Winteranfang

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disul

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Der nächste Winteranfang kommt bestimmt!

Winteranfang

Der Wind heult. Schaurig, grausig, bitterkalt. Er lässt ein Gemisch von Trommeltönen und an- und abschwellendem Singsang zwischen den einzelnen Häusern schweben, welche eingebettet zwischen meterhohen Schneewalmen der hämischen Zugluft trotzen müssen. Das Ächzen ihrer Balken, das Pfeifen durch die Ritzen mischen sich in schauriger Komposition mit den Trommeltönen und dem Gesang.

Kima tappt vorsichtig, nach allen Seiten spähend, aus dem Haus. Hinter sich lässt das Mädchen die wohlige Wärme, das Plappern und Lachen aller Kinder und das Gemurmel der Alten. Bereits legt sich die winterliche Nacht über das Dorf und nur unklar erkennt Kima den Pfad, der zum nächsten Haus führt. Hie und da hebt sie den Kopf, als ob sie die wenigen Sterne, die am Himmel zu sehen waren, nach dem Weg fragte
Langsam bewegt Kima sich vorwärts, zurrt den Bändel ihrer Fellmütze fester zu und lugt immer vorsichtig nach allen Seiten.
Kein Mensch weit und breit. Nach etwa fünfzig Schritten bleibt Kima stehen. Sie weiss, dass sie nun am letzten Langhaus vorbeigegangen ist, und dass sie nun das Dorf auf geheimen Weg und ohne den Wachen in die Arme zu laufen, verlassen muss.Sie überlegt, dass sie genau in der Zeit, in der die beiden Wachen ihren Gang auf der anderen Seite des Dorfes machen, über das weite, offene Feld eilen muss. Tauchen diese dann von der anderen Seite wieder auf, nähmen sie sie in der Dunkelheit sicherlich nur noch als davonhuschendes Tier war und kämen nie und nimmer auf die Idee, ihr zu folgen.
Kima tritt drei Schritte zurück und verkriecht sich in den Schutz eines Schneehaufens. Hier wartet sie geduldig, bis die beiden Wächter das Haus passiert haben. Erst, als sie längere Zeit nicht mehr den kleinsten Laut der beiden Männer vernehmen kann, wagt sie sich aus ihrem Versteck hervor. Hie und da hebt sie den Kopf. Den Weg, den sie nun bis zum Verlassen der Siedlung gehen muss, hat sie sich tagsüber immer und immer wieder einzuprägen probiert. Jetzt wird sich herausstellen, ob sie auch in der Dunkelheit die Palisade und das kleine Schlupfloch finden wird. Geduckt tappt sie vorwärts und erreicht nach einigen Atemzügen bereits die ersten Holzpfähle. Bis zum Schlupfloch braucht sie sich nur noch mit den Händen entlang der Wand vorwärts zu tasten. Endlich!

Kima hält den Atem an und quetscht sich durch die kleine Lücke. Das weite, offene Feld liegt vor ihr. Das erste Mal nimmt nun auch sie die Trommeltöne und den Singsang wahr. Kima lächelt.Nicht mehr lange, und sie wird sie all sehen, wovon die Frauen und Männer ihres Hauses an den langen Winterabenden berichten. Sie wird das grosse Feuer in der Mitte des Festplatzes sehen, welches zu Ehren der Sonne und ihrer Göttin die ganze Nacht am Leben erhalten wird. Sie wird den Schamanen und Männer des Dorfes sehen, die gemeinsam um das Feuer tanzen, ihre bemalten, nackten Körper, die sich bewegen, die zucken, die schaukeln. Sie wird vielleicht ihre Mutter erblicken, die gemeinsam mit den anderen Frauen und Männern des Dorfes am Rande des Festplatzes steht und zum Klang der Trommeln klatschen oder singen wird. Sie wird die Fackeln sehen, deren Zahl so gross ist, wie die Tage des kommenden Jahres, und die diese besondere Nacht gemeinsam mit dem Feuer erhellen. Sie wird all das sehen, und vielleicht wird sie dann verstehen. Verstehen, weshalb die Kinder diesem Feste nicht beiwohnen dürfen und verstehen, weshalb Mutter ihr auf bestimmte Fragen keine Antwort gibt. Kima lächelt.

Das weite offene Feld liegt vor ihr. Gerade als Kima zum ersten Schritt ansetzen will, werden die Trommeltöne mehr und der Singsang schwillt an. Die Musik wird lauter und lauter und endet plötzlich mit einem unerwarteten Knall. Kima schreit auf; sie dreht sich auf der Stelle um und prallt unversehens gegen ein vorher nicht da gewesenes Hindernis. Die Angst schnürt ihr die Kehle zu, sie getraut kaum, neuen Atem zu schöpfen. Das ist jetzt die Strafe der Götter dafür, dass sie sich anzumassen versuchte, ihrem Feste beizuwohnen, denkt Kima. Sie bleibt steif wie ein Stock stehen, schliesst die Augen und harrt der Strafe, die da auf sie zukommen wird.

Komm, mein mutiges Mädchen. Der Wind heult. Schaurig, grausig, bitterkalt. Er trägt ein Gemisch von Trommeltönen und an- und abschwellendem Singsang übers Feld gegen das Dorf zu. Komm, mein mutiges Mädchen. Der Grossvater nimmt Kima bei der Hand und führt sie langsam und verstehend nach Hause in die wohlige Wärme mit dem Plappern und Lachen aller Kinder und mit dem Gemurmel der Alten.

© by Disul
 

Rumpelsstilzchen

Foren-Redakteur
Teammitglied
Das scheint mir ein Krümel vom Kuchen. So 'n Bröckchen frißt einem ein Loch in den Bauch.

Hohle Fragen nagen, jetzt hat er Magenplagen
 

disul

Mitglied
Rumpelstilzchen,

ich hoffe, dass du deinen geplagten Magen inzwischen beruhigen konntest.
Ich bin gespannt auf die Fragen.

Mit lieben Grüssen

Disul
 

majissa

Mitglied
Auszug aus einem größeren Werk? Die winterlich geheimnisvolle Atmosphäre deines Textes gefällt mir und ich hätte schon gern gewusst, wie es weitergeht. Einige Passagen sind mir allerdings zu umständlich formuliert. Da geriet ich ins Stolpern.

Gruß
Majissa
 



 
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