Wie man ein Pferd los wird

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jimKaktus

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Geschenke musste man akzeptieren, ganz besonders, wenn sie von Christine kamen. Da konnte man nicht anders, weil sie selbst eine Art vorübergehendes Geschenk war. Sie war einer dieser äußerst lebhaften Menschen, die immer dort sind, wo die Party gerade am meisten tobt. Sie überschüttet dich mit einer derartigen Fröhlichkeit, dass man nur staunen und nicht mit einem harten "Nein, das geht so nicht, das stimmt so nicht" ihre Ideen und Vorstellungen zerschlagen kann. Früh genug verliert sie wieder das Interesse an einem und an ihrer Idee, da etwas Neues interessanter ist. So war das auch mit dem Pferd.

Keine Ahnung, wo sie es her hatte. So lange blieb sie nicht. Überraschend, dass sie es damit überhaupt bis zu mir, ihrem "Ausbader", geschafft hatte. Das lässt auf ein zumindest rudimentär entwickeltes Verantwortungsbewusstsein schließen. Allerdings bezweifle ich, dass sie das Pferd, wie sie sagt, bald wieder abholen wird. Das hat sie bei dem Leguan und der auf dem Flohmarkt (mit meinem Geld) erstandenen zweisprachigen Gesamtausgabe von Lope de Vegas Dramen auch gesagt. Die etwa 500 Dramen will sie irgendwann noch lesen, meint sie. Von dem Leguan redet sie schon gar nicht mehr, und ich hab ihn inzwischen auch liebgewonnen, sofern sich das von einem Vieh, das immer nur grün und reglos da sitzt, behaupten lässt. Zu dem Pferd sagte sie mir noch: "Du wirst natürlich einen Stall brauchen." Dann erzählte sie von ihrem Plan, in die Karibik zu segeln, mit einem Freund, der eine Yacht hat. Vermutlich ohne das Pferd. Fünf Minuten später musste sie plötzlich weg, nicht ohne vorher noch meine Toilette zu benutzen. Ich hoffe, die Yacht hat auch eine Toilette. Allerdings scheint es mir sowieso unwahrscheinlich, dass so etwas Flüchtiges wie Christine wochenlang auf einer Fläche von, wenn es hoch kommt, dreißig Quadratmeter zu halten ist. Bis zur Abfahrt dürfte längst wieder etwas anderes ihre Begeisterung gefangen haben.

Wohin nun mit dem Pferd? Ich probierte es mit Schieben - vergeblich. Es tat nicht einen Schritt, wenn ich mich von hinten oder von der Seite dagegen stemmte. Als ich aber asthmatisch röchelnd zur Couch ging, um mich auszuruhen, hörte ich das Klacken von Hufen auf meinem wunderschönen Laminat. Das Pferd hatte sich bewegt.

Ein Glück, dass das so ein anhängliches Pferd ist, dachte ich, während das Pferd hinter mir die Treppe hinunterstelzte. Das Pferd wieherte wie zur Bestätigung, und ich konnte spüren, wie die Spione der Wohnungstüren aufgeschoben wurden und die Nachbarn misstrauisch glotzten. Aber ich gab mich ganz normal. Ich hatte mal einen Hund gehabt. Der war auch hinter mir die Treppe hinunter gegangen. Dieses Pferd war lediglich größer. Unten angekommenen setzte es einen entsprechend größeren Haufen ockerfarbener Pferdeäpfel vor den Eingang.

Das Pferd war wirklich sehr anhänglich. Ich fühlte mich bald verfolgt, und mein Verfolger verhielt sich auch nicht gerade unauffällig. Staunende Kinder und verwirrte Erwachsene säumten unseren Weg. Es fing an, mir Spaß zu machen. Wir gingen zur U2. Ich hoffte, mein Anhängsel dort abschütteln zu können. Jedoch zeigte sich, dass das Anhängsel auch Treppen hinauf gehen konnte. Auf die U-Bahn wartend, überlegte ich mir eine Antwort auf die irgendwann unvermeidliche Frage: "Ist das Ihr Pferd?" Bestimmt mussten Besitzer für ihre Haustiere haften und darum würde ich sagen: "Tut mir leid, ich kenne dieses Pferd nicht. Es ist mir eben zugelaufen." Eine Horde Schulkinder bildete derweil einen Halbkreis um mich und das mir fremde Pferd. Sie gafften und kicherten, und ein vorlauter Junge warf sein leeres Trinkpäckchen nach Kalle (wie ich ihn nach einem alten Schulfreund getauft hatte, dem er vom Gesicht her ähnelte). Ein Mädchen wies den frechen Bengel für mich zurecht. So musste ich ihn nicht am Fahrkartenentwerter aufhängen, zumal in dem Moment die U-Bahn kam.

Der Fahrer kümmerte sich nicht groß um das braun-weiß-gefleckte Ungetüm, das seine Augäpfel nach dem einfahrenden Zug verdrehte. Sein Vorschriftenbuch sagte nichts über Pferde, und er wollte keinen unnötigen Stress. Deshalb erreichte mich nur die Durchsage: "Mit dem Pferd bitte nicht in den ersten Wagen." Er behandelte die Angelegenheit wie ein gewöhnliches Fahrrad.

Die Kinder waren nerviger. Auch in der U-Bahn ließen sie uns nicht in Ruhe und machten ihre Witze. Und die um diese Zeit spärlichen Buch- oder Zeitungsleser schauten von ihrer Lektüre auf. Das passierte sonst nur bei Erdbeben und Fahrkartenkontrollen.

Am Alexanderplatz wurde ich mit dem Leuteschwall aus der Bahn gespült, was mir ganz recht war. Wir kletterten aus dem Untergrund auf den Platz, noch immer einen Schwanz Kinder hinter uns herziehend. Aber auf dem Alex fühlte ich mich plötzlich nicht mehr so außerirdisch. Hier spielten auch peruanische Ponchoträger Panflöte, schnorrten die Punks, predigten schwarze Priester unterstützt von einem Gospel-Ensemble und einer Suaheli-Übersetzerin merkwürdige Standpunkte:

Brüder und Schwestern, Jesus ruft dich heute!
Schau die gute Nachricht von Jesus Christus!
Du hast das Glück, dass er dich heute errettet!
Denn er ist am dritten Tag auferstanden!
Darum hat er uns hergeschickt, dass wir heute hier predigen!
Denn die Welt ist verderbt worden durch Drogen!
Denn die Welt ist verderbt worden durch Heroin!
Aber der Herr will dir helfen durch sein Heroin!
Und wenn du heute deine Ohren geben willst, wird er dich erretten!
Jesus Christus hat dieses Wort gepredigt, als er zwölf Jahre alt war!
Schau wie alt du heute bist!
Wenn wir heute Johannes 16 lesen, wirst du Jesus lieben!
Denn die Welt ist verderbt worden durch Drogen!
Hör auf Drogen zu nehmen!
Hör auf zu klauen!
Hör auf schwul zu sein!
Hör auf lesbisch zu sein!
Es ist besser eine Frau zu heiraten!
Eine Frau ist für einen Mann da!
Komm heute zu Gott, egal auch wieviel Krankheiten du hast!
Wir haben die Gnade des Tages heute von Gott gewonnen!
Und darum predigen wir!
Die Zeit ist kurz geworden!
Das ist dein Herz, ich will einen Stein sehen!


Offenbar hatte niemand einen Stein zur Hand, ich auch nicht, und so ging ich weiter. Aber sieh! Was gewahrte ich als ich mich umdrehte? Kalle bedrängte einen Grillwalker, der deshalb sehr unbiblisch schimpfte und mit der Grillzange herumfuchtelte. Der Würstchenmann stolperte und fiel auf den Rücken. Würstchen rollten über das Pflaster, indes die mobile Würstchenbude ihre Mobilität eingebüßt hatte. Wie ein Käfer lag der Typ auf dem Rücken beziehungsweise auf seinem Gastank und strampelte mit den Beinchen. "Du Scheiß Gaul. Na warte, aus dir mach ich Schnitzel!" Kalle kostete eine der Würste, spuckte sie aber wieder aus. Ich fand, dass es Zeit war zu gehen, packte ihn an der Mähne und zog ihn fort, bevor noch jemand dem Grillwalker aufhalf.

Bald flanierten wir "Unter den Linden" und ich versuchte, Kalle um die Postkartenständer und Straßencafé-Tische herum zu lotsen. Nach der Grillwalker-Attacke vergingen höchstens zwanzig Minuten, bis wir wieder in Schwierigkeiten waren. Ein freundlich grinsender Japaner hielt uns für so was wie eine Attraktion und machte ein Foto von mir und Kalles schönen Pferdezähnen. Der Blitz hat Kalle erschreckt. Er wieherte und lief, einen zum Glück unbesetzten Café-Tisch durchquerend, in die nächste Seitenstraße. Die war allerdings abgesperrt. Kalle stieg mit den Vorderhufen auf eine Barrikade und zwei Polizisten lösten sich aus dem Schatten ihrer Hauswand und kamen mit ihren Maschinenpistolen gelaufen, ihn zu beruhigen.

"Ist das Ihr Pferd?" fragte der eine.
"Nein, er ist mir zugelaufen."
"Sie meinen wohl weggelaufen", berichtigte der andere.

Hinter der Barrikade kam noch jemand in Grün, und dahinter noch jemand angerannt. Es handelte sich um amerikanische Soldaten, denn die Straße führte zur amerikanischen Botschaft und der amerikanische Präsident war kein sehr friedlicher Mensch gewesen, seit er nicht mehr trank. Auch die Soldaten nahmen ihren Job furchtbar ernst. Sie hatten wohl den neuen Blockbuster über die Schlacht von Troja gesehen und sahen sofort die Parallelen zwischen dem hellenistisch-osmanischen Konflikt im Film und dem westatlantisch-islamischen im brodelnden nahen Osten. Ich begriff nicht gleich, was los war. Eine der Soldaten sprach mit seinem Walkie-Talkie und kurz darauf erschienen zwei weitere Soldaten, die erst Kalles Hufe und dann, Angstschweiß auf der Stirn, seinen Bauch mit ihren antennenartigen Metalldetektoren untersuchten. Sie rechneten fest damit, jeden Moment ihr Leben aufs Patriotischste den Launen eines Zeitzünders zu opfern. Auf dem Boulevard blieben bei soviel Sicherheit die Leute stehen, unter ihnen auch der kleine Japaner, und sahen dem Treiben zu. Diese Bedingungen wären ein Fest für echte Terroristen gewesen. Doch die Soldaten konnten nichts entdecken, und Kalle dachte nicht daran zu explodieren. Stattdessen klaute er dem Marine, der ihn am Hals festhielt, den Helm, und wollte ihn nicht wieder hergeben.

Der Walkie-Talkie-Mann verhörte mich zu meiner Person, fragte, von wem ich das Pferd wann und wie erhalten oder erworben hätte, und wollte schließlich Christines Namen und Adresse. Ich gab ihm ihre Handynummer und wünschte viel Erfolg. Christines Handy war meist ausgeschaltet. Sie hasste es, wenn Leute ihr hinterher telefonierten, und schaltete es nur ein, um selbst jemanden kontaktieren. Dazu klingelte sie die Leute kurz an und ließ sich zurückrufen.

Inzwischen hatten die deutschen Polizisten ihr eigenes Bombenkommando herbeibeordert. Als dieses auch keine Bombe fand und wieder abrückte, meldete sich wieder der Soldat mit dem Walkie-Talkie zu Wort. Er habe neuen Befehl erhalten. Man müsse das Pferd nun leider erschießen, um seine Innereien untersuchen zu können. Es gab daraufhin eine Diskussion zwischen dem älteren der beiden deutschen Polizisten und dem Walkie-Talkie-Mann. Denn der Walkie-Talkie-Mann durfte Kalle nicht ohne weiteres auf deutschem Boden erschießen. Dazu müsste das Pferd schon die Barriere passieren, was ich unter keinen Umständen zulassen wollte und die Polizisten auch nicht. Um die Sache komplizierter zu machen, drangen nun durch die Absperrung des im Aufbruch begriffenen deutschen Bombenteams mehrere Leute mit Kameras. ARD, ZDF, RTL und die Reuters Nachrichtenagentur hatten alle ihren Sitz im Umkreis von 100 Metern und schickten ihre Vertreter. Und weil, wo Kameras sind, auch Politiker nicht lange auf sich warten lassen, hielt bald der Bürgermeister von Berlin, der Wowi, sein Gesicht in die Kameras. Er war, als er die Nachricht bekam, vom Alex rüber gekommen und wollte das Pferd kennen lernen. Ich hätte ihn gern gefragt, ob er die Nachricht der Jesus Singers auch gehört hatte, aber das Fernsehen war schneller und mit Kameras bewaffnet. Nach einer kurzen, nichtssagenden Stellungnahme wurde er gefragt, ob er es zulassen werde, dass Kalle getötet wird. "Da habe ich wohl noch ein Wörtchen mitzureden", war die selbstbewusste Antwort.

Ich stand neben Wowi, als mir jemand auf die Schulter tippte. Es war der Walkie-Talkie-Soldat. "Ick habö ainö Froagö", sprach er mit starkem Akzent. "Das Pfärd gehört Ihnön. Würdön Sie es vörkaufön?" Mir wurde heiß. Natürlich brauchte ich Geld. Um gar nicht in die Versuchung zu kommen, so ein Geschäft abzuschließen, wandte ich mich an Wowi: "Herr Wowereit," sagte ich mit Bestimmtheit und die Kameras stellten auf uns beide ein. "Herr Wowereit, ich möchte mein Pferd gern dem Land Berlin schenken, vorausgesetzt Sie garantieren für seine Sicherheit." Wowi gefiel die Idee. Er hatte Humor und versprach, Kalle bei der Reiterstaffel der Polizei unterzubringen. Dann redete er von Kalles Symbolhaftigkeit für die vorbildliche Zusammenarbeit zwischen Hauptstadt und Botschaft und nutzte die Gelegenheit, seinen Freund, den amerikanischen Botschafter zu grüßen, zu dem er sehr enge Beziehungen zu haben schien. Wowi war zwar schwul, aber wenn der amerikanische Botschafter nicht zusammen mit einer Frau in einem goldenen Käfig leben müsste, würden sie vermutlich in dieselben Clubs gehen. Jedenfalls war es kein Wunder, dass Wowis Handy klingelte.

"Hallo?" Er ging aus den Kameraaugen und an seine Stelle trat der Walkie-Talkie-Mann, der unter seinem Helm echte Haare hatte. Er teilte der Welt mit, was Wowi im selben Moment am Telefon erfuhr: "Dör amörikanischö Boutschaftör besteyht daraouf, daas das Pfärd in unsöre Händö kommt. In unsöre Abkommön mit Börlin steyht ..."

Wowi kam vom Telefonieren zurück und hatte binnen einer Minute fünf Kilo abgenommen. Er sah nachdenklich aus, das machte ihn alt. Aber sogleich, wie er den Walkie-Talkie-Mann charmant beiseite schob, lächelte er wieder breit und gewinnend in die Kameras und verkündete: "Berlin wird das Pferd dem amerikanischen Botschafter schenken. Ich hoffe, dass der Herr Botschafter das Geschenk in Ehren halten und für sein Wohlergehen Sorge tragen wird."

So konnte dieser diplomatische Machtkampf für alle Beteiligten glimpflich beigelegt werden. Der Botschafter nahm dankend an und schien einzusehen, dass man einem geschenkten Gaul weder ins Maul noch in den Magen-Darm-Trakt schaute. Röntgen zählt nicht, dachte er wohl. Denn er kannte den deutschen Tierschutz noch nicht, der sich bald in Zehnergrüppchen an seine Absperrgitter ketten würde. Um der Sicherheit Genüge zu tun, wurde Kalle nämlich in der Charité "verstrahlt" (d.h. geröntgt) und durfte dann endlich der Botschaft der Hamburgerrepublik als Haustier und der militanten antiamerikanischen Tierschutz-Szene als Märtyrer und Mahnwachenanlass dienen. Hamburgerrepublik nenne ich sie deshalb, weil mein Dankeschön vom Botschafter in einem Stapel Gutscheine für McDonald's bestand. Von Viehhaltung verstehen sie eben was, die Amis. Ich glaub, ich werde dem Botschafter auch noch die Jesus Singers vorbeischicken, fürs Tischgebet. Da fühlt er sich gleich wie zu Hause. Na, dann Amen - oder wie wir in Deutschland sagen: Guten Appetit.
 



 
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