Winterschlaf

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catsoul

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Hallo,

im Frühjahr wird eine Lesung vom Literaturkreis Bad Kreuznach unter dem Motto:

Jahreszeit - Zeitwechsel - Wechseljahre

statt finden. Dazu hab ich eine Geschichte geschrieben zu der ich gerne eure Meinung erfahren würde.


Winterschlaf
cat / 28.01.2005


Melissa und Ruth saßen auf einer Decke im Park. Ein Picknick-Korb stand zwischen ihnen. Sie wollten den letzten warmen Tag ausnutzen. Selten das man sich an einem 25. Oktober noch einmal ins Gras setzen konnte. Ruth hielt es nicht auf der Decke, sie wollte den Park entdecken. Sie war vor ein paar Tagen zwei Jahre alt geworden und freute sich an jedem noch so kleinen Käferchen das sie entdeckte. Ohne Scheu nahm Ruth eine Spinne in die Hand um sie ihrer Mama zu bringen, damit Melissa sie bewundern möge. Deren entsetzten Gesichtsausdruck konnte Ruth überhaupt nicht verstehen. Und dann noch dieser erschreckte Ausruf, sie solle dieses furchtbare Tier sofort los- und bloß nicht auf die Decke fallen lassen. Verwundert setzte sie das kleine Tierchen ein paar Meter weiter ins Gras und strich sich eine blonde Locke aus dem Gesicht, dabei entdeckte sie etwas wunderbares. Ein hellbraun leuchtendes, kugeliges Etwas. Was mochte das wohl sein? Vorsichtig schaute sie sich um, dann nahm sie diese Kostbarkeit behutsam in ihre kleinen Hände.
Ganz stolz und vorsichtig trug Ruth diese zu ihrer Mama.
Melissa erklärte Ruth, dass das was sie soeben gefunden hatte eine Kastanie ist. Und wenn man diese in einem Erdloch zum schlafen legt, später ein großer Baum daraus wachsen würde. Ruth war Feuer und Flamme und überredete Melissa für die Kastanie ein Loch zu buddeln und sie dort schlafen zu legen. Kurzerhand nahm Melissa ein Messer aus dem Picknick-Korb und grub ein kleines Loch. Mit ernstem Gesicht verfolgte Ruth das Tun ihrer Mama und legte anschließend die Kastanie ganz behutsam hinein. Gemeinsam häufelten sie die Erde wieder darüber.

„So, und jetzt müssen wir nur noch warten. Wenn der Winter vorbei ist, kommt vielleicht schon ein kleines Pflänzchen aus der Erde.“, sagte Melisse und Ruth fragte:
„Wenn der Winter vorbei ist? Aber es ist doch Herbst!“
„Ja, die Kastanie muss jetzt schlafen und wenn im Frühling die ersten Sonnenstrahlen die Erde wärmen, dann reckt sich die Kastanie und ein kleiner Spross kommt aus der Erde und will sehen wie die Sonne ausschaut, weil der nämlich genau so neugierig ist wie du! Aber jetzt müssen wir unsere Sachen zusammen packen und nach Hause gehen, schau, es wird schon dämmrig.“
„Mama? Können wir morgen wieder nach der Kastanie sehen?“
„Wenn das Wetter schön ist, gehen wir nachmittags wieder hier her, aber wenn es regnet bleiben wir zu Hause.“
Leider regnete es am nächsten Tag und die ganze nächste Woche dazu. Jeden Tag fragte Ruth nach der Kastanie, und jeden Tag hörte sie von Melissa:
„Leider können wir heute nicht zur Kastanie, aber Regen ist gut für Kastanien, bestimmt wird im Frühling ein kleines Bäumchen daraus wachsen.“

Endlich, nach über einer Woche war das Wetter so, das die beiden wieder in den Park konnten. Ruth hatte sich die Stelle ganz genau gemerkt, an der die beiden die Kastanie vergraben hatten und rannte dort hin. Unentschlossen schaute sie sich um, aber außer Gras war nichts zu sehen.
Melissa nahm Ruth tröstend in die Arme und sagte:
„Du musst Geduld haben.“
Aber Geduld ist für ein kleines Mädchen etwas, was es gar nicht kennt. Kleine Mädchen wollen alles entdecken und alles wissen und das am besten sofort!

Ein paar mal noch besuchten Melissa und Ruth die Stelle an der die Kastanie in der Erde schlief, aber immer noch war nur Gras ringsum zu sehen.
Der Winter kam und mit ihm Eis und Schnee, die Besuche im Park wurden noch seltener bis sie schließlich ganz aufhörten.
Im Frühjahr, als die ersten Sonnenstrahlen allen in der Nase kitzelten und Melissa die Kastanie schon längst vergessen hatte, sagte Ruth eines Abends:
„Mama, gehen wir morgen in den Park und schauen ob die Kastanie noch schläft?“

Also zogen sie am nächsten Tag los und Ruth fand den Platz auf Anhieb. Voller Staunen sahen sie ein kleines Pflänzchen, welches sich zum Himmel reckte.
„Ist das unsere Kastanie?“, fragte Ruth ganz leise.
„Ja, das ist sie! Und sie wird bestimmt mal ein ganz großer Baum, der allen Leuten Schatten spendet.“ Melissa nahm ihre Tochter ganz fest in die Arme und beide standen noch eine ganze Zeit staunend vor diesem Wunder der Natur.
Immer mal wieder besuchten die beiden das Pflänzchen. Der Frühling ging und der Sommer kam mit viel Hitze und ab und zu wolkenbruchartigen Regenfällen. Aber das kleine Pflänzchen trotzte tapfer dem Wetter und wuchs. Dann kam der Herbst mit Stürmen und Kälte. Aber das Pflänzchen stand jedes Mal, wenn die beiden es besuchten, nur noch schöner und kräftiger da.

Am 25. Oktober packte Melissa einen Picknick-Korb. Das Wetter war kalt und regnerisch, aber den beiden machte dies nichts aus, denn sie hatten etwas zu feiern. Ruth stellte sich vor das Kastanienpflänzchen und begann mit ihrem dünnen Stimmchen zu singen:
„Weil heute dein Geburtstag ist, da haben wir gedacht, wir singen dir ein frohes Lied, weil dir das Freude macht“
Melissa lächelte und lobte Ruth. Dann banden beide dem Pflänzchen eine Schleife um und machten sich auf den Heimweg.
So ging das viele Jahre, immer am 25. Oktober stand Ruth vor der Kastanie und sang. Und immer banden die Beiden eine Schleife in die Äste der immer größer werdenden Kastanie.
Als Ruth Achtzehn Jahre alt war lernte sie einen Mann kennen und folgte ihm, gegen den Willen von Melissa, in dessen Heimatland. Die Zeiten wurden schwierig und Ruth und Melissa verloren den Kontakt.

Am 30. Geburtstag der Kastanie war wunderschönes Sommerwetter. Melissa trug einen Picknick-Korb in den Park und setzte sich auf eine Decke in den Schatten der Kastanie. Sie dachte an damals und dabei schlief sie ein. Sie träumte von Ruth, wie sie damals mit ihren blonden Locken vor ihr gestanden hatte und lächelte im Traum, als sie an die Spinne dachte. Spinnen machten ihr inzwischen gar nichts mehr aus, sie fing sie in einem Wasserglas und setzte sie einfach draußen aufs Fensterbrett.

Als sie erwachte stand ein kleines Mädchen vor ihr und schaute sie interessiert an. Es hatte blonde Locken, in der offenen Hand hielt es eine Kastanie und sagte:
„Sieh` mal Oma, so eine Kastanie habe ich mit meiner Mama heute schlafen gelegt.“
 

Rainer

Mitglied
hallo catsoul,

einen schönen text hast du da geschrieben; aber ein paar anmerkungen habe ich doch noch:

die zeitliche und örtliche gedächtnisleistung der zweijährigen ruth finde ich bemerkenswert,

das überleben des baumes sowieso - in den meisten parkanlagen wird das gras gemähd, ergo hätte das erste picknick in der unmittelbaren nähe des gesträuchs stattfinden müssen (was das wiederauffinden sicher vereinfacht), aber früher oder später wird auch da "ausgemistet"...
... jaja, die kalte realität ohne das berühmte fünkchen magie.

dass am 30. geburtstag des bäumchens (25. oktober) "...wunderschönes Sommerwetter..." herrschte, würde ich etwas abmildern; vielleicht: "...ein warmer Oktobertag..."

die "spinnengeschichte" ist wunderschön - das hat für mich einen anflug von literatur; ebenso die undramatische schilderung der trennung von mutter und tochter.

ich will dir deinen text inhaltlich absolut nicht kaputtmachen, aber den schluss finde ich etwas "aufgesetzt". vielleicht könnte die kleine ja melissa fragen, ob sie auch so eine kastanie schlafen legen möchte, so in richtung "guck mal was ich schon alles weiß..." . dann könntest du dir (und den lesern) den traum sparen (*gähn*), und das wetter müsste auch nicht mehr so sommerlich sein; ja der text würde sogar bei regenwetter funzen :).

viele grüße

rainer
 

catsoul

Mitglied
Hallo Rainer,

danke für dein ausführliches Feedback.

Die zeitliche Gedächtnisleistung von Kindern ist sehr unterschiedlich. Zum Beispiel könnte Ruth ein Bild gemalt haben auf dem eine Kastanie zu sehen ist. (Sehr wahrscheinlich hat sie das sogar, denn wer würde so ein Erlebnis vergessen?) Wenn dieses Bild dann auch noch über dem Bett von Ruth hängt, wird das kleine Mädchen jeden Tag daran erinnert. Jeden Tag wenn es schlafen geht, denkt es an die schlafende Kastanie. Ist dir das Erklärung zu diesem Punkt genug? *grins*
(das hab ich mir gerade ausgedacht, aber es könnte so passiert sein, oder?)

Was die Realität betrifft:
Gehen wir einmal 30 Jahre zurück... in den Parks wurde zwar auch damals das Gras gemäht, aber bei weiten nicht so oft wie jetzt. An manchen Stellen wurde es sogar stehen gelassen um den Käfern, Schmetterlingen und ähnlichem Getier einen Platz zu lassen.
Ok, ich gebe zu, die Geschichte entbehrt etwas der harten Realität, wie sie jetzt ist, aber wie war das?
Ein Fünkchen Magie...
Wir müssen nur glauben wollen. ;)

Sehr gefreut habe ich mich über dein Lob bezüglich der Spinnengeschichte. Über solche Nebengeschichten denke ich nicht groß nach, die passieren einfach beim schreiben. Um so schöner, wenn sie bemerkt werden.

Die 'Traumgeschichte' ist für mich wichtig. Es sollte andeuten das Ruth mit ihrer Tochter zurück gekommen ist und die Kleine sich so ihrer Omas vostellt... scheinbar ist mir das nicht ganz gelungen. Ich werde mal sehen was ich da verändern kann.


liebe Grüße

cat
 

Rainer

Mitglied
hallo cat,

nun gut, die gedächtnisleistung ist akzeptiert, auch wenn unsere beiden sprößlinge da nicht mithalten können.

das fünkchen magie... okay, da kam wohl der faktenvergleichende nichtmagier in mir durch :).

den traum habe ich wohl falsch verstanden; ich glaubte, irgendein kleines mädchen wäre zu melissa gekommen...

nochmals danke für die geschichte und deine bereitschaft, dich mit ihrer rezeption auseinanderzusetzen,

viele grüße

rainer
 

catsoul

Mitglied
Änderung

Hallo Rainer,

schau mal, vielleicht ist der letzte Absatz ja so besser?

Aber als sie erwachte, fühlte sie sich wiedrum dreißig Jahre zurückversetzt, denn ein kleines Mädchen stand vor ihr. Es hatte blonde lockige Haare und sah Ruth sehr ähnlich.
Das Mädchen stand vor Melissa und schaute sie interessiert an.
In der offenen Hand hielt es eine Kastanie und sagte:
„Sieh` mal Oma, so eine Kastanie habe ich mit meiner Mama heute schlafen gelegt.“


Hab ein bissel gebraucht, bis ich endlich heute auf diese Lösung gekommen bin. ;)


liebe Grüße

cat
 

Rainer

Mitglied
hallo cat,

ich denke, jetzt ist die geschichte auch für einen menschen mit sehr langer leitung (grüße an alle rainers dieser welt) verständlich - prima :).

viele grüße

rainer
 



 
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