Wolfskind

4,00 Stern(e) 2 Bewertungen

lesespass

Mitglied
Wolfskind

Eine Schafherde grast auf einer saftig-grünen Wiese. Still und friedlich ist alles, aber trotzdem hebt das Mutterschaf den Kopf.

“Da ist was im Wald, hört ihr nicht?”

Die anderen Schafe schütteln die wolligen Köpfe – aber das Mutterschaf hat keine Ruhe mehr. Kurzentschlossen macht es sich auf in den dunklen Wald.

“Hallo, ist hier jemand? Antworte mir doch – ich bin´s, Mama!”

Da, psst – hörst du´s nicht? Ein winzig kleines, klägliches Winseln! Diesem Ton eilt das Mutterschaf nach.

Versteckt unter dichtem Gestrüpp findet es endlich ein schmutzig-weißes Bündel. Mama schnuppert. Oh, ein Wolf! Ein weißes Wolfskind! Sie stupst es mit der Nase an und flüstert: “Was ist denn los mit dir?”

“Die Menschen haben meine Eltern umgebracht ... ich bin ganz allein!”, schluchzt es ihr entgegen.

In diesem Augenblick vergisst das gute Mutterschaf, dass Wölfe am allerliebsten Schafe fressen.

“Na, dann komm mal mit, du weißes Wolfskind!”
Ungläubig sieht das weiße Bündel auf. “Meinst du wirklich?”
Und Mama lacht: “Natürlich, du Dummkopf. Jetzt komm schon endlich. Du hast sicher Hunger!”

Schluchzend richtet sich das Wolfskind auf, steht endlich auf vier wackligen Beinen und taumelt hinter dem Mutterschaf aus dem dunklen Wald.

Die Schafherde spritzt erschrocken auseinander. “Ein Wolf! Hilfe – ein Wolf!”
Das Mutterschaf fühlt heißen Zorn in seinem Herzen.

“Ja, ein Wolf. Aber jetzt kommt zurück, ihr Dummköpfe! Könnt ihr denn nicht sehen, dass er noch so klein und schon so allein ist?”

Vorsichtig schleichen die Schafe wieder zusammen. Der alte graue Schafsbock sieht dem Mutterschaf prüfend ins Gesicht.

“Spinnst du, Mama? Das ist ein Wolf! Du kannst doch nicht ... und außerdem hast du doch schon genug eigene Kinder!”

Aber das gute Mutterschaf lässt sich nicht beirren.

“Ihr könnt mir erzählen, was ihr wollt, aber dieses weiße Wolfskind ist jetzt mein Kind!”

Und dabei blieb es.


Ja, und so zog Kain, das schmutzig-weiße Wolfskind, im Schafgehege ein. Zusammen mit Abel und all den anderen Kindern des Mutterschafes wuchs es auf und wurde groß und stark.

Kain liebte sein Mutterschaf und seine Schafgeschwister über alles, obwohl sie sich oft balgten, stritten und für immer trennen wollten. Einen einzigen Bruder gab es jedoch, mit dem konnte Kain niemals böse sein, und das war Abel. Mit ihm spielte er am liebsten.

Eines Tages nun tollten Kain und Abel auf der saftig-grünen Wiese und im dunklen Wald und spielten Fangen und Verstecken.

Aber wo hatte Abel sich jetzt wieder versteckt? Kain schüttelte lachend seinen weißen Kopf.

“Niemand kann sich so gut verstecken wie du! Aber wart´ nur, ich find´ dich schon!”

Und wirklich – im hintersten Winkel des dunklen Waldes hatte sich Abel in einen hohlen Baum gezwängt. Und da stand er nun und hielt grinsend den Atem an.

“Hier kann er mich niemals finden!”, freute er sich.

Abel hatte nicht bedacht, dass es außer seinem Bruder Kain keinen zweiten Wolf gab, der eine so gute Nase hatte. Es dauerte zwar fast eine ganze Stunde, aber dann stand Kain vor dem hohlen Baum und sah Abel ins wollige Gesicht.

“Komm jetzt raus da, ich hab dich gefunden!”

Wolfskind staunte über seinen seltsamen, niemals vorher gehörten Tonfall.

Es flammte etwas auf zwischen den beiden. Wild klopften zwei Herzen.

Und Kain fiel es wie Schuppen von den Augen.

“Himmel, ich bin ein Wolf! Und das da in diesem hohlen Baum – Himmel, ein Schaf ist das! Ein leckeres Schäfchen! – Oh, ich hab ... Hunger!”

Und auch Abel fiel es wie Schuppen von den Augen.

“Himmel, ich bin ein Schaf! Und das da vor mir – Himmel, ein Wolf ist das! Oh, ich hab ... Angst!”

Wolfskind lief das Wasser im Maul zusammen, es fletschte die starken Zähne.

“Komm raus da, du Schäfchen!”, knurrte Kain leise. Seine Augen funkelten wie zwei Feuerlichter im dunklen Wald.

Abel zitterte und bebte in seinem hohlen Baum. “Nein, ich komm nicht raus – Kain, bitte überleg dir das! Ich bin doch dein ... Bruder ...!”

Kain lachte. “Hast du was an den Augen, du leckeres Schäfchen? Ich bin ein Wolf! Ich kann nicht dein Bruder sein.”

Mit der rechten Vorderpfote langte er in den hohlen Baum. Die spitzen Wolfskrallen bohrten sich in Abels Wollfell.

“Du tust mir weh, Bruder!”, rief Abel, aber es war vergebens. Er schrie und schrie – wo war bloß Mama?

Er sah den furchtbaren Wolfsrachen über sich, fühlte den heißen Atem und die scharfen Zähne an seinem Hals.

Ergeben schloss er die Augen und schluchzte nur noch leise: “Mama ...!”

“Kain! ... Abel! ...Wo seid ihr denn schon wieder? Kommt nach Hause, das Essen steht auf dem Tisch!”

Als Kain die Stimme seiner Mutter hörte, fuhr er zurück und sein Wolfsrachen klappte zu. Er schämte sich.

Schweigend liefen sie zurück. Am Gatter endlich konnte Kain seinem Bruder wieder ins wollige Gesicht sehen.

“Es war ein Spiel! Ein Spaß, nur ein kleiner Spaß – verstehst du?”

Abel gab ihm keine Antwort, sah ihm nur ins weiße Gesicht.

Das Mutterschaf wunderte sich sehr über zwei ihrer vielen Kinder. Kain und Abel saßen sonst immer nebeneinander am Tisch. Heute Abend aber saßen sie so weit voneinander entfernt wie es nur möglich war!

Und nur Mutter sah die Blicke, die sie sich zuwarfen – da zuckte ein wilder Schmerz durch ihr Herz, sie konnte nichts mehr essen!

Nachts lag nur Kain noch wach. Durchs Fenster konnte er den goldenen Vollmond sehen ... und plötzlich hörte er sich heulen, schaurig-schön und laut.

Kain fühlte eine sehr bekannte Pfote auf seiner Schulter.

“Kain, mein Sohn!”, flüsterte Mama traurig. Kain sah seiner Mutter in die Augen, und beide dachten dasselbe.

Nach einer schier endlos scheinenden Weile strich das Mutterschaf seinem Wolfskind übers reinweiße Fell.

“Du musst gehen, mein Kind. Steh auf. Geh jetzt – bitte, geh.”

Wolfskind sah ihrer Mutter durch einen dichten Tränenschleier in die Augen. Wortlos schüttelte er den Kopf und jetzt schossen auch dem guten Mutterschaf die Tränen in die Augen.

“Nein, Wölfchen, nein. Du kannst nicht länger bei uns bleiben. – Sieh, wir alle hier, wir sind Schafe – und du, mein Kleiner, du bist ... ein Wolf. Ein grosser, starker Wolf bist du.”

Kain sprang auf. Mit heißem Zorn in der Stimme rief er: “Wie kommst du denn dazu, mich ´Wölfchen´ zu nennen? Hast du was an den Augen? Sieh mich doch an! Ich bin Kain ... weißt du nicht mehr? Ich bin Kain, dein Sohn – und ein Schaf bin ich!”

Kopfschüttelnd richtete sich das Mutterschaf auf, ging aus dem Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich.

In jener Nacht schlief Kain nicht ein.


Von nun an hielt sich Kain von Abel fern, obwohl der ihm wohl längst schon verziehen hatte.

“Sag mir, mein Bruder ... wann spielen wir mal wieder miteinander?”, fragte Abel ihn sogar eines Tages.

Kain schluckte schwer. Er konnte seinem Bruder nicht ins Gesicht sehen, als er antwortete: “Ich weiß es nicht, Abel. Ich weiß es wirklich nicht.”

Und da fühlte er die Pfote seines geliebten Bruders auf der Schulter. Kurz musste er die Augen schließen. Dann aber fuhr er herum, fühlte seine Augen gelb funkeln und knurrte böse: “Fass mich niemals wieder an, du – du ... Schaf, du!”

Und Kain rannte, rannte, rannte, bis ihm der Atem weg blieb. Erschöpft ließ er sich fallen, wo er gerade stand. Den ganzen Tag ließ er sich nicht mehr sehen.

Es dämmerte, als er seine Mutter rufen höre: “Kain, wo bist du denn schon wieder? Komm nach Hause, mein Sohn!”
Kain sprang auf, lief einige Schritte auf das Schafgehege zu ... und blieb dann stehen.
“Was ruft Mama da? Hat sie denn was an den Augen? Ich bin doch ... ja, ein Wolf bin ich! Ein großer, starker Wolf!”

Spätnachts, als alle schon tief schliefen, schlich sich ein großer weißer Wolf ins Gehege. An Abels Bett blieb er stehen und sah ihn sehr lange an. Im Bett daneben schlief Mutter.

“Nein, nein! Ein Schaf bin ich. Ja, ich weiß es ganz genau. Ich bin ein Schaf.”
Aber noch lange, lange lag Kain wach und starrte durch tausend Tränen in die Dunkelheit.

In dieser Zeit konnte man einen weißen Wolf sehen, der auf der Wiese stand und verzweifelt saftiges Gras rupfte, wie es die Schafe tun. Aber unbenennbarer Ekel schüttelte ihn.

“Pfui, wie können die bloß sowas Grausiges fressen? Verdammt – ich hab Hunger! Ist hier denn nicht mal das kleinste Stückchen Fleisch?”

In diesem Augenblick sprang Abel vorbei. Kain setzte an zum Sprung ... in die andere Richtung.

Er lockte Würmer aus dem Grasboden, wie´s die Vögel tun ... er hetzte Vögeln nach, wie´s die Katzen tun ... und er hetzte auch Katzen nach, wie´s die Hunde tun.

Einer seiner kleineren Brüder sah ihm lachend zu und fing einen strafenden Blick von der Mutter auf. Beschämt senkte er die Augen.

“Nein, ich weiß – das war jetzt sehr dumm von mir. Zum Lachen ist das nicht, ganz bestimmt nicht.”

Abends nahm das Mutterschaf Kain beiseite.

“Ich ertrage es nicht mehr länger zu sehen, wie du dich zum Narren machst. Du musst gehen, Wölfchen. Heute. Jetzt.”

Und sie machte ihm die Tür auf.

Kain schüttelte den Kopf.

“Ich bleibe, Mutter. – Ich bleibe.”

Aber auch das Mutterschaf schüttelte den Kopf und schob seinen Sohn mit Tränen in den Augen hinaus in die dunkle Nacht.

Kain taumelte zum Waldrand. Dort drehte er sich noch einmal um und sah zurück. Das Gehege lag still im Nebel der Nacht.

Vom Himmel lachte ihm der goldene Vollmond ins Gesicht – und das machte Kain so wütend, so unbenennbar zornig, dass er wohl Stunden stand und dieses dumme Ding da oben mit geschlossenen Augen anheulte – so schaurig-schön und laut.

Schliesslich wandte er sich dem Wald zu, der nun sein Zuhause war.

Tage- und nächtelang irrte Kain einsam durch den unbekannten Wald. Ihn fror, und voller Traurigkeit im Herzen dachte er an das warme Gehege zurück, dem er niemals wieder nahe kommen durfte.


Eines Nachts nun, als wieder der Vollmond am Himmel stand, hörte er noch sehr weit entfernt einen sehr bekannten Ton, so schaurig-schön und laut.

Dieser eine Ton fuhr wie ein Blitz in sein Herz und rief ihm zu: “Komm!”

Kain glaubte nicht, was er da sah: Da stand auf einer Anhöhe im Mondlicht – eine weiße Wölfin!

Sie war´s deren Heulen ihn gerufen hatte.

Und nun heulte auch der weiße Wolf: “Hier bin ich!”

Die beiden schlugen die Augen auf und sahen sich an. Nach einer schier endlos langen Weile verschwanden sie gemeinsam in der Dunkelheit.

Über´s Jahr bekam bekam die weisse Wölfin drei kleine weiße Kinder. Und eines Sonntags spazierte die Wolfsfamilie bis an den Rand des Waldes.

Dort drüben auf der Wiese graste eine Schafherde.

Ein altes Mutterschaf hob witternd den Kopf.

“Kain, mein Wölfchen!”, dachte sie wehmütig und sah das saftig-grüne Gras zu ihren Füßen wie durch einen dichten Nebelschleier.

Drüben am Waldrand stand die weiße Familie. Mutter Wolf fühlte Wasser in ihrem Maul zusammen laufen. Mit heiserer Stimme raunte sie ihren drei Kindern zu: “Seht mal, da auf der Wiese! Da sind leckere Schäfchen!”

Kain erschrak. Hatte er sich verhört? Was sagte sie da eben? Und wie versteinert musste er mitanhören, wie seine über alles geliebte weiße Wölfin den gemeinsamen Kindern erklärte, wie ein Wolf es anstellen musste, um ein Schaf zwischen die Pfoten zu bekommen!

Ein unbenennbares Etwas fuhr in Kains Herz, und er hörte sich rufen: “Nein! Wir fressen diese Schafe nicht!”

Seine Wölfin lachte. “Papa macht schon wieder Quatsch!”, und sie wandte sich zu ihm: “Ich weiss, du willst uns zum Lachen bringen. Aber jetzt sei wieder ernst, damit ich den Kleinen etwas beibringen kann!”

Kain kniff die Augen zu schmalen, gelb-funkelnden Schlitzen zusammen.

“Ja, jetzt sag mir mal – hast du was an den Ohren? Ich sagte dir: Wir fressen diese Schafe nicht!”

Nun lachte auch die Wölfin nicht mehr. Prüfend sah sie ihrem Wolf ins wutverzerrte Gesicht.

“Würdest du mir vielleicht bitte mal erklären, warum wir Wölfe plötzlich keine Schafe mehr fressen?”

Kain heulte schaurig auf und hörte sich mit einer nie gehörten Stimme brüllen: “Hör mir zu, du Frau! Unter diesen Schafen da drüben ist meine Mutter! Verstehst du ... meine Mama!”

Die weiße Wölfin schüttelte ungläubig den Kopf.

“Nein!”, flüsterte sie tonlos.

Und Kain brüllte zurück: “Doch! Und wenn du´s nicht ins Hirn kriegen kannst, dann erst recht!”

Nach langem Schweigen flüsterte die Wölfin mit einer fremden Stimme: “Kain, du bist der größte und stärkste Wolf des ganzen Waldes! Mein Kain, du – bitte überleg dir das noch einmal!”

Kain schüttelte den Kopf.

“Da gibt´s nichts zu überlegen, du Frau. Da drüben unter dieser Schafherde – da grast meine Mutter.”

Ohne ein weiteres Wort bedachte die weiße Wölfin Kain mit dem letzten ihrer unbeschreiblichen Blicke. Dann, nach einer Weile, wandte sie sich um und ging in den Wald zurück. Die drei Wolfskinder sahen ihr eine Zeitlang wehmütig nach, blieben jedoch an der Seite des Vaters stehen.

Ein Ruf flog über die Wiese – und hinter diesem Ruf flog – Kain mit seinen Kindern.

“Mein Wölfchen!”, flüsterte Mutter tränenerstickt.

“Kain – mein Bruder!”, war da noch eine andere, so lange nicht mehr gehörte Stimme.

“Ich bleibe, Mutter ... ich bleibe, Abel”, hörte Kain sich fest entschlossen sagen.

Und wieder schüttelte das alte Mutterschaf den wolligen Kopf.

“Schau mal, Kain – deine Kinder! Ihre Mutter wird ihnen fehlen. Du darfst deine Wölfin nicht gehen lassen. Sieh”, und Mutter wies zum Waldrand hinüber, “Kannst du ihr weisses Fell durch die Bäume blitzen sehen? Sie steht da im dunklen Wald und wartet auf dich. Lauf, mein Wölfchen – lauf.”

Kain schüttelte den Kopf.

“Ich bleibe, Mutter. Ich bin kein Schaf – nein, ganz gewiss nicht. Ich bin der stärkste Wolf des Waldes. Aber Schafe kann ich nicht fressen ... das ist völlig unmöglich.”

Ja, und dabei blieb es.


Wenn du eines Tages vier weiße Wölfe inmitten einer Schafherde sehen solltest, dann geh hin und sprich mit ihnen. Kain wird sich freuen zu hören, dass ich seine Geschichte weiter erzählt habe.
 

lesespass

Mitglied
Eine Schafherde grast auf einer saftig-grünen Wiese. Still und friedlich ist alles, aber trotzdem hebt das Mutterschaf den Kopf.

“Da ist was im Wald, hört ihr nicht?”

Die anderen Schafe schütteln die wolligen Köpfe – aber das Mutterschaf hat keine Ruhe mehr. Kurzentschlossen macht es sich auf in den dunklen Wald.

“Hallo, ist hier jemand? Antworte mir doch – ich bin´s, Mama!”

Da, psst – hörst du´s nicht? Ein winzig kleines, klägliches Winseln! Diesem Ton eilt das Mutterschaf nach.

Versteckt unter dichtem Gestrüpp findet es endlich ein schmutzig-weißes Bündel. Mama schnuppert. Oh, ein Wolf! Ein weißes Wolfskind! Sie stupst es mit der Nase an und flüstert: “Was ist denn los mit dir?”

“Die Menschen haben meine Eltern umgebracht ... ich bin ganz allein!”, schluchzt es ihr entgegen.

In diesem Augenblick vergisst das gute Mutterschaf, dass Wölfe am allerliebsten Schafe fressen.

“Na, dann komm mal mit, du weißes Wolfskind!”
Ungläubig sieht das weiße Bündel auf. “Meinst du wirklich?”
Und Mama lacht: “Natürlich, du Dummkopf. Jetzt komm schon endlich. Du hast sicher Hunger!”

Schluchzend richtet sich das Wolfskind auf, steht endlich auf vier wackligen Beinen und taumelt hinter dem Mutterschaf aus dem dunklen Wald.

Die Schafherde spritzt erschrocken auseinander. “Ein Wolf! Hilfe – ein Wolf!”
Das Mutterschaf fühlt heißen Zorn in seinem Herzen.

“Ja, ein Wolf. Aber jetzt kommt zurück, ihr Dummköpfe! Könnt ihr denn nicht sehen, dass er noch so klein und schon so allein ist?”

Vorsichtig schleichen die Schafe wieder zusammen. Der alte graue Schafsbock sieht dem Mutterschaf prüfend ins Gesicht.

“Spinnst du, Mama? Das ist ein Wolf! Du kannst doch nicht ... und außerdem hast du doch schon genug eigene Kinder!”

Aber das gute Mutterschaf lässt sich nicht beirren.

“Ihr könnt mir erzählen, was ihr wollt, aber dieses weiße Wolfskind ist jetzt mein Kind!”

Und dabei blieb es.


Ja, und so zog Kain, das schmutzig-weiße Wolfskind, im Schafgehege ein. Zusammen mit Abel und all den anderen Kindern des Mutterschafes wuchs es auf und wurde groß und stark.

Kain liebte sein Mutterschaf und seine Schafgeschwister über alles, obwohl sie sich oft balgten, stritten und für immer trennen wollten. Einen einzigen Bruder gab es jedoch, mit dem konnte Kain niemals böse sein, und das war Abel. Mit ihm spielte er am liebsten.

Eines Tages nun tollten Kain und Abel auf der saftig-grünen Wiese und im dunklen Wald und spielten Fangen und Verstecken.

Aber wo hatte Abel sich jetzt wieder versteckt? Kain schüttelte lachend seinen weißen Kopf.

“Niemand kann sich so gut verstecken wie du! Aber wart´ nur, ich find´ dich schon!”

Und wirklich – im hintersten Winkel des dunklen Waldes hatte sich Abel in einen hohlen Baum gezwängt. Und da stand er nun und hielt grinsend den Atem an.

“Hier kann er mich niemals finden!”, freute er sich.

Abel hatte nicht bedacht, dass es außer seinem Bruder Kain keinen zweiten Wolf gab, der eine so gute Nase hatte. Es dauerte zwar fast eine ganze Stunde, aber dann stand Kain vor dem hohlen Baum und sah Abel ins wollige Gesicht.

“Komm jetzt raus da, ich hab dich gefunden!”

Wolfskind staunte über seinen seltsamen, niemals vorher gehörten Tonfall.

Es flammte etwas auf zwischen den beiden. Wild klopften zwei Herzen.

Und Kain fiel es wie Schuppen von den Augen.

“Himmel, ich bin ein Wolf! Und das da in diesem hohlen Baum – Himmel, ein Schaf ist das! Ein leckeres Schäfchen! – Oh, ich hab ... Hunger!”

Und auch Abel fiel es wie Schuppen von den Augen.

“Himmel, ich bin ein Schaf! Und das da vor mir – Himmel, ein Wolf ist das! Oh, ich hab ... Angst!”

Wolfskind lief das Wasser im Maul zusammen, es fletschte die starken Zähne.

“Komm raus da, du Schäfchen!”, knurrte Kain leise. Seine Augen funkelten wie zwei Feuerlichter im dunklen Wald.

Abel zitterte und bebte in seinem hohlen Baum. “Nein, ich komm nicht raus – Kain, bitte überleg dir das! Ich bin doch dein ... Bruder ...!”

Kain lachte. “Hast du was an den Augen, du leckeres Schäfchen? Ich bin ein Wolf! Ich kann nicht dein Bruder sein.”

Mit der rechten Vorderpfote langte er in den hohlen Baum. Die spitzen Wolfskrallen bohrten sich in Abels Wollfell.

“Du tust mir weh, Bruder!”, rief Abel, aber es war vergebens. Er schrie und schrie – wo war bloß Mama?

Er sah den furchtbaren Wolfsrachen über sich, fühlte den heißen Atem und die scharfen Zähne an seinem Hals.

Ergeben schloss er die Augen und schluchzte nur noch leise: “Mama ...!”

“Kain! ... Abel! ...Wo seid ihr denn schon wieder? Kommt nach Hause, das Essen steht auf dem Tisch!”

Als Kain die Stimme seiner Mutter hörte, fuhr er zurück und sein Wolfsrachen klappte zu. Er schämte sich.

Schweigend liefen sie zurück. Am Gatter endlich konnte Kain seinem Bruder wieder ins wollige Gesicht sehen.

“Es war ein Spiel! Ein Spaß, nur ein kleiner Spaß – verstehst du?”

Abel gab ihm keine Antwort, sah ihm nur ins weiße Gesicht.

Das Mutterschaf wunderte sich sehr über zwei ihrer vielen Kinder. Kain und Abel saßen sonst immer nebeneinander am Tisch. Heute Abend aber saßen sie so weit voneinander entfernt wie es nur möglich war!

Und nur Mutter sah die Blicke, die sie sich zuwarfen – da zuckte ein wilder Schmerz durch ihr Herz, sie konnte nichts mehr essen!

Nachts lag nur Kain noch wach. Durchs Fenster konnte er den goldenen Vollmond sehen ... und plötzlich hörte er sich heulen, schaurig-schön und laut.

Kain fühlte eine sehr bekannte Pfote auf seiner Schulter.

“Kain, mein Sohn!”, flüsterte Mama traurig. Kain sah seiner Mutter in die Augen, und beide dachten dasselbe.

Nach einer schier endlos scheinenden Weile strich das Mutterschaf seinem Wolfskind übers reinweiße Fell.

“Du musst gehen, mein Kind. Steh auf. Geh jetzt – bitte, geh.”

Wolfskind sah ihrer Mutter durch einen dichten Tränenschleier in die Augen. Wortlos schüttelte er den Kopf und jetzt schossen auch dem guten Mutterschaf die Tränen in die Augen.

“Nein, Wölfchen, nein. Du kannst nicht länger bei uns bleiben. – Sieh, wir alle hier, wir sind Schafe – und du, mein Kleiner, du bist ... ein Wolf. Ein grosser, starker Wolf bist du.”

Kain sprang auf. Mit heißem Zorn in der Stimme rief er: “Wie kommst du denn dazu, mich ´Wölfchen´ zu nennen? Hast du was an den Augen? Sieh mich doch an! Ich bin Kain ... weißt du nicht mehr? Ich bin Kain, dein Sohn – und ein Schaf bin ich!”

Kopfschüttelnd richtete sich das Mutterschaf auf, ging aus dem Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich.

In jener Nacht schlief Kain nicht ein.


Von nun an hielt sich Kain von Abel fern, obwohl der ihm wohl längst schon verziehen hatte.

“Sag mir, mein Bruder ... wann spielen wir mal wieder miteinander?”, fragte Abel ihn sogar eines Tages.

Kain schluckte schwer. Er konnte seinem Bruder nicht ins Gesicht sehen, als er antwortete: “Ich weiß es nicht, Abel. Ich weiß es wirklich nicht.”

Und da fühlte er die Pfote seines geliebten Bruders auf der Schulter. Kurz musste er die Augen schließen. Dann aber fuhr er herum, fühlte seine Augen gelb funkeln und knurrte böse: “Fass mich niemals wieder an, du – du ... Schaf, du!”

Und Kain rannte, rannte, rannte, bis ihm der Atem weg blieb. Erschöpft ließ er sich fallen, wo er gerade stand. Den ganzen Tag ließ er sich nicht mehr sehen.

Es dämmerte, als er seine Mutter rufen höre: “Kain, wo bist du denn schon wieder? Komm nach Hause, mein Sohn!”
Kain sprang auf, lief einige Schritte auf das Schafgehege zu ... und blieb dann stehen.
“Was ruft Mama da? Hat sie denn was an den Augen? Ich bin doch ... ja, ein Wolf bin ich! Ein großer, starker Wolf!”

Spätnachts, als alle schon tief schliefen, schlich sich ein großer weißer Wolf ins Gehege. An Abels Bett blieb er stehen und sah ihn sehr lange an. Im Bett daneben schlief Mutter.

“Nein, nein! Ein Schaf bin ich. Ja, ich weiß es ganz genau. Ich bin ein Schaf.”
Aber noch lange, lange lag Kain wach und starrte durch tausend Tränen in die Dunkelheit.

In dieser Zeit konnte man einen weißen Wolf sehen, der auf der Wiese stand und verzweifelt saftiges Gras rupfte, wie es die Schafe tun. Aber unbenennbarer Ekel schüttelte ihn.

“Pfui, wie können die bloß sowas Grausiges fressen? Verdammt – ich hab Hunger! Ist hier denn nicht mal das kleinste Stückchen Fleisch?”

In diesem Augenblick sprang Abel vorbei. Kain setzte an zum Sprung ... in die andere Richtung.

Er lockte Würmer aus dem Grasboden, wie´s die Vögel tun ... er hetzte Vögeln nach, wie´s die Katzen tun ... und er hetzte auch Katzen nach, wie´s die Hunde tun.

Einer seiner kleineren Brüder sah ihm lachend zu und fing einen strafenden Blick von der Mutter auf. Beschämt senkte er die Augen.

“Nein, ich weiß – das war jetzt sehr dumm von mir. Zum Lachen ist das nicht, ganz bestimmt nicht.”

Abends nahm das Mutterschaf Kain beiseite.

“Ich ertrage es nicht mehr länger zu sehen, wie du dich zum Narren machst. Du musst gehen, Wölfchen. Heute. Jetzt.”

Und sie machte ihm die Tür auf.

Kain schüttelte den Kopf.

“Ich bleibe, Mutter. – Ich bleibe.”

Aber auch das Mutterschaf schüttelte den Kopf und schob seinen Sohn mit Tränen in den Augen hinaus in die dunkle Nacht.

Kain taumelte zum Waldrand. Dort drehte er sich noch einmal um und sah zurück. Das Gehege lag still im Nebel der Nacht.

Vom Himmel lachte ihm der goldene Vollmond ins Gesicht – und das machte Kain so wütend, so unbenennbar zornig, dass er wohl Stunden stand und dieses dumme Ding da oben mit geschlossenen Augen anheulte – so schaurig-schön und laut.

Schliesslich wandte er sich dem Wald zu, der nun sein Zuhause war.

Tage- und nächtelang irrte Kain einsam durch den unbekannten Wald. Ihn fror, und voller Traurigkeit im Herzen dachte er an das warme Gehege zurück, dem er niemals wieder nahe kommen durfte.


Eines Nachts nun, als wieder der Vollmond am Himmel stand, hörte er noch sehr weit entfernt einen sehr bekannten Ton, so schaurig-schön und laut.

Dieser eine Ton fuhr wie ein Blitz in sein Herz und rief ihm zu: “Komm!”

Kain glaubte nicht, was er da sah: Da stand auf einer Anhöhe im Mondlicht – eine weiße Wölfin!

Sie war´s deren Heulen ihn gerufen hatte.

Und nun heulte auch der weiße Wolf: “Hier bin ich!”

Die beiden schlugen die Augen auf und sahen sich an. Nach einer schier endlos langen Weile verschwanden sie gemeinsam in der Dunkelheit.

Über´s Jahr bekam bekam die weisse Wölfin drei kleine weiße Kinder. Und eines Sonntags spazierte die Wolfsfamilie bis an den Rand des Waldes.

Dort drüben auf der Wiese graste eine Schafherde.

Ein altes Mutterschaf hob witternd den Kopf.

“Kain, mein Wölfchen!”, dachte sie wehmütig und sah das saftig-grüne Gras zu ihren Füßen wie durch einen dichten Nebelschleier.

Drüben am Waldrand stand die weiße Familie. Mutter Wolf fühlte Wasser in ihrem Maul zusammen laufen. Mit heiserer Stimme raunte sie ihren drei Kindern zu: “Seht mal, da auf der Wiese! Da sind leckere Schäfchen!”

Kain erschrak. Hatte er sich verhört? Was sagte sie da eben? Und wie versteinert musste er mitanhören, wie seine über alles geliebte weiße Wölfin den gemeinsamen Kindern erklärte, wie ein Wolf es anstellen musste, um ein Schaf zwischen die Pfoten zu bekommen!

Ein unbenennbares Etwas fuhr in Kains Herz, und er hörte sich rufen: “Nein! Wir fressen diese Schafe nicht!”

Seine Wölfin lachte. “Papa macht schon wieder Quatsch!”, und sie wandte sich zu ihm: “Ich weiss, du willst uns zum Lachen bringen. Aber jetzt sei wieder ernst, damit ich den Kleinen etwas beibringen kann!”

Kain kniff die Augen zu schmalen, gelb-funkelnden Schlitzen zusammen.

“Ja, jetzt sag mir mal – hast du was an den Ohren? Ich sagte dir: Wir fressen diese Schafe nicht!”

Nun lachte auch die Wölfin nicht mehr. Prüfend sah sie ihrem Wolf ins wutverzerrte Gesicht.

“Würdest du mir vielleicht bitte mal erklären, warum wir Wölfe plötzlich keine Schafe mehr fressen?”

Kain heulte schaurig auf und hörte sich mit einer nie gehörten Stimme brüllen: “Hör mir zu, du Frau! Unter diesen Schafen da drüben ist meine Mutter! Verstehst du ... meine Mama!”

Die weiße Wölfin schüttelte ungläubig den Kopf.

“Nein!”, flüsterte sie tonlos.

Und Kain brüllte zurück: “Doch! Und wenn du´s nicht ins Hirn kriegen kannst, dann erst recht!”

Nach langem Schweigen flüsterte die Wölfin mit einer fremden Stimme: “Kain, du bist der größte und stärkste Wolf des ganzen Waldes! Mein Kain, du – bitte überleg dir das noch einmal!”

Kain schüttelte den Kopf.

“Da gibt´s nichts zu überlegen, du Frau. Da drüben unter dieser Schafherde – da grast meine Mutter.”

Ohne ein weiteres Wort bedachte die weiße Wölfin Kain mit dem letzten ihrer unbeschreiblichen Blicke. Dann, nach einer Weile, wandte sie sich um und ging in den Wald zurück. Die drei Wolfskinder sahen ihr eine Zeitlang wehmütig nach, blieben jedoch an der Seite des Vaters stehen.

Ein Ruf flog über die Wiese – und hinter diesem Ruf flog – Kain mit seinen Kindern.

“Mein Wölfchen!”, flüsterte Mutter tränenerstickt.

“Kain – mein Bruder!”, war da noch eine andere, so lange nicht mehr gehörte Stimme.

“Ich bleibe, Mutter ... ich bleibe, Abel”, hörte Kain sich fest entschlossen sagen.

Und wieder schüttelte das alte Mutterschaf den wolligen Kopf.

“Schau mal, Kain – deine Kinder! Ihre Mutter wird ihnen fehlen. Du darfst deine Wölfin nicht gehen lassen. Sieh”, und Mutter wies zum Waldrand hinüber, “Kannst du ihr weisses Fell durch die Bäume blitzen sehen? Sie steht da im dunklen Wald und wartet auf dich. Lauf, mein Wölfchen – lauf.”

Kain schüttelte den Kopf.

“Ich bleibe, Mutter. Ich bin kein Schaf – nein, ganz gewiss nicht. Ich bin der stärkste Wolf des Waldes. Aber Schafe kann ich nicht fressen ... das ist völlig unmöglich.”

Ja, und dabei blieb es.


Wenn du eines Tages vier weiße Wölfe inmitten einer Schafherde sehen solltest, dann geh hin und sprich mit ihnen. Kain wird sich freuen zu hören, dass ich seine Geschichte weiter erzählt habe.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
zu

erst einmal herzlich willkommen auf der lupe. ich wünsche dir viel vergnügen beim lesen, kommentieren und bewerten.
deine geschichte finde ich zum heulen schön, bitte mehr davon!
lg
 

sportgolf

Mitglied
Hallo Lesespass,
das ist eine sehr schöne Kindergeschichte, die du da erzählt hast.Freue mich schon auf die nächsten Geschichten.
liebe Grüße
sportgolf
 



 
Oben Unten