Wunnibald Webs wunderbare Welt (3. Kapitel)

Mireochs

Mitglied
3. Kapitel

Warum Wunnibald zum Wichtel wurde

Am nächsten Tag machten sich Lenz und Lea nach der Schule gleich auf den Weg zu Wunnibald. Zum Glück hatten sie heute nur wenig Hausaufgaben auf. Wunnibald saß, wie verabredet, vor dem Wunnibald-Web-Land am großen Tor. „Hey, da seid ihr ja endlich. Ich hab‘ mir den Popo fast wundgesessen, solange warte ich schon auf euch. Ich dachte, ihr hättet den guten, alten Wunni vergessen“, empfing der Gnom seine beiden neuen Freunde. An seiner Seite saß diesmal Sabber. Er sah fast so aus wie Idefix, der kleine Hund von Obelix. Im Unterschied zu diesem hatte er jedoch einen riesigen dünnen Schwanz. Der war mindestens dreimal so lang wie der Hund selbst.

„Ach, was denkst du denn?! Wir sind so schnell es geht gekommen. Aber Hausaufgaben müssen halt leider erst gemacht werden. Sonst ist Mama sauer“, antwortete Lea, nachdem sie sich von Sabber hatte abschlecken lassen.

„Na, dann kommt rein. Ich habe auch eine kleine Überraschung für euch.“

Wunnibald öffnete das große Tor. Über den Eingang war ein riesiges Transparent gespannt. Lea las laut vor, was darauf stand: „Herzlich willkommen, meine neuen Freunde!“ Direkt neben dem Tor standen zwei Mini-Formel-1-Wagen. Sie hatten genau die richtige Größe für Kinder. „Die beiden Autos sind für euch“, sagte Wunnibald. „Immer, wenn ihr mich besuchen kommt, könnt ihr damit kreuz und quer durch mein Wunnibald-Web-Land brausen.“

„Ist das wirklich wahr?“ Lenz konnte gar nicht glauben, was er da gerade aus dem Mund von Wunnibald gehört hatte. „Das ist ja wie im Märchen“, stammelte er schließlich – und rannte zu einem der beiden Flitzer hin. Flugs war er hineingeklettert und hatte den Motor angelassen. Dann fuhr er strahlend eine Runde. Lea folgte ihm. Als sie wenige Augenblicke später wieder vor Wunnibald stoppten, machten sie immer noch ein Gesicht, als sei für sie heute Weihnachten und Ostern gleichzeitig. Sie umarmten Wunnibald derart stürmisch, dass ihm die Nickelbrille von der Nase rutschte. „Danke, lieber Wunni. Vielen Dank.“

„Meine Güte, seid ihr stürmisch.“ Wunnibald versuchte, sich sanft aus der liebevollen Umklammerung der Geschwister zu befreien. Er sah ziemlich zerzaust aus. Die Schiffermütze war ins Gesicht gerutscht, und sein schneeweißer Bart hing zottelig über der schmalen Brust.

„So hat mich schon lange keiner mehr geherzt. Ich bin richtig glücklich, dass ihr euch so freut. Aber jetzt wird’s Zeit, dass ich euch ein bisschen was über mich und mein Land erzähle.“ Und schluppdiwupp kletterte Wunnibald an Leas Bein hoch. Ehe sie sich versah, saß der kleine Mann bereits auf ihrer Schulter. „Lass uns da vorne zum Kakao-See fahren. Dort stehen Tische und Bänke. Da können wir es uns gemütlich machen.“ Gemeinsam fuhren sie in den kleinen Rennwagen zum Kakao-See. Einer der Tische am Ufer war gedeckt mit lauter Köstlichkeiten für Kindergaumen: Es gab alle möglichen Kuchensorten, Kekse, Waffeln mit Erdbeersoße, Pommes Frites, klitzekleine Partywürstchen. Und natürlich Kakao, soviel man sich nur denken konnte.

„Jetzt, liebe Lea und lieber Lenz, möchte ich euch ein Geheimnis anvertrauen. Ihr müsst mir versprechen, niemanden etwas davon zu erzählen. Auch nicht euren Eltern und euren Lehrern. Kein Erwachsener auf der Erde darf jemals vom Wunnibald-Web-Land erfahren. Versprecht ihr mir das?“

„Klaro, Wunnibald. Ist doch Indianerehrensache“, antwortete Lenz.

„Na logo, Wunnibald, kein Sterbenswörtchen wird ausgeplaudert“, versprach Lea. Und Wunnibald begann zu erzählen.

„Wisst ihr, vor sehr langer Zeit habe ich selber einmal auf der Erde gewohnt. Ich war ein ganz normales Kind. So wie ihr. Unser Haus stand nicht weit von eurem, Lenz und Lea. Wir wohnten direkt gegenüber der Zuckerfabrik. Es war das Jahr 1943. Eine furchtbare Zeit. Im Schulunterricht habt ihr sicher davon gehört. Ein schrecklicher Krieg tobte in vielen Ländern der Erde. Die Menschen haben zu dieser Zeit furchtbare Sachen gemacht. Nur weil ein paar durchgeknallte Politiker ihnen das befohlen haben. Der schlimmste von ihnen war Adolf Hitler. Er hat den ganzen zerstörerischen Wahnsinn angefangen. Wollte mit Gewalt von Deutschland aus die ganze Welt erobern. Überall wo seine Soldaten auftauchten, hinterließen sie Leid und Elend. Millionen von Menschen fanden den Tod. Sechs Jahre dauerte es, ehe der Albtraum endlich zu Ende war. Ich war damals gerade acht Jahre alt. Mein Papa musste ebenfalls in den Krieg, obwohl er das gar nicht wollte. Er ist nie wieder heimgekommen. Papa starb in Stalingrad. Meine Mama und ich waren natürlich unendlich traurig darüber. Wir konnten nicht verstehen, wie Menschen zu solch schrecklichen Taten fähig sein können. Deshalb wünschte ich mir sehnlichst, dass ich auf dieser fürchterlichen Erde nicht mehr länger leben muss. Eines nachts hatte ich dann einen Traum. Mir erschien eine Fee. Sie hieß Felicitas. Sie sagte mir, dass ich einen Wunsch frei hätte. „Mach’ doch bitte, dass der Krieg endlich vorbei ist“, bettelte ich unter Tränen. Doch diesen Wunsch konnte Felicitas mir nicht erfüllen. Sie sagte, es müsse ein Wunsch sein, der nur alleine mich betrifft. Da habe ich ihr gesagt: Na gut, wenn das so ist, dann möchte ich ab sofort aus Protest gegen alle schlechten Menschen auf der Welt ein ganz kleiner Wicht sein. Und zwar so lange, bis die Erdenbewohner sich wieder vertragen. Als ich am nächsten Tag aufwachte, dachte ich zunächst, ich würde immer noch träumen. Denn ich war tatsächlich ein Wichtel und lag in einem Zimmer, dass ich nicht kannte. Total verwirrt bin ich aufgestanden und zum Fenster gelaufen. Da bemerkte ich, dass ich an einem Ort war, den ich nie zuvor gesehen hatte. Auf der Fensterbank lag ein Briefumschlag. Darin befand sich eine Karte, auf der mit Hand geschrieben stand:



Lieber Wunnibald,

wie du sicher bemerkt hast, habe ich dir Deinen Wunsch erfüllt. Du bist jetzt ein Wichtel. Bestimmt fragst du dich, wo du bist. Keine Panik. Alles ist in bester Ordnung. Du wirst fortan in einem Land unter der Erde leben, das ich nur für dich geschaffen habe. Es liegt direkt unter dem Main, etwa auf der Höhe der Zuckerfabrik, und trägt Deinen Namen: Wunnibald-Web-Land. Es ist hier unten wie im Schlaraffenland. Es wird dir an nichts fehlen. Das Wunnibald-Web-Land hat nur einen Nachteil: Du lebst hier ganz alleine mit deinem Hund Sabber. Es ist auch nicht damit zu rechnen, dass je ein Lebewesen zu dir vordringt. Denn Erwachsene haben keinen Zutritt. Nur Kinder und Tiere. Da jedoch niemand etwas vom Wunnibald-Web-Land weiß, ist es sehr unwahrscheinlich, dass jemals ein kindliches Wesen oder ein Tier hier auftauchen werden. Richte dich also auf ein sehr einsames Leben ein.
Wenn du auf Deinen Hals schaust, wirst du dort ein schwarzes Metallstück entdecken. Das ist ein Zauberstab. Er erfüllt dir hier unten jeden Wunsch, der nichts mit der Erde und ihren Bewohnern zu tun hat. Solltest du tatsächlich eines Tages wieder auf der Erde leben wollen, kannst du dich damit in einen Menschen zurückverwandeln. Mit einer Einschränkung: Für Erwachsene wirst du allzeit unsichtbar sein. Nur Kinder und Tiere werden dich sehen können. Und noch eins: Du hast dank des Zauberstabs auf der Erde zehn Wünsche frei. Sie wirken jedoch nur bei Menschen, die ein gutes Herz haben. Wenn die Wünsche verbraucht sind, musst du für den Rest deines Lebens zurück ins Wunnibald-Web-Land. Ich wünsche dir alles Gute, lieber Wunnibald.

Deine Fee Felicitas



So bin ich hier gelandet und habe es nie bereut. Das Leben im Wunnibald-Web-Land ist angenehm. Niemand tut etwas Böses, weil es außer mir und Sabber keine Bewohner gibt. Es ist sozusagen das friedlichste Land unter Gottes Firmament.“

„Aber ist es denn nicht furchtbar langweilig so alleine und nur mit einem Hund als Begleiter?“ unterbrach Lenz den Redefluss von Wunnibald.

„Na ja, manchmal schon“, gestand Wunnibald. „Aber ich habe mich daran gewöhnt. Es ist besser einsam zu sein, als unter hasserfüllten Menschen leben zu müssen. Trotzdem bin ich überglücklich, dass ihr bei mir seid. Ihr seid die ersten Menschenkinder, die den Weg zu mir gefunden haben. Ich glaube, ich könnte mich sehr schnell daran gewöhnen, wieder Kontakt mit jemanden zu haben.“

„Aber warum kehrst du dann nicht auf die Erde zurück“, wunderte sich Lea.

Wunnibald schaute nachdenklich den Kindern in die Augen. „Nun ja, ich bin jetzt 70 Jahre alt. Seit 62 Jahren warte ich darauf, dass die Menschen endlich aufhören, Kriege zu führen und sich gegenseitig Böses zu tun. Aber sie machen immer weiter. Überall auf der Welt. Und dort, wo keine Kriege sind, tun die Leute auf andere Weise Schlimmes. Solange das der Fall ist, bleibe ich hier unten.“

„Aber es gibt doch auch ganz viele gute Menschen auf der Erde“, entgegnete ihm Lea. „Zum Beispiel Mama und Papa sind immer ganz nett zu uns und zu anderen Leuten. Na ja, zumindest meistens. Und auch Herr Erbel ist ein ganz lieber Mensch. Der besucht freiwillig fremde Menschen im Krankenhaus, um sie zu trösten.“

„Oder Frau Kirchberg. Die hat uns früher immer Geschichten vorgelesen und uns Süßigkeiten geschenkt, wenn wir sie besucht haben“, ergänzte Lenz verschmitzt.

„Selbstverständlich habt ihr recht“, räumte Wunnibald ein. „Natürlich gibt es nicht nur schlechte Menschen. Aber meine Zeit ist noch nicht gekommen, um wieder auf die Erde zurückzukehren.“

„Eines verstehe ich trotzdem nicht, Wunnibald“, erwiderte Lea. „Wenn du willst, dass sich die Menschen besser vertragen, dann musst du etwas dafür tun. Meine Lehrerin Frau Wamser sagt immer: ,Kinder, wir dürfen nicht warten, bis die anderen Gutes tun. Deshalb seid stets nett und hilfsbereit euren Mitmenschen gegenüber. Dann können sie gar nicht anders, als ebenfalls nett und hilfsbereit zu euch zu sein.‘ Kannst du mir sagen, wie man hier unten nett und hilfsbereit anderen gegenüber sein soll? Du musst mit uns nach oben kommen und dort selber dafür sorgen, dass die Menschen wieder liebenswürdiger miteinander umgehen.“

Wunnibald drückte Lea einen dicken Kuss auf die Wange. „Das hast du ganz prima gesagt, meine Kleine. Hier unten kann ich wirklich nichts dafür tun, dass die Menschen ihre Bösartigkeiten abstreifen. Vielleicht sollte ich tatsächlich mal mit euch hoch auf die Erde kommen.“

„Au ja“, jubelte Lea. „Du könntest den Leuten helfen, Gutes zu tun. Und je mehr Menschen Gutes tun, desto besser wird die Welt. Stimmt doch, oder?“

„So könnte man das sehen, Lea. Du bist ein sehr kluges Mädchen. Vielleicht begleite ich euch morgen auf die Erde. Lasst mich eine Nacht darüber schlafen. Aber jetzt haben wir genug geredet. Nun gibt’s endlich was von unserem köstlichen Kuchen.“

Fortsetzung 4. Kapitel
 



 
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