Windelwetter

hades

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Windelwetter

Es ist Windelwetter“, sagt Mutter. Sie hat sich Waschschürze und Kopftuch schon übergezogen.
In fernen Zeiten wird man Windeln in weiße Maschinen stopfen und einen Knopf drücken oder man wirft sie einfach in den Müll. Heute hat sie aber schon früh einen großen Topf mit abgeblätterter Emaile auf den Kohleherd gesetzt. Mit einer Blechscheppe schaufelt sie nun heißes Wasser in die kleine Zinkwanne, die sie auf zwei Holzstühlen aufgestellt hat. Auf dem großen Tisch liegt ein beachtlicher Haufen mit Babywindeln. Das Baby ist gerade vor einer halben Stunde gesäugt worden und schläft jetzt friedlich in dem kleinen Korbwagen unter einen hellblauen Decke.
Aus einem Eimer nimmt sie kaltes Wasser und mischt soviel hinzu, dass sie gerade mit den Händen hineinfassen kann. Aus einem Becher nimmt sie mit den Fingern eine große Flocke Schmierseife und mischt sie mit dem Wasser zu einer weißen Lauge. Eine gleichgroße Menge wirft sie in das restliche heiße Wasser auf dem Herd. Sie greift mit beiden Händen in die Windeln und befördert sie in die Lauge. Die Sonne steht noch tief und scheint gerade jetzt durch das Fenster in das Zimmer hinein.
„Geh in den Hof spielen“, sagt sie zu mir gewandt, „bei diesem Wetter brauchst du nicht hier herum zu hocken.“
Mutter ist gereizt, wie immer, wenn Windelwetter ist. Ich muss gehorchen, obwohl ich lieber da geblieben wäre und zugeschaut hätte.
„Zieh die Jacke über“, ruft sie hinterher, „die Sonne ist noch kühl.“
Das sagte sie immer, wenn sie meinte, dass es draußen kühl ist, obwohl die Sonne scheint.
Ich greife meine Jacke von der Garderobe und verlasse die Wohnung.
Ich muss 4 Treppen hinunterlaufen, um aus dem Haus zu kommen. Das Herunterlaufen macht mehr Spaß, wenn ich von Stufe zu Stufe hopse. Nach zwei Treppen erwartet mich bereits Frau Trösken, die durch einen Spalt ihrer Wohnungstür lugt.
„Komm mal her“, befiehlt sie.
Ich gehorche und stelle mich vor sie.
„Wenn du so die Treppe herunterspringst, poltert es jedes Mal fürchterlich. Ich habe Kopfschmerzen und kann das nicht ertragen. Gehe anständig die Treppe hinunter wie jeder vernünftige Mensch auch. Du brauchst nicht solch einen Krach dabei zu machen.“
Frau Trösken klopft manchmal mit dem Besenstiel unter die Decke, wenn ich zu sehr in der Wohnung tobe. Mutter sagt dann immer, ich soll mich irgendwo hinsetzen und still sein. Sie schimpft dann immer auf Frau Trösken, weil die keine Kinder hat und Kinder sie stören. Das darf ich Frau Trösken natürlich nicht sagen.
Frau Trösken steht immer in der Tür, wenn ich die Treppe herunterkomme. Irgend etwas schimpft sie immer. Ich darf Erwachsenen keine Widerworte geben und nicke nur. Die beiden Treppen schleiche ich ganz leise hinunter. Unten angekommen zögere ich einen Augenblick; vorne geht es zur Straße hinaus; Mutter hat gesagt: auf den Hof. Ich weiß, sie wird sehr wütend, wenn ich dann nicht auf den Hof gehe.
Auf dem Hof liegt in einem Anbau die Wurstküche der Metzgerei Walter. Vater traut dem Metzger nicht und sagt häufig: ‚wer weiß, vielleicht kommen bei dem Ratten in die Wurst.’
Wir haben nämlich Ratten auf dem Hof, obwohl ich selbst noch nie eine gesehen habe. Meine große Schwester erzählt aber immer sehr schaurige Geschichten über Ratten: sie würden kleine Babies anfressen und was sonst nicht alles. Ich habe Angst vor Ratten und schaue mich immer erst vorsichtig um, bevor ich den Hof betrete. Ich glaubte Ratten seien groß wie Hunde und deshalb halte ich immer nach so etwas großem Ausschau. Nach dem ich mich überzeugt habe, dass kein hundegroßes Unwesen im Hof auf mich lauert, traue ich mich in den Hof zu gehen und schnell bis zur offenen Tür der Wurstküche zu laufen. Dort steige ich die zwei Stufen hoch und bleibe im Eingang stehen. In der Wurstküche ist der alte Herr Walter mit seinem Gesellen Rainer. Herr Walter lacht mich an, als er mich bemerkt. Herr Walter lacht immer, wenn er mich sieht und ist immer sehr lieb zu mir. Deshalb gehe ich gerne zu Herrn Walter, wenn ich im Hof spiele.
„Na“, sagt er freundlich, „willst du uns helfen?“ Ich nicke. Rainer mischt gerade eine weiße Masse in einem großen Bottig und Herr Walter nimmt Pulver aus verschiedenen Gefäßen und streut sie in die weiße Masse.
„Was machst du da, Onkel Walter?“
„Heute machen wir Wurst.“
Ich bin ganz aufgeregt, denn ich habe bisher noch nie gesehen, wie Wurst gemacht wird. Fasziniert schaue ich mir jeden Handgriff an. Nach einer Weile rollen sie die Molle, so heißt der Bottig, an dem unten Räder sind, zu einem großen Zylinder, der neben dem Tisch steht. „Das ist die Wurstspritze“, sagt mir Herr Walter und lächelt mir zu. Rainer nimmt aus der Molle einen großen Batzen der weißen Masse und klatscht sie feste in die Spritze. Mit beiden Fäusten presst er die Masse fest in die Spritze. Dann klappen sie einen großen schweren Deckel über die Spritze und drehen ihn mit einem großen Rad, das oben am Deckel war, fest. Jetzt stellt sich Herr Walter neben die Spritze und pumpt mit einen Fußhebel so lange, bis aus einem Röhrchen, das aus der Spritze herauskommt, etwas von der weißen Masse spritzt. Das wirft er zurück in die Molle, nimmt etwas schlabberiges vom Tisch und stülpt es über das Röhrchen.
Es sieht aus wie ein Schlauch; Herr Walter sagt, es ist ein Wurstdarm. Er kneift das Ende zu und beginnt mit dem linken Fuß zu pumpen. Plötzlich schießt eine riesige Wurst zwischen seinen Händen hervor und landet auf dem Tisch. Ich stehe mit offenem Mund da und staune. Rainer greift sich die Wurst, kneift mit beiden Händen hinein und schleudert immer eine herum; es entstehen immer zwei Würste auf einmal. In kurzer Zeit hat er eine lange Reihe mit Würsten aus der großen Wurst gedreht. Herr Walter spritzt schon die nächste Wurst heraus. Rainer nimmt einen schwarzen Stock aus einer Ecke, schiebt ihn durch die fertigen Wurstreihen und hängt den Stock in einen schwarzen Wagen. Gespannt habe ich bisher darauf gewartet, wann denn die Ratte in die Wurst kommt. Deshalb stelle ich jetzt die Frage, die mir schon die ganze Zeit auf der Zunge brennt: „Onkel Walter, kommen denn keine Ratten in die Wurst?“
Verblüfft schaut er mich an, dann lacht er laut:
„Du hast ja eine Phantasie.“
Er fügt immer noch lachend hinzu:
„Ratten gehören nicht in die Wurst.“
Auch Rainer hält sich den Bauch vor Lachen. Ich schäme mich etwas, weil ich glaube, sie lachen mich aus.
In diesem Moment kommt Mutter mit einer großen Schüssel in den Hof. Als sie mich sieht, ruft sie mich zu sich:
„Gib mir mal die Windeln an. Wir haben schönes Windelwetter, da trocknen sie schnell.“
Ich gebe ihr eine nach der Anderen, die sie auf eine Leine klammert, die kreuz und quer über den Hof gespannt ist. Als die Schüssel leer ist, soll ich sie nach oben bringen. „Ich muss noch mit Herrn Walter sprechen.“
Im Fortgehen höre ich noch:
„Ich hoffe, der Junge hält sie nicht von der Arbeit ab.“
Ich gehe nach oben und warte. Nach einer Weile kommt Mutter mit rotem Kopf in die Wohnung und blickt mich böse an.
Ich weiß, was jetzt passiert und habe große Angst. Meine Mutter geht zur Tischschublade und holt einen großen Kochlöffel heraus. Ich fange laut zu weinen an, doch Mutter schreit:
„Komm sofort hierher und höre auf zu bölken, sonst wird es nur noch schlimmer. Ich werde dir zeigen, was es heißt Dinge auszuplaudern, die hier oben gesprochen werden.“
An das, was jetzt kommt, kann ich mich nicht mehr erinnern.
Ich weiß nur, dass der Kochlöffel anschließend als blaue Streifen und Flecken auf meinem ganzen Körper abgebildet war.
Ich erinnere mich nicht mehr an den Schmerz. Ich spüre nur noch die Angst, wenn Windelwetter ist.

© April 2001
 



 
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