Wiesner

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Wiesner

Mir stand eine Nasennebenhöhlen-OP bevor. Wer würde wohl diesmal mein Zimmergenosse sein? Ich hatte schon schlechte Erfahrungen gemacht.

Wiesner war Invalide. Man hatte ihm vor Jahren das rechte Bein abgenommen.
Ich wurde kritisch unter die Lupe genommen und ich kam mir klein und hässlich vor, obwohl ich einen halben Kopf größer war als er.

Als wir unser gemeinsames Faible für Musik – speziell für die leichte Muse – entdeckten, war der Bann gebrochen. Wiesner war 57 Jahre alt, ich 62. Er war einst Leiter einer renommierten Tanzkapelle, in der er auch als Saxophonsolist aufgetreten war. Als Klarinetten- und Akkordeonsolist hatte er seine Zuhörer ebenfalls erfreut.
Mit unserm musikalischen Geschmack lagen wir auf einer Linie. Die Schlager der 30er bis 60er Jahre hatten es uns angetan, ebenso die ersten, noch recht ansprechenden Nachkriegsimporte aus den USA, wie etwa „In the Mood“ oder der „Chattanooga Express“. Michael Jary, Karl Bette, Peter Kreuder – das waren Namen, die unsere Herzen höher schlagen ließen.
Zur Besuchszeit brachte Wiesners Frau öfter Schlagerkassetten mit, und wir lauschten heißgeliebten Klängen. Ich stellte mir immer wieder vor, wie Wiesner mit seiner fröhlichen Band einst anderen Menschen vergnügliche Stunden bereitet hatte.
Und dann war alles mit einem Schlag vorbei. Eine Infektion war die Ursache. Anfänglich nicht ernstgenommen, breitete sie sich so schnell aus, dass das Bein nicht mehr zu retten war.
Wiesner hatte sein Schicksal in die Hand genommen. Vom täglichen Umgang mit den Krücken gestählt, demonstrierte er mir seine Armkraft.

Weswegen war er jetzt eigentlich im Krankenhaus? Er wurde immer mal wieder zum Professor bestellt, und Röntgenaufnahmen wurden diskutiert. Ich wusste nur so viel, dass es sich um eine „Auffälligkeit“ im Halsbereich handelte, die Schluckbeschwerden verursachten – nicht sehr störend, aber immerhin …
Im Grunde machte er sich keine großen Sorgen, nur konnten wir uns nicht erklären, dass sich die Ärzte nicht einigen konnten, was zu tun war. Schließlich war von einer Geschwulst die Rede und eine Bestrahlung im Gespräch. Definitiv wurde nichts unternommen.

Wir lenkten uns gegenseitig von misslichen Gedanken ab. Ich hatte inzwischen ein veilchenblaues Auge – eine der „seltenen“ Komplikationen, die bei einer Nebenhöhlenoperation auftreten können.

Wiesner berichtete u.a., dass er früher mal im Gold(sprich Uran)gräbermilieu des Wilden Ostens (alias Wismut-AG) tätig war. Da hatten wir wieder eine Gemeinsamkeit entdeckt.
Über die bei diesem Verein herrschenden katastrophalen Zustände wusste er bestens Bescheid. Wir unterhielten uns über die mangelnden Sicherheitsvorkehrungen in den Stollen und Schächten und über die total überfüllten Transportzüge, an denen die Kumpels wie Trauben auf durchgetretenen Trittbrettern hingen.
Auch makaber-humoristische Erinnerungen tauschten wir aus, so z.B. über die „Wismut-Bienen“, die hin und wieder den Sexualbedürfnissen der Kumpels entgegenkamen Dass auf der Bude, wo ich mit drei anderen Kumpels hauste, des Öfteren die „Biene“ des einen auftauchte und wir anderen akustisch Zeugen (das Licht hatten sie wenigstens ausgemacht) der Zärtlichkeiten wurden, konnte ich Wiesner nicht vorenthalten.
In solchen Momenten der Vertrautheit fühlte ich mich mit meinem Zimmergenossen so verbunden, dass wir uns fast das „Du“ angeboten hätten. Es hat nicht dazu gereicht – wohl durch meine Zögerlichkeit.

Schließlich kam der Tag, an dem ich entlassen wurde. Inzwischen hatte meine Frau Herrn Wiesner kennengelernt. Er saß noch immer auf Kohlen. Man hatte noch nichts unternommen.

Wochen später rief ich in Pfungstadt an und erfuhr die schreckliche Wahrheit. Seine Frau war am Apparat und berichtete, dass man ihrem Mann den Kehlkopf entfernt hatte. Ich war geschockt und zu passenden Worten nicht fähig. Nach einigen Wochen rief ich nochmals an und hörte, dass Wiesner an einem Intensivtraining zur Wiederherstellung des Sprechvermögens teilnahm. Nach allem, was ich darüber wusste, war ich skeptisch. Das änderte sich auch nicht, als er mit seiner Frau eines Tages vor der Tür stand, um uns mal „guten Tag zu sagen“. Ich konnte ihn praktisch nicht verstehen, doch ich zeigte ihm mein neues Keyboard. Da er seine geliebten Blasinstrumente nie mehr würde spielen können, sah ich eine Alternative. Aber nach meiner Vorführung winkte seine Frau ab. Wenn schon, dann müsste er ganz klein anfangen.

Er hat wieder klein angefangen, doch sich nicht lange damit aufgehalten. Als ich ihn einige Monate später besuchte, hatte er bereits die Geheimnisse eines Keyboards gelüftet, das - mit allen Schikanen ausgerüstet – noch komfortabler als das meine war.
Die größte Überraschung war, dass ich mich, wenn auch mühsam, mit ihm verständigen konnte.
Die meisten Kehlkopfversehrten bleiben auf die Unterstützung eines lästigen Mikrophons angewiesen, und man versteht sie trotzdem kaum.

Ein Jahr später. Ein trüber Herbsttag. Das Telefon läutet.
Ich bin beeindruckt, wie deutlich sich Wiesner inzwischen artikulieren kann. Und dann lädt er mich ein. Ich soll ihn doch bald mal wieder besuchen. Als ich ihn nachseiner Frau frage, erfahre ich, dass sie vor drei Monaten verstorben war.

Klarer Fall, ich musste nach Pfungstadt. Ich wollte ihm eine besondere Freude machen. Ich besann mich auf meine Schlagersammlung und packte meinen Aktenkoffer voll. Natürlich würde er das meiste davon besitzen, aber ein paar Rosinen waren sicher für ihn dabei …

Als sich die Wohnungstür öffnete, konnte ich es kaum fassen: Wiesner hatte nicht nur seine Stimme wieder, er brauchte auch keine Krücken mehr.
Ja, es wäre nicht so einfach gewesen, sich an das Prothesenbein zu gewöhnen, aber er käme recht gut damit zu recht. Und nun mache er uns einen schönen Kaffee, und gutes Gebäck hätte er auch - zur Feier des Tages. Ich wollte ihm behilflich sein, doch er winkte ab. Wenig später trug er, mit etwas schwankenden aber sicheren Schritten, ein Tablett herein und servierte.
Natürlich waren wir schnell wieder beim Thema Musik, und seine Augen glänzten, als ich meine mitgebrachten Noten ausbreitete. Ich freute mich richtig, mit welcher Selbstverständlichkeit er sich eine ganze Menge Kopien bei mir bestellte.
Dann führte er mir sein inzwischen zweites Keyboard vor, nun wirklich ein Instrument der Spitzenklasse. Ich erwartete Schlagerklänge, aber er spielte doch eher getragene Weisen. Der Tod seiner Frau war noch zu nah.
Und dann öffnete er die Schlafzimmertür. Er selbst benutzte das Zimmer nicht mehr. Auf dem Bett der Verstorbenen saßen alle ihre Puppen und Teddys und hielten Wacht.

Als ich mich verabschieden wollte, musste ich mir noch sein elektromotorisiertes Dreirad ansehen. Ja, die meisten Einkäufe könne er nun selber erledigen. Ab und zu würde sein Sohn bei ihm vorbeischauen, aber den wollte er möglichst wenig mit seinen Angelegenheiten behelligen.

Immer, wenn ich mich mal wieder hängen lasse, fällt mir Wiesner ein.
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo Eberhard,

eine anrührende Geschichte, die nachdenklich macht. Ja, es müsste mehr Menschen wie Wiesner geben, die zeigen, wozu man mit starker Willenskraft in der Lage sein kann
Immer, wenn ich mich mal wieder hängen lasse, fällt mir Wiesner ein.
und die einem für das eigene Leben etwas mitgeben können.

Ob dieser Text nun eine Kurzprosa ist, mögen andere entscheiden – ich sehe das nicht so eng. Ich hab’s jedenfalls gern gelesen und finde es einfühlsam geschrieben.

Liebe Grüße
Ciconia
 



 
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