Wie ein Schrei nach Liebe

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Estella

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Ich trete hinaus auf den Balkon, schaue hinunter auf die Straße. Es ist eine stille Straße mit freundlichen alten Häusern. Auf den Fensterbänken stehen Blumen in bunten Töpfen, die Fensterläden sind weiß gestrichen und in den Vorgärten beugen sich hohe Bäume mit dichten Kronen beschützend über die Dächer. Vor zwei Tagen bin ich hier eingezogen. Noch stapeln sich Kisten und Kartons in allen Zimmern, es riecht nach frischer Farbe, fremde Geräusche erschrecken mich, alles ist neu und will entdeckt werden. Ich nehme meinen Einkaufskorb und mache mich auf den Weg zum Bäcker. Der Morgen ist sonnig und klar, kein Wölkchen am Himmel. Ich lege einen Schritt zu, genieße die Wärme, atme den Duft der Blumen, der aus den Vorgärten strömt. Der Korb an meinem Arm bewegt sich rhythmisch im Takt, meine Augen wandern im Kreis. Dann sehe ich den Jungen am geöffneten Fenster stehen.
Mit großen Augen schaut er auf mich herab. Helle blonde Haare kräuseln sich auf seinem Kopf. Er sieht zerbrechlich aus, blass und schmal. Ich denke er ist noch keine acht Jahre alt. Müsste er nicht um diese Zeit in der Schule sein? Vielleicht ist der Junge krank? Ich lächle hinauf zu dem Fenster im ersten Stock und winke. Der Junge rührt sich nicht. Stumm bleiben seine Blicke auf mich gerichtet. Ich winke noch einmal, dann setze ich meinen Weg fort.

Als ich kurze Zeit später, mit den Brötchen im Korb, zu meiner Wohnung zurück laufe, höre ich schon von weitem Flötenspiel. Töne, zart und leise, wie das Zirpen von Meisen, dringen an mein Ohr. Der Junge steht am Fenster, hält eine Flöte in der Hand und entlockt dem Instrument eine Melodie voller Sehnsucht. Ich bleibe am Gartenzaun stehen, schaue hoch und nicke. Schön spielst du, will ich sagen, doch der Junge scheint mich nicht zu bemerken. Seine Augen blicken weit in die Ferne, folgen den Tönen in die Unendlichkeit.

Den ganzen Tag über muss ich an die Begegnung mit dem Jungen denken. Ich hänge Vorhänge auf, ordne Bücher in Regale, suche Plätze für Fotos, für Andenken und all den Krimskrams, der eine Wohnung erst heimelig macht. Am späten Nachmittag falle ich erschöpft in meinen Lieblingssessel, strecke die Beine weit von mir und nicke ein. Ich träume von dem Jungen mit der Flöte und als ich aufwache, fühle ich mich beunruhigt. Was kümmerst du dich um ein fremdes Kind, versuche ich mich abzulenken. Doch es will mir nicht gelingen. Um acht Uhr schlüpfe ich in meine Schuhe und verlasse das Haus.

Die Sonne steht tief. In den Gärten sitzen jetzt Menschen um Tische herum, sie trinken Bier und Wasser, sie plaudern und lachen. Im Garten des Hauses, in dem der Junge wohnt, bewegt sich eine Gestalt. Als ich näher komme, sehe ich eine Frau die Rabatten auf und abgehen, sie trägt eine Gießkanne in der Hand. Als sie sich mir zuwendet, rufe ich „Guten Abend!“
Die Frau horcht auf. Sie ist nicht mehr ganz jung, sie ist klein, hat ein schmales, ernstes Gesicht, das glatte, helle Haar ist zu einem Pferdeschwanz zurück gebunden.
„Hallo!“ rufe ich noch einmal. „Schöne Blumen haben Sie in Ihrem Garten!“
Jetzt kommt sie an den Zaun. „Hallo!“, ihre Stimme klingt weich und leise. „Danke! Sie sind wohl neu hier?“
„Vor zwei Tagen erst, bin ich hier eingezogen. Dort hinten, in dem weißen Haus, wohne ich.“
Sie wischt sich die Hand an den Jeans ab und streckt sie mir durch die Gitterstäbe entgegen.
„ Willkommen! Ich hoffe, Sie fühlen sich bald Zuhause!“
Ich bedanke mich, rede belangloses Zeug und verabschiede mich. Auf weiten Umwegen finde ich zu meiner Wohnung zurück. Der Gedanke an den Jungen beschäftigt mich die halbe Nacht. Gegen Morgen hat es zu regnen angefangen. Mit Regenschirm bewaffnet starte ich den Gang zum Bäcker. Vor dem Haus, in dem der Junge wohnt, bleibe ich stehen. Heute sind die Fenster alle geschlossen. Doch dann entdecke ich ihn hinter der Scheibe. Er bewegt sich nicht. Ich winke unter meinem Schirm hervor. Der Junge gibt kein Zeichen. Auf dem Heimweg sehe ich ihn immer noch an der selben Stelle stehen, versunken in seinen Träumen.

Es ist Sommer geworden. Die Fenster sind weit geöffnet. Wieder stehe ich vor dem Gartenzaun und lausche. Das Flötenspiel des Jungen perlt durch die schwirrende Luft. Eine ältere Frau gesellt sich zu mir. „Der hat einen Hau“, sagt sie und schüttelt den Kopf.
„Wie bitte?“, frage ich entsetzt.
„Na, der ist deppert, wissen Sie das nicht?“
„Nein, ich weiß das nicht. Ich höre nur das Flötenspiel. Und das gefällt mir.“
„Das ist Schicksal, sage ich Ihnen. Alle tot, nach dem Autounfall. Der Vater, der Bruder und der Martin ist deppert.“
„Sie meinen, der Junge hatte einen Autounfall?“
„Ja sicher. Künstliches Koma halt. Jetzt ist er stumm und blöd.“
„Behindert, meinen Sie sicher.“
„Ja, ja, meinetwegen behindert. Bis dann!“ Die Frau schlurft davon.

Martin heißt der Junge. Wenigstens hat er jetzt einen Namen. Und Martin spielt Flöte, als hätte die Alte nichts gesagt. Mir ist schlecht. Zuhause koche ich Tee und lege eine CD auf. Jenseits von Afrika. Das tröstet.

Der Sommer ist lang und heiß. Auf meinem Fensterbrett stehen bunte Sommersträuße, meine Schreibarbeit geht gut voran, ich habe mich eingelebt. Immer wieder besuche ich das Haus von Martin, schicke ein Lächeln zu dem Jungen am Fenster hoch, ich winke ihm zu und lausche seinem Flötenspiel. Manchmal klingen die Weisen wie ein Suchen und Finden. Wie ein Schrei nach Liebe. Am Abend sehe ich die Mutter, wenn sie die Pflanzen im Garten wässert. Müde von der Arbeit schleppt sie die schwere Kanne. Ich würde gerne helfen, doch mir fehlt der Mut.

Die Tage werden kürzer, der Herbst hat Einzug gehalten. Martin ist verschwunden. Mehrere Tage lang suche ich vergebens die Fensterfront ab. Ich vermisse den Jungen am Fenster, ich vermisse sein Flötenspiel. Aus dem geöffneten Fenster dringen jetzt laute Stimmen, die eindeutig von einem Fernseher ausgehen. Ich entdecke eine fremde Person, die sich im Zimmer bewegt. Der Mann ist groß und stark. Ich sehe ihn im Garten. Er trägt die schwere Gießkanne federleicht. Er legt den Arm um Martins Mutter, zieht sie an sich. Martins Mutter lacht. Sie lacht so unbekümmert. Martin? Wo ist Martin?

Im Supermarkt treffe ich die alte Frau wieder. Sie angelt Weihnachtgebäck aus einer Pyramide und erkennt mich sofort. „Hallo“, sagt sie und schaut mich herausfordernd an.
„Hallo“, erwidere ich.
„Die Werner hat sich von ihrem Sohn getrennt, wissen Sie das schon?“
„Getrennt? Von Martin?“, frage ich etwas irritiert.
„Ins Heim halt“, antwortet die Frau und nickt dabei. „Der Mann halt. Man kennt das.“
Ich kombiniere schnell. Martin kam ins Heim, weil der neue Mann es so wollte.
„Wo ist denn der Martin jetzt?
„In Sankt Christopherus. Ist ja nicht weit.“
„Vielen Dank, Frau ... wie war doch Ihr Name?“
„Konrad, Elisabeth Konrad. Wissen Sie, mein Mann ...“
„Sie entschuldigen, Frau Konrad, ich bin in Eile.“ Mit Riesenschritten bewege ich mich dem Ausgang zu.

Als die ersten Schneeflocken fallen, parke ich mein Auto vor dem Eingang zu Sankt Christopherus. Gleich hinter dem offenen Tor führt ein schmaler Weg zu den Wohnhäusern. Rund, rosa, mit tief gezogenen Dächern, auf denen weiße Schneehauben glitzern, sind sie um einen Platz herum gruppiert. Ein Pferd kommt an den Zaun, ich streichle seine Mähne. Im Stall entdecke ich Kühe und einen jungen Mann in hohen Stiefeln, der mir freundlich zunickt. „Wollen Sie die Ziegen sehen?“, fragt er etwas undeutlich. Ich verneine dankend und lasse mir den Weg zum Büro zeigen.
Eine junge Frau führt mich zu Martin. Er sitzt an einem langen Tisch zwischen vielen jungen Leuten und strickt. „Das ist die Wollwerkstatt“, erklärt Frau Müller. „Martin, du hast Besuch!“, sagt sie. Martin lacht. Er gibt unverständliche Laute von sich, zappelt herum und freut sich.
„Hallo Martin“, sage ich. Ich bin die Frau, die dir beim Flöte spielen zugehört hat. Erkennst du mich wieder?“ Martins Augen strahlen. „Martin spielt in unserem Chor“, sagt die Betreuerin.
Ich überreiche mein Geschenk. Eine große Packung Schokolade. Jetzt leuchten auch die Augen der anderen.

Auf dem Weg zurück, zu meinem Auto, wird der Schneefall dichter. Ich ziehe den Kragen hoch und beschleunige meine Schritte. Noch einmal drehe ich mich um. Das Dorf liegt friedlich und ruhig in der weißen Pracht.
 
H

HFleiss

Gast
Die Geschichte gefällt mir wegen ihrer Menschlichkeit, und sie ist auch gut erzählt, ohne Sentimentalität, schlägt aber eher in das Fach Reportage meiner Ansicht nach.

Gruß
Hanna
 



 
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