Wo bist du nur?

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Piratenbraut

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Ich weiß, dass du manchmal da bist. Ich fühle es.
Ganz oft denke ich, dass du bei mir bist. Manchmal rede ich mit dir. Ich sehe dich neben mir im Auto sitzen wenn ich dich vom Wochenendbesuch zur Klinik zurückgebracht habe.

Du hast immer nach meiner Hand gegriffen. Die Rollen waren vertauscht. Du warst meine Kleine, ich die Große, die dich beschützt und beruhigt hat. Du hast mir blind vertraut, so wie ich dir wenn ich als Kind vor etwas Angst hatte. Jetzt warst du das Kind.

Dein kleines Gesicht, deine federleichten Hände - wie kleine Vögelchen kamen sie mir am Ende vor. Sie lagen ganz leicht in meinen.
Ich sehe dich sehr oft da sitzen, in diesem viel zu großen Krankenhausbett, verloren und schutzbedürftig. Ja das warst du: schutzbedürftig, obwohl es nicht nötig war. Denn dir hätte niemand etwas antun können. Jeder Arzt, jede Schwester, alle haben dich sofort in ihr Herz geschlossen. Ein kleiner Trost bei all den Sorgen. Du warst immer umhegt, hast es verdient. Niemand sonst hätte es mehr verdient.

Wenn ich daran denke, wie du dich immer gefreut hast, mich zu sehen. Es zerreißt mir das Herz. Meistens war ich ja nur für Sekunden aus der Tür um etwas zu holen. Aber das wusstest du nicht mehr. Für dich war es immer wie ein Wiedersehen nach langer Zeit, für mich das wertvollste Geschenk. Wie oft ich dich noch so freudestrahlend erleben würde, konnte mir niemand sagen.

An manchen Tagen hast du mich nicht erkannt. Nichts, als ein trauriger Blick aus leeren Augen. Ich saß als fremder Mensch an deiner Seite.
Bleiern schwer war diese schreckliche Zeit der gemeinsamen Einsamkeit. Als wenn es nicht schon schlimm genug gewesen wäre, dass meine Besuche gleich nach dem Abschied wieder vergessen waren. An diesen Tagen blieb nichts zurück als Leere und unbändiger Schmerz. Dass du deine eigenen Schmerzen so vergessen konntest, wie alles andere auch war das, was mir darüber hinweg half.

Papa schwört, dass du letzte Nacht im Türrahmen gestanden und nach ihm gerufen hast. So deutlich und real, dass es kein Traum gewesen sein kann.
Komisch, dachte ich, als er mir das erzählte. Papa ist kein Mensch für Traumwelten. Er ist bodenständig und glaubt nicht an Hirngespinste.


Aber vermutlich geht es ihm wie mir. Manches will man nicht begreifen.
Und dann wird Unbegreifliches wahr. Weil es ein Trost ist.
 



 
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