst quälte ihn und plötzlich stolperte er über einen am Boden liegenden, kräftigen Ast. Fabian stutzte. Was machte dieser dicke Ast zwischen den noch jungen Bäumen. Er hob ihn an. Unter dem Ast verbarg sich eine kleine Grube und in dieser Grube lag ein Pappkarton.
Der Schatz!!
Schnell, aber mit zitternden Händen zog Fabian den Karton hervor. In seinem Kopf brannte ein Feuerwerk der Gedanken ab. Er ist der Finder, er ist der Held des Tages, er würde bewundert werden. Übermächtige Freude machte sich in ihm breit. Mit beiden Händen riss er den Deckel vom Karton ab und blickte neugierig hinein. Innen lag ein Brief. Ungelenk zerfetzte er mit seinen Fingern das Couvert und hielt anschließend eine Karte in der Hand. Auf ihr stand mit schwarzer, dicker Schrift: „DER SCHATZ IST LIMONADE!“
Brause?? Fabian war etwas enttäuscht. Plötzlich bemerkte er das Kratzen im Hals wieder. Eigentlich ist er ja doch recht sinnvoll, der Schatz, dachte er. Die anderen werden auch alle am verdursten sein, und er, Fabian, wird sie davor mit seinem Fund bewahren. Er musste grinsen. Das wird eine perfekte Inszenierung. Fabian, der Durstlöscher. Man wird ihn verehren.
Er lief mit der Karte in der Hand los, rannte wie wild durchs Unterholz. Und da! Da war es wieder. Dieses Rufen, jetzt deutlicher. Und ja, es war in der Tat sein Name der von mehreren Stimmen in den Wald gerufen wurde. Immer und immer wieder. Fabian rannte was seine Beine hergaben und plötzlich stand er, schwer atmend, im grellen Sonnenlicht außerhalb des Waldes. Vor ihm stand ein Erwachsener im Gegenlicht, so dass er erst nur dessen schwarze Silhouette wahrnehmen konnte.

„Mensch Fabian, da biste ja endlich.“ Der Betreuer griff nach seiner Schulter.
Fabian sah sich um. Die Kinder saßen im Schatten, mit den Rücken an Baumstämme gelehnt. Die restlichen Betreuer kamen auf ihn zu gelaufen.
„Wir hatten doch schon vor fast ´ner Stunde die Suche beendet. Hast du unser Rufen nicht gehört?“
„Nein, aber der Schatz…“, krächzte Fabian heiser.
„Der ist nicht gefunden worden, wir hatten ihn wohl zu gut versteckt.“ Der Betreuer grinste verlegen.
Fabian entwandt sich seinem Griff. „Aber nein. Ich hab ihn, ich hab ihn doch gefunden, den Schatz!“
Er wedelte wie wild mit der Karte über seinem Kopf. „Hier ist er. Das war im Karton, hier, das hier!“, rief er den Kindern zu. Doch die zuckten nur gleichgültig mit den Schultern, beachteten ihn kaum. Kein Jubel, keine leuchtenden Mädchenaugen, keine Heldenverehrung.
Fabian verstand die Welt nicht mehr. „Hier Leute, schaut her! Der Schatz ist Limonade! Jetzt braucht ihr keinen Durst mehr zu haben, wegen der Hitze. Ich bringe euch Limonade so viel ihr wollt!“ Seine raue Stimme überschlug sich fast.
Der Betreuer legte wieder seinen Arm um Fabians zerkratzte Schultern.
„Ach Fabian. Die Brause ist doch schon längst alle. Du bist einfach zu spät!“
 



 
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