Winterimpressionen

Winterimpressionen

Nein, was ist das für ein atemberaubender Anblick von dieser Jagdhütte in eintausendachthundert Metern Höhe! Wenn doch bloß meine Wanderfreunde nicht unaufhörlich plappern würden! Nicht hier. Nicht jetzt!

Ich verspüre den heißen Wunsch, hier, hoch oben in den verschneiten Davoser Bergen, die Stille mit allen Sinnen einzusaugen. Ich wäre jetzt zu gern allein und nur mit meinen Gedanken unterwegs.
Ja, ein Glas Rotwein wird meine innere Freude über diese eindrucksvolle Winterpracht abrunden. So soll es sein.

Mein Herz öffnet sich nach einem Gläschen, und die Gedanken nehmen ihren Lauf:

Der Winter hat die schroffen Bergwände und spitzen Gipfel stark gepudert und die sanfteren Hänge des weiten Sertigtals mit einer weißen Decke von fast fünfzig Zentimeter Schnee überzogen. Die verschneiten Fichten an der Jagdhütte bewegen sich sanft vom leichten Bergwind, und die Sonne lacht aus einem fast unnatürlich anmutenden blauen Himmel. Schneekristalle am Bergwiesenhang funkeln wie Diamanten. Das muss ich fotografieren.

Ich fühle mich frei und unbeschwert. Ist es schon die Wirkung von Rudis selbst gebrannten Kräuterschnaps und dem Glas Rotwein? Vielleicht. Und wenn schon!
Ich empfinde eine unbegreifliche, anmutsvolle Stimmung. Der weite Blick auf das weiße Bergparadies setzt wahrscheinlich Glückshormone frei.

Von der Mittagsonne schmelzender Schnee tropft in einem fort vom Hüttendach. Ein Dompfaffweibchen sitzt auf dem Holzzaun und beobachtet mich neugierig. Das Signalhorn vom Postbus ertönt im Tal. Tää-ta-tää! Wie in alten Zeiten.
Meine vier Wanderfreunde haben es sich in der warmen Hütte bereits gemütlich gemacht. Ich sitze aber lieber noch ein Weilchen hier draußen auf der Holzbank. Ich brauche Ruhe.

Mein Blick schweift wieder zu den Bergen, die majestätisch, stolz und unverrückbar erscheinen. Raum und Zeit schwinden in diesem Augenblick.
Die Bergmassive offenbaren mir eindrucksvoll unsere menschliche Vergänglichkeit. Hier gibt uns der Herrgott ein Zeichen, da bin ich mir ganz sicher.
Ein Fünkchen Traurigkeit beschleicht mich bei dem Gedanken an unsere viel zu kurze Zeit auf Erden.
Einen Teil dieser winzigen Lebensspanne verschwenden wir mit unsinnigen Kriegen und absurden privaten und beruflichen Streitereien.
Ich bedaure, dass den meisten Menschen dieser herrliche Blick versagt bleibt und das sie deshalb nicht zu ähnlichen Einsichten gelangen.
Die Graubündner Bergluft erscheint mir heute besonders trocken. Ein weiteres Gläschen sollte ich mir auf jeden Fall noch gönnen. Sehr zum Wohle!

Wie mag sich wohl diese Landschaft im Sommer zeigen? Die Matten grün. Schneereste in den höheren Berglagen. Alpenveilchen, blauer und gelber Enzian blühen mit tausend anderen Pflanzen. Pilze lugen aus dem Waldboden und wollen gesammelt werden. Kühe, Schafe und Ziegen sehe ich im Geiste auf den saftigen Bergwiesen und vernehme ihr Glockengeläut. Dort oben in der Klamm könnten Gamsen äsen, ein Rudel Rotwild zieht im Berghang die Fährte. An einem Steinfeld spielen Murmel vor ihrem Bau.

Hier sollte ich öfter sitzen, der inneren Stimme lauschen und wieder mal demütig werden vor der Schöpfung.
In den seltenen Augenblicken der Stille hältst du den Dialog mit deinem Herzen. Eine kostbare Erfahrung!
Von meinem Plätzchen aus müsste doch jeder Mensch die Ehrlichkeit der Natur begreifen! Jeder Mensch?

Was ist das für ein hässliches Geräusch? Wer wagt es, meine innere Einkehr zu stören? Ein gelber Helikopter. Ein Bergunfall? Nein, ich beobachte mit dem Fernglas vier Heliskifahrer, die unbedingt von den höchsten Gipfeln ihre Lines ins Tal ziehen müssen! Vor einigen Jahren sagte man dazu noch „wedeln“. Sie fahren quer durch die Fichtenwälder. Wälder, die dem Wild als Deckung dienen. Die oft von Eis und Schnee aufgescheuerten Läufe der Tiere werden durch die weiten Fluchten unnötig strapaziert. Das geht an die letzten Reserven.

Muss denn dieser Irrsinn sein? Begreifen wir Menschen denn überhaupt nichts mehr? Ist manchen Zeitgenossen die Natur so gleichgültig? Zählt nur noch die verdammte Gier nach Profit und dem ultimativen Adrinalinkick? Sogar noch bei Nacht auf beleuchteten Pisten?

Plötzlich erschrecke ich. Bin ich ein Moralist? Oder gönne ich den anderen Wintersportlern ihren Spaß nicht, weil ich zum Freeriden und Snowboarden in den Monsterpipes schon zu alt bin?
Ja, du bist ein ganz mieser Heuchler! Fährst selbst Ski, erwartest überall gepflegte Pisten, die modernsten, schnellsten Berg- und Kabinenbahnen und flottesten Skilifte!
Berge und Wiesen wurden dafür brutal vergewaltigt und das Wild aus seinen Einständen vertrieben. Du bist keinen Deut besser. Nein, du bist durch die Nutzung der unzähligen Mammutanlagen ein noch viel größerer Umweltsünder!
Ich will mich noch einmal stärken – meine Gedanken muss ich erst einmal verarbeiten.

Die Sonne wandert langsam nach Westen. Ihre Strahlen brechen rechts durch die Fichtenzweige. Ein kleiner Schatten fällt auf mein Gesicht und den Manuskriptblock. Ein Zeichen, mich wieder auf die Hüttengemeinschaft zu besinnen. Ich werde bereits unmissverständlich zur Brotzeit gerufen. Gut so, denn Nachdenken macht hungrig.
Nur ungern erhebe ich mich und genieße noch einmal staunend die verschneite Bergwelt. Ich lächle und bin glücklich – glücklich ob meiner ehrlichen Erkenntnisse.

Autor:
Wolfgang M. A. Bessel
http://www.bessel-autor.info
 



 
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