Wintertag (Langzeilensonett)

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Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
18

Du bist geworden wie ein Wintertag, nur kälter noch und starr und voller Eis,
und du zersplitterst schon beim kleinsten Schlag, im rauhen Wind gefriert Dir kalter Schweiß.
Der Vollmond scheint und färbt den Himmel schwarz, an Fenstern wachsen Blumen aus Kristall,
man repariert das Himmelszelt mit Harz, die Sterne schleichen langsam durch das All.
Die Schneekristalle werden langsam grau, denn ewiglich wird hier nicht Winter sein,
der Tod treibt Blüten auf der grünen Au, und selbst im Boden stellt sich Wachstum ein.
Solange keiner vor der Haustür kehrt, bleibst du - und diese Welt - begehrenswert.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Wintertag
Shall I compare thee to a summer's day?
William Shakespeare, Sonett 18

Du bist geworden wie ein Wintertag, nur kälter noch und starr und voller Eis,
und du zersplitterst schon beim kleinsten Schlag, im rauhen Wind gefriert Dir kalter Schweiß.
Der Vollmond scheint und färbt den Himmel schwarz, an Fenstern wachsen Blumen aus Kristall,
man repariert das Himmelszelt mit Harz, die Sterne schleichen langsam durch das All.
Die Schneekristalle werden langsam grau, denn ewiglich wird hier nicht Winter sein,
der Tod treibt Blüten auf der grünen Au, und selbst im Boden stellt sich Wachstum ein.
Solange keiner vor der Haustür kehrt, bleibst du - und diese Welt - begehrenswert.
 

Label

Mitglied
Lieber Bernd

das gefällt mir gut
interessant diese Form, wirkt nicht so steif wie Sonette das leider oft an sich haben.

Da scheint es eine Eiszeit zu geben. Aber das kältegenerierende Lyrdu ist nicht allmächtig und vermag nicht die Umgebung auch erstarren zu lassen.
Selbst in dieser unfreundlichen Kälte entstehen Blüten und Wachstum.
Solange keiner vor der Haustür kehrt, bleibst du - und diese Welt - begehrenswert.
das finde ich unglaublich gut - hat philosophischen Lehrsatzcharakter.

mit lieben Gruß
Label
 
G

gitano

Gast
Hallo Bernd!

Label hast Du mit diesem Scherz ;D schon auf´s Glatteis geführt!

Eigentlich ist es die historisch gesehen "korrektere" Schreibweise (aus alten Handschriften) für die italienisch stämmige Sonett-Form!
So wie sie nach pedi und voltae von den Autoren geordnet wurden! Wobei hier leider nicht zum Ausdruck kommt, daß die voltae ja drei!! Endecassillabi lang sind - also: drei mal elf Silben plus Zwischenräume...dies war damals schon eine sehr laaaange Zeile!

Es waren schließlich die Buchsschreiber und manche Autoren selbst, die dann die pedi und voltae in grafische Einheiten zerhackten, um sie besser und layout gerecht auf die Schreibfläche zu bekommen!

Von der dichterischen Seite her ein brutaler Akt von Einmischung und Zerstörung!
...und heute schreibt die halbe Welt in Kurzzeilen..
so kanns gehen!

und eher nicht typisch für die englische ;)
die wurde in zehn/elfsilbler Zeile
"en bloc" notiert.

Dies ist also keine neue oder innovative Form von Sonett! ;D

(siehe Peter Weinmann (1989) Sonett-Idealität und Sonett-Realität, Promotionsarbeit. Kap. 3. Reihe ROMANICA MONACENSIA. Gunter Narr Verlag Tübingen)
... ich habe noch ein Lagerbestandsexemplar bekommen:)

unsere heutigen Schreibweisen sind oft gewissen Formaten geschuldet...im Mittelalter den Handschriftenformaten, heute den DIN Formaten...

Schade, daß in der LL nicht jeweils ein pedi aus zwei Endecassillabi auf eine Zeile paßt! Man würde wirklich anders lesen und die Schwachstellen fallen leichter auf!

Wäre dies nicht mal ein Verbesserungsvorschlag? für die LL...bißchen mehr Platz pro Zeile!
Woanders geht dies ja auch...(z.B. http://www.die Lyriker.de dort paßt es)

Grafische Darstellung wäre (sonets cantenatus typ):
v-v-v-v-v-v(A) v-v-v-v-v-v(B)
v-v-v-v-v-v(B) v-v-v-v-v-v(A)
v-v-v-v-v-v(A) v-v-v-v-v-v(B)
v-v-v-v-v-v(B) v-v-v-v-v-v(A)
v-v-v-v-v-v(C) v-v-v-v-v-v(D) v-v-v-v-v-v(E)
v-v-v-v-v-v(C) v-v-v-v-v-v(D) v-v-v-v-v-v(E)


beim englischen Typ, ist es ja am Ende eher anders, wg. der epigrammatischen Schlußsequenz

Nr. 18 suche ich mir gleich mal raus...

Vielleicht bis später ;)
gitano
 
G

gitano

Gast
Nachtrag:
Dein Reimschema: ABAB CDCD EFEFGG (eher englisch)

Nr. 18 suche ich mir gleich mal raus...

Alles bißchen wild durcheinander, finde ich:
-keine klare Sonettkadenz (du nennst es aber Sonett)
-Langzeilenschreibung ital. historisch
-inhaltlicher Gestus eher im englischen Stil

Experimentell weil ein wilder MIX? Im Experimentellen geht alles?
hm, mixen ist für mich keine Innovation...

Was mir unanbhängig von der Formdiskussion sehr gut gefällt sind die schönen poetischen Bilder!

Vielleicht bis später ;)
gitano
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo, Gitano, Du hast meine Gedanken hierbei wiederholt und erweitert.
Der experimentelle Charakter liegt in drei Punkten:

1. Wie wird heute ein Sonett mit langen Zeilen (vom Umbruch wegen der Leselupe abgesehen) aufgenommen?
2. Ich habe auf anachronistische Weise die Form des Shakespeare-Sonetts mit dem Langzeilensonett verbunden, das man bei näherer Beschäftigung aus der Geschichte des Sonetts kennt. Du hast es gut beschrieben, das brauche ich nicht zu wiederholen.
3. Eine umkehrende Nachdichtung des Shakespeare-Sonetts, eine Art Parodie oder Travestie.
Ursprünglich hatte ich die Reimform sogar noch verschränkt, das aber dann geändert. Es wäre eine zu starke Mixtur der Formen geworden.
abba cddc effe gg
Ich hoffe, man erkennt den Zusammenhang mit Shakespeares 18. Sonett. Davon habe ich auch selbst schon Übersetzungen versucht.

Ursprünglich nannte ich das Sonett "18", das könnte aber missverstanden werden - als rechtsextremes Symbol. Deshalb fiel es unter meine Zensurschere.


Die ursprüngliche Version war:

18
Shall I compare thee to a summer's day?
William Shakespeare
Du bist geworden wie ein Wintertag, nur kälter noch und starr und voller Eis,
im rauhen Wind gefriert dir kalter Schweiß; und du zersplitterst schon beim kleinsten Schlag.
Der Vollmond scheint und färbt den Himmel schwarz, an Fenstern wachsen Blumen aus Kristall,
die Sterne schleichen langsam durch das All; man repariert das Himmelszelt mit Harz.
Die Schneekristalle werden langsam grau, denn ewiglich wird hier nicht Winter sein;
und selbst im Boden stellt sich Wachstum ein, der Tod treibt Blüten auf der grünen Au.
Solange keiner vor der Haustür kehrt, bleibst du - und diese Welt - begehrenswert.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Wintertag
Shall I compare thee to a summer's day?
William Shakespeare, Sonett 18

Du bist geworden wie ein Wintertag, nur kälter noch und starr und voller Eis,
und du zersplitterst schon beim kleinsten Schlag, im rauhen Wind gefriert dir kalter Schweiß.
Der Vollmond scheint und färbt den Himmel schwarz, an Fenstern wachsen Blumen aus Kristall,
man repariert das Himmelszelt mit Harz, die Sterne schleichen langsam durch das All.
Die Schneekristalle werden langsam grau, denn ewiglich wird hier nicht Winter sein,
der Tod treibt Blüten auf der grünen Au, und selbst im Boden stellt sich Wachstum ein.
Solange keiner vor der Haustür kehrt, bleibst du - und diese Welt - begehrenswert.
 
G

gitano

Gast
Lieber Bernd!
Du hast manchmal schon sehr WILDE IDEEN!
Shakespeare also...auch in den Originalbildern! Toll!

Deine Umformung fällt eigentlich kaum auf im Text.
Es liest sich so, als wäre dies das Original...
Dies spricht für Shakespeares Gliederung der rhetorischen Figuren im Sonett
und für Dich
weil Du es erkannt und genutzt hast!

Das ist aber insgesamt ganzschön SPEZIELL
...mehr was für ausgesprochene Sonettliebhaber!

Danke für Deine tolle "Erhellung" der Idee!

Nr. 18 lese ich trotzdem...gleich beim Café :D

Bis bald!
gitano
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hier eine Übersetzung (Übertragung) von mir:

übersetzt und zitiert nach "Shakespeare Online" http://www.shakespeare-online.com/sonnets/18.html

William Shakespeare
Sonett 18

Vergleiche ich dich einem Sommertag?
Du bist viel lieblicher und nicht so wild:
wenn Wind des Maien Knospen stürmen mag,
borgt dir der Sommer allzukurz sein Bild:
Das Himmelsauge scheint manchmal zu heiß,
und oft ist auch sein Goldgesicht versteckt,
was man auch sieht, es unterliegt Verschleiß --
durch Zufall, oder weil Natur sich reckt.
In dir soll nie die Sommerzeit vergehn,
soll nie die Schönheit enden, die du trägst,
soll nie der Tod nur prahlend Beute sehn,
wenn du dich endlos in die Zeit bewegst.
Solang man atmen oder sehen kann,
bleibt das bestehn und trägt dir Leben an.

Original:
Shakespeare Sonett 18

Shall I compare thee to a summer's day?
Thou art more lovely and more temperate:
Rough winds do shake the darling buds of May,
And summer's lease hath all too short a date:
Sometime too hot the eye of heaven shines,
And often is his gold complexion dimm'd;
And every fair from fair sometime declines,
By chance or nature's changing course untrimm'd;
But thy eternal summer shall not fade
Nor lose possession of that fair thou owest;
Nor shall Death brag thou wander'st in his shade,
When in eternal lines to time thou growest:
So long as men can breathe or eyes can see,
So long lives this and this gives life to thee.

Eine alte deutsche Übersetzung von Friedrich Bodenstedt findet man hier: http://www.deutsche-liebeslyrik.de/europaische_liebeslyrik/shakespeare/shakespeare_18.htm
 
G

gitano

Gast
Hallo Bernd!
Danke fürs Text einstellen!
Ich hätte es sicher nicht so gut übersetzen können...mein Sprach-Metier ist eher spanisch...

Nochmal zu den Bildern:
Du bist geworden wie ein Wintertag, nur kälter noch und starr und voller Eis,
(sehr schöne Eingangssequenz!)

und du zersplitterst schon beim kleinsten Schlag, im rauhen Wind gefriert dir kalter Schweiß.
(Schlag könnte hier mißinterpretiert werden...weil oben; Wintertag = Person? und dann: Person schlagen?

Der Vollmond scheint und färbt den Himmel schwarz, an Fenstern wachsen Blumen aus Kristall,
(ok, der Mond färbt zwar nicht...aber geht noch)

man repariert das Himmelszelt mit Harz, die Sterne schleichen langsam durch das All.
(Himmelszelt mit "Harz" reparieren?, zweiter Teil sehr schön!

Die Schneekristalle werden langsam grau, denn ewiglich wird hier nicht Winter sein,
(ok)
der Tod treibt Blüten auf der grünen Au, und selbst im Boden stellt sich Wachstum ein.
(Ausblick auf Frühling)
Solange keiner vor der Haustür kehrt, bleibst du - und diese Welt - begehrenswert.
(wer den Wintertag so liebt... ;D)...das Du aus Z1 geht aber in die Conclusio ein!
Also wenn das Du aus Z1 eine Person ist, wirds etwas "problematisch" mit den Wertungen zu der Person

Liebe wäre dass dann nach meinem Verständnis nicht mehr!

Bis denne!
gitano
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Lieber Gitano,
vielleicht denke ich zu sehr um die Ecke.
Mich hat heute jemand gefragt, wer denn das poetische "ich" sei, das fragst Du indirekt auch. Es gibt viele Möglichkeiten. Eine wäre: Die Schneekönigin, eine andere Kai, es gibt sicher mehr.
Ich gehe hier mal auf die Bilder ein, die ich speziell interpretiere:


Nochmal zu den Bildern:
Du bist geworden wie ein Wintertag, nur kälter noch und starr und voller Eis,
(sehr schöne Eingangssequenz!)
Danke.


und du zersplitterst schon beim kleinsten Schlag, im rauhen Wind gefriert dir kalter Schweiß.
(Schlag könnte hier mißinterpretiert werden...weil oben; Wintertag = Person? und dann: Person schlagen?

Wenn irgendein fester Körper die tiefgeforene Person trifft, zersplittert sie. Ein Schlag wäre ein kurzer heftiger Stoß, aber bereits bei minimaler Stärke. Vielleicht wäre "kleinster Stoß" richtig, ein Stoß ist aber nicht unbedingt hart, es gibt auch elastische Stöße. Deshalb eher Schlag als Stoß.

Der Vollmond scheint und färbt den Himmel schwarz, an Fenstern wachsen Blumen aus Kristall,
(ok, der Mond färbt zwar nicht...aber geht noch)

Wenn der Himmel bewölkt ist, erscheint er bei Vollmond heller. Bei klirrendkaltem unbewölktem Himmel strahlt der Mond und die Pupillen ziehen sich zusammen. Der Himmel scheint in der Nähe des Mondes dunkler zu sein.


man repariert das Himmelszelt mit Harz, die Sterne schleichen langsam durch das All.
(Himmelszelt mit "Harz" reparieren?, zweiter Teil sehr schön!

Mittelalterliches Weltbild, zum Beispiel von Flammarion, der Himmel ist ein Zelt, an dem Sterne befestigt sind. http://www.kerber-net.de/literatur/deutsch/drama/brecht/galilei/welt3.gif


Die Schneekristalle werden langsam grau, denn ewiglich wird hier nicht Winter sein,
(ok)
der Tod treibt Blüten auf der grünen Au, und selbst im Boden stellt sich Wachstum ein.
(Ausblick auf Frühling)
Solange keiner vor der Haustür kehrt, bleibst du - und diese Welt - begehrenswert.
(wer den Wintertag so liebt... ;D)...das Du aus Z1 geht aber in die Conclusio ein!

Das könnte tatsächlich problematisch sein. Aber die Schneekönigin begehrt Kais Welt und umgekehrt. Bis Gerda kommt.


Also wenn das Du aus Z1 eine Person ist, wirds etwas "problematisch" mit den Wertungen zu der Person

Es kann auch ein Bild für die Jahreszeit sein ... oder die Märchenwelt Väterchen Frosts.
 



 
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