Wie Glas soll mein Leben sein!

Botschafter

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Kann es sein, dass in einem traurigen Moment – ich muss wohl gerade nicht aufgepasst haben – jemand der Welt um mich eingeflüstert hat, sie soll zum Teufel gehen? Ich stehe im Kaufhaus und höre den Leuten zu. Hier ist etwas zu teuer, da etwas zu mangelhaft, dort wird mit dem Anwalt gedroht… ich gehe auf die Strasse hinaus, sehe Kinder am Handy hängen, Männer den Frauen nachgeifern, Alte über Junge, Junge über Alte wettern. Ich gehe weiter in mein Café. Diskussionen um absackende Kurse, absackende Flugzeuge und ausufernde Gewalt und Dummheit, nichts als Gespräche, denen ich nicht folgen will. Ich gehe nach Hause. Dort wartet meine Partnerin auf mich. Sie teilt mit, dass es aus, ein anderer schon an meiner Stelle sei. „OK“, denke ich, „wenn der dich glücklicher macht.“ Ich packe also meine Sachen, verlasse die Wohnung, in der wir sieben Jahre lebten und fahre zum Flughafen. Was ich dort will überlege ich mir, wenn ich dort bin. Vom Münztelefon aus rufe ich meinen Chef an, der völlig uncool meine fristlose Kündigung entgegennimmt. „Du wirst schon jemand besseres finden“, sage ich „scheint heutzutage nicht sehr schwierig zu sein.“ Ich hänge auf, gehe zum Ticketverkauf und frage nach dem nächsten Flug. London City, Kleinmaschine, nur Banker und Top-Manager an Bord. „OK“, sage ich. 45 Minuten später starten wir. Leute ärgern sich über kalte Pastete, warmes Mineralwasser, schmutzige Armlehen. Mir wird schlecht. Ich kotze den leeren Sitz neben mir voll und erreiche damit, dass kurz geschwiegen wird an Bord. Danach geht die Kotzerei reihum. Einige schaffen es noch auf die Toilette, andere nur bis zu ihrem Sitznachbarn. Alles in allem gipfelt diese Aktion in einer gewissen freundschaftlichen Leidensgemeinschaft, wenn auch nur einer vagen. Wir steigen in London aus der Maschine und werden vom Zoll auf Drogen untersucht. Jeder gibt Blut und Urin ab. Hier stehe ich also. Ich kaufe mir in einer Boutique einen bescheuerten Schal und mache mich zu Fuss auf den Weg in die Innenstadt. Nach wenigen Minuten in einer dunklen Strasse werde ich von drei Typen überfallen. Alle sehen unnütz aus. Ich gebe ihnen mein Geld und meine Uhr aus lauter Mitleid. Ich wünsche ihnen alles gute für ihr weiteres Leben und will mich verabschieden. Anscheinend wurde da was falsch verstanden. Alle drei beginnen auf mich einzudreschen und treten mir ins Gesicht. „Was soll’s?“ denk ich mir. Die Frau des Lebens ist weg, eine neue will ich nicht, was soll ich da mit einem schönen Gesicht. Die Narben schmerzen. Blut läuft mir in den Mund, der noch immer nach Kotze schmeckt. Eine halbe Stunde oder was man ohne Uhr für eine halbe Stunde hält, später, trifft der Krankenwagen ein. Er fährt mich in ein Krankenhaus mit vielen hübschen Schwestern. Ich entscheide mich betreffend meines Gesichtes anders und bitte den behandelnden Arzt, sein bestes zu tun. Nach der Operation gefalle ich mir nicht sonderlich. Trotzdem beschliesse ich, nicht länger zu verweilen. Ich reisse mir die Infusionen aus dem Arm, ziehe mich an und verlasse das Gebäude. Draussen regnet es. Mein Verband ist bald durchtränkt. Erst läuft mir Wasser vom Gesicht den Hals hinunter, dann Blut. Die Narben brennen wie Feuer. „Schlampige Arbeit“, denke ich und gehe auf ein Pub zu. Ich trete ein und bestelle mir ein Stout. Die Menschen sehen mich an, ich sehe zurück. Allgemeines Schweigen. Mein Stout wird serviert. Ich bezahle, tinke aus, bestelle in zweites. Gemurmel kommt auf. Der Barkeeper bringt mir mein Bier, während sein Kollege zu telefonieren beginnt. Nach meinem dritten Pint trafen die Bobbys dann ein. Sie fragten, was ich hier tue. Ich antwortete, dass ich die Absicht habe, mich zu betrinken. Sie erkundigten sich nach dem Grund für mein Aussehen. Ich schwieg. Was hätte ich auch sagen sollen. Ich hatte Zeit meines Lebens zu viel geredet. Ich trank aus und ging. Die Polizisten folgten mir. Erst versuchten sie, mir zuzureden. Ich hätte mit ihnen auf die Wache gehen sollen. Personalien aufnehmen. Personalien, dass ich nicht lache. Meine ganzen Personalien liegen zu Hause. Im Bett, auf der Couch, in Bergen von Fotoalben, in Briefen und Tagebüchern. Ich war doch nur noch ich. Ein Mensch umgeben von Leben, das nichts verstanden hatte. Meine Tage sollten zu Glas werden in einer Eisenwelt. Dieses Ziel schien mir unerreichbar. Was sollte das ganze also noch? Ich begann zu rennen, stürzte, schlug mir Arme und Hände auf, rannte weiter in die Dunkelheit, stürzte wieder, wollte aufstehen und spürte, dass nichts mehr ging. Und hier bin ich nun und spreche zu Ihnen. Aus meinem Rücken schaut eine dieser alten Eisenzaunstangen. Ich schätze, dass da was an meiner Wirbelsäule nicht mehr richtig sein kann. Vorne geht der Zaun einen Fingerbreit unter dem Brustkorb rein. Mir scheint, dass das alles nichts gutes zu bedeuten hat. Die Polizisten haben eine Plane über mir aufgespannt, Scheinwerfer aufgestellt, Decken gegen Gaffer aufgehängt, die Ambulanz ist hier und alle kümmern sie sich um mich. Wir warten wohl gemeinsam auf den Klempner mit dem Schneidbrenner. Immer wieder kommt jemand und fragt nach meinem Befinden. Ich schweige. Mir ist das alles egal. Ich geniesse den Augenblick und danke Gott dafür, dass mein Wunsch in Erfüllung ging und bitte ihn darum, dass hier alles enden möge.
 

Elli K.

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Furios geschrieben! Genial, wie sich die die Dramatik immer weiter zuspitzt und der Protagonist dabei immer abgeklärter wird. Wenn etwas schiefgeht, dann auch richtig... ;)
Dein lakonischer Stil gefällt mir gut.

Zwei kleine Anmerkungen noch: Im mittleren Teil (ab der Kneipenszene) schwenkst du plötzlich von der Gegenwart in die Vergangenheitsform, später wieder zurück zur Gegenwart. Ein inhaltlicher Grund dafür ist mir nicht klargeworden, oder habe ich da etwas übersehen? Komplett im Präsens finde ich die Geschichte jedenfalls stimmiger.
Und nach dem Raubüberfall: Der Typ hat wohl schmerzhafte Wunden, aber bestimmt noch keine in Windeseile gewachsenen Narben. ;)

Beste Grüße,
Elli
 

Botschafter

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Vielen Dank

Hallo Elli

Vielen herzlichen Dank für Deine Antwort.

1. Das mit der Narbe ist natürlich absolut richtig. Ich hatte beim lesen immer das richtige Wort im Kopf (Wunde) nur geschrieben habe ich anscheinend ein falsches.

2. Das mit dem Zeitenwechsel. Das war ursprünglich nicht geplant, ergab sich irgendwie. Es ist mir zwar am Schluss aufgefallen aber ich hab's trotzdem stehen lassen.
Der Text ist ja auch nur "technisch" in der Gegenwart geschrieben. Vom Ablauf her hängt der Protagonist ja die ganze Zeit hindurch über diesem Zaun und erzählt uns seine Geschichte. Von da her gesehen finde ich die Vergangenheits-Passage als Übergang von der Erzählung des Vergangnen zur Erzählung der Gegenwart ("und hier bin ich nun und spreche zu Ihnen") irgendwie interessant.
Aber wie gesagt, ursprünglich war das nicht geplant. (Und ob man das streng nach Lehrbuch überhaupt so schreiben darf, weiss ich auch nicht.)

Vielen Dank für dein Lob - tut meinen Narben gut ;-)

Viele Grüsse

Botschafter
 



 
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