Zehntes Märchen: Vom Prinzen und seiner Braut

VikSo

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Zehntes Märchen: Vom Prinzen und seiner Braut

„Kommt Hauptmann, oder soll ich euch einen Feigling nennen?“
„Ein Feigling und ein Wagehals sind beide Dummköpfe. Ich bin das erste nicht, will das zweite aber auch nicht sein.“ Das sprach der Hauptmann, der schon in einem Alter war, in dem Mann den heimischen Herd höher schätzt als den ungewissen Ruhm im Abenteuer.
Es war einmal an einem Frühlingsmorgen, da gedachte der Prinz des Landes, zur Jagd zu reiten. Niemand nahm er mit sich als seinen liebsten Kumpan, das Mündel eines königlichen Vaters und den Hauptmann, seinen Freund und Lehrer seit Kindertagen. Weiter als gewöhnlich waren sie in den Wald hinein geritten und obwohl es der Hauptmann nicht zugeben mochte, wusste er nicht genau, ob sie noch ohne Weiteres den Weg hinaus finden würden. In der Hoffnung, einen Blick über die Gegend zu gewinnen, hatte er auf einen Berg zugehalten, dessen kahler Gipfel weithin sichtbar über den Wald hinaus ragte. Nun, da sie davor standen, entdeckten sie jedoch keinen gangbaren Weg hinauf, weder für die Pferde noch für sich selbst. Statt dessen waren der Prinz und sein Freund, durch das Dickicht streifend, auf eine Tür gestoßen. Ein Durchgang, niedrig und halb von Gestrüpp und Moos verborgen, mitten in den Berg hinein gehauen. Dahinter tat sich vor ihnen ein finster gähnender Schlund auf, der in den Fels hinein, ins Unbekannte, führte. Da hinein wollte sich der Prinz wagen.
Ein Mann von großem Mut ist er, unser Thronfolger, dachte sich der Hauptmann. Doch leichtsinnig oft, manchmal noch mehr ein Knabe als ein Mann. Ein dummer, waghalsiger Junge, der sich lieber den Hals bricht, als auf den Rat von uns Alten zu hören. Schon oft hat er sich in Gefahr gebracht und ist dieser meistens nur durch Glück oder die Hilfe seiner Freunde entronnen. Doch so lange er ihnen entkommt, glaubt er sich unverwundbar und macht munter weiter, immer weiter, immer schlimmer. Wer weiß, was das nun wieder geben wird.
Aber sei es, wie es wolle: Der Prinz war bereits lachend einige Schritte den dunklen Gang entlang gewandert, sein treuer Freund dicht auf seinen Fersen. Da durfte auch der alte Krieger nicht fehlen, denn – so sagte er sich – wer sollte die beiden aus dem Sumpf ziehen, in den sie unweigerlich geraten würden? So stapften sie vorwärts, umgeben von nichts als grauem, tropfendem Gestein. Schon nach wenigen Metern war das Tageslicht wie eine verblasste Erinnerung hinter ihnen verschwunden. Bald tasteten sie sich mehr vorwärts als dass sie liefen. Der Hauptmann musste sich immer wieder durch Rufe vergewissern, dass seine beiden Schützlinge – und auch er selbst – noch da waren. Hätten wir doch eine Laterne mitgenommen, klagte der Krieger im Geheimen und schalt sich selbst einen Narren, sich in ein solches Abenteuer verwickeln zu lassen.
War dies nun die gleiche Höhle, welche die Hexe vor einigen Jahren betreten und die ihr so viel Licht und Wärme versprochen hatte? Ja, es war genau dieselbe. Doch zeigte sie sich den drei Männern ganz anders als damals der unglücklichen jungen Frau. Wo einst Licht und Hoffnung gewartet hatten, empfingen jetzt abweisende, kalte Mauern. Die Fackeln waren erloschen und schienen sich gar in den Fels zurück gezogen zu haben, denn keiner der Suchenden ertastete sie. Es war, als wolle der Berg, der sich für eine schutzlos Verfolgte aufgetan hatte, die ungebetenen Besucher entweder aussperren oder mit Haut und Haaren verschlingen.
Endlos erschien dem alten Hauptmann die mühsame Wanderung durch den engen Korridor. Nur schrittweise arbeiteten sie sich vorwärts und mit jedem Schritt wurde es frostiger. Draußen hatte die Sonne sie liebevoll gewärmt; hier drinnen froren sie in ihren leichten Gewändern und dünnen Mänteln. Da, endlich, erschien in der Ferne ein winziger goldener Punkt.
„Freunde, dort ist Licht.“, jubelte der Kumpan des Prinzen. „Sputet euch, darauf zu!“
„Wo Licht ist, sind auch Menschen.“, stimmte freudig der königliche Sohn mit ein.
Nur der Hauptmann bemerkte misstrauisch: „Wo Menschen sich verbergen, können auch Feinde warten.“
Trotzdem blieb ihn nichts anderes übrig, als den jungen Männern eiligen Schrittes zu folgen, die nun auf das Licht zueilten. Tatsächlich wurde der helle Schein immer größer, je näher sie kamen, bis die drei schließlich vor einem niedrigen Durchgang standen.
„Sieh an, was hier für Menschen leben müssen.“, lachte der Prinz. „Das müssen alles Kinder sein. Selbst ihr, Hauptmann, müsst euren Altersbuckel noch tiefer herunter neigen, um hindurch zu kriechen.“
„Dämpft lieber eure Stimme.“, warnte der kluge Krieger. „Zwar sehe ich niemanden. Doch dort brennt ein Feuer. Die Hausherren können nicht weit von hier sein und wir wissen nicht, ob sie uns zum Abendessen einladen oder uns als solches verspeisen.“ Kaum war seine Stimme verklungen, da erklang wirklich ein Geräusch in der Ferne. Tapp, Tapp, Tapp, Tipp. Erschreckt sahen die drei Männer sich an. Schnell, versteckt euch, befahl die Hand des Hauptmanns. Rasch warfen sich die drei hinter die hoch gestapelten Vorratskisten, denn hier allein war Platz, ihre groß gewachsenen Gestalten zu verbergen.
Mit gehaltenem Atem warteten sie, was nun geschehen sollte. Da es war wieder, das Geklapper von Schritten, tapp, tapp, tipp, tapp, tapp. Das Feuer flackerte, als wolle es seine Herren willkommen heißen. Da hüpften Schatten über die Wand, eins zwei drei zuerst, dann vier fünf sechs, dann ein siebter und ein achter. Doch was war das? Sah der achte nicht anders aus als die übrigen? Neugierig lugte der Prinz über den Rand einer Kiste hinweg. Ja, da saßen sieben Gestalten, ihm den Rücken zuwendend. Sieben kleine Körper mit breiten Rücken und schmutzigen Gewändern. Und da war auch die achte. Offensichtlich war sie größer und schlanker als die anderen; auch saß sie nicht, sondern eilte flink um das Feuer herum. Kurz darauf erfüllte ein Duft nach starker Hühnerbrühe und Kartoffeln den Raum. Die sieben Gestalten grummelten wohlig, es schmatzte und schlürfte. Auch der achte Schatten hatte sich niedergelassen, sprang aber immer wieder dienstbeflissen auf, wenn einer der anderen die Suppenschüssel oder den Becher hinhielt.
„Wir haben gut daran getan, uns zu verbergen.“, flüsterte der Freund ihm zu. „Gewiss sind das die sieben Dämonen des Berges und der achte ist ein dienstbarer Geist, der ihnen ergeben ist.“
„Unsinn!“, antwortete der Prinz. „Das sind sieben Ungeheuer und die achte ist eine Gefangene, die sie als niedere Dienstmagd halten. Wir sollten sie befreien.“
„Wir“, fuhr der alte Hauptmann dazwischen, „sollten uns davon machen, so lange wir noch können und nicht im Suppentopf gelandet sind.“ Doch natürlich stieß er damit auf taube Ohren.
„Wenn ich dem Dicken ganz links zuerst den Knüppel überziehe“, wisperte der Prinz, „und du gleichzeitig dem Muskelpaket ganz rechts...“
„Nein, besser dem Winzling in der Mitte, der ist wohl der gerissenste...“
„Ich kann Nummer sieben nicht mehr sehen.“, fiel der Hauptmann ein.
„Möchtet ihr gleich gefesselt und geknebelt werden oder esst ihr zuvor noch einen Teller Suppe?“ In diesem Moment begab es sich, dass sich der Prinz, sein Kumpan und der besonnene aber nachgiebige Hauptmann auf einmal umdrehten. Hinter sich erblickten sie eine stämmige, grimmig dreinblickende Zwergenfrau. Sogleich bauten sich auf ihrer anderen Seite ihre sechs Brüder wie eine bärtige Mauer auf. Da eilte die Hand des Prinzen zum Knauf seines Schwertes. Sein Freund ballte die Hände zu fäusten. Der Hauptmann wiederum tat das einzig Kluge und hob, sich ergebend, die Hände.
„Wir wollten nicht so unverschämt in eure Behausung eindringen.“, plädierte er. „Wir waren nur neugierig, wohin ein Gang so mitten im Berg führte.“
„Ich bin der Sohn des Königs.“, warf der Prinz vorlaut dazwischen. „Alles was Recht ist – dass ich solch merkwürdige Untertanen habe, war mir bis jetzt noch nicht bekannt.“
„Wenn ich dein Untertan bin“, knurrte Alpha, „ist mein Meißel ein Regenwurm.“
„Was seine Hoheit sagen wollte“, erklärte erneut der alte Soldat, „ist, dass wir euch ausgesprochen dankbar wären, wenn ihr uns eine Laterne leihen und uns den Weg aus diesem Berg weisen könntet. Dann wäret ihr uns los und hörtet nie wieder etwas von uns.“
„Das werden wir gerne tun. Und vorher sollt ihr noch die versprochene Suppe haben. Beta, Delta, seht zu, dass ihr noch drei Schüsseln und drei Löffel auftreibt. Gamma, du kannst noch Brot schneiden, aber reichlich, denn unsere Gäste sehen hungrig aus.“ Verwundert blickten die drei Männer auf die Sprecherin, von der diese zärtlichen Befehle gekommen waren und erkannten in ihr die vermeindliche Gefangene, die sie gerade noch hatten befreien wollen. Genauso erstaunt waren die Zwerge und – man muss es zugeben – ein wenig enttäuscht, dass sie die Eindringlinge nicht noch ein wenig ängstigen durften. Doch war ihnen jedes Wort von ihrer freundlichen Gefährtin Befehl. Diese aber – und es war niemand anderes als die Hexe – war nicht weniger erstaunt. Seit vielen Jahren lebte sie jetzt in dieser Höhle und hatte seitdem nur selten die Außenwelt und noch seltener einen Menschen gesehen. Gesprochen hatte sie seitdem nur mit den Zwergen, ihren treuen Brüdern. Die Fremden schienen ihr entweder mutig oder dumm zu sein, dass sie sich so ohne Weiteres in den finsteren Stollen gewagt hatten. Allerdings schienen sie ein gutes Herz zu haben, denn sie dankten ihr ehrlich für die einfache Suppe, die sie als Gastmahl erhielten. Besonders der eine, den der Alte „Hoheit“ genannt hatte, konnte seinen neugierigen Blick gar nicht von ihr wenden. Das freute und ängstigte sie zur gleichen Zeit.
Als sie die Mahlzeit beendet hatten, wollten die Männer gleich aufbrechen, denn der Hauptmann hoffte, noch vor Einbruch der Dunkelheit zum Schloss des Königs zurück zu kehren. Darüber konnten die winzigen Brüder jedoch nur lachen. „Der Abend ist längst über uns gekommen.“, meinte Zeta. „Merkt ihr nicht, wie die Dunkelheit von draußen auf den Berg drückt?“ Das bemerkten die drei allerdings nicht. Dennoch waren sie froh, noch eine Nach in der heimeligen Höhle verbringen zu können; besonders der Prinz. Der rückte, je später es wurde, immer näher an die Fremde heran, die so gar nicht in die düstere Höhle zu diesen grummeligen Gestalten zu passen schien und doch keine keine Furcht vor einem von beidem zeigte.
„Wie kommst du hierher?“, flüsterte er ihr einmal zu. „Wie kannst du hier leben, so fern von jedem zivilisierten Menschen?“
„Meine Brüder und meine Schwester hier sind mir lieber als alle Menschen, die ich bis jetzt getroffen habe. Es fehlt mir hier an nichts.“
Er schwieg eine Weile. Dann fragte er wieder: „Sehnst du dich nicht, unter der Sonne spazieren zu gehen, die dir Licht und Wärme spendet?“
„Hier unten ist es warm wie im Herzen der Erde.“, war die Antwort. „Und das Licht der Fackeln ist hell genug und scheint Tag und Nacht.“
Darüber dachte er wieder ein paar Minuten lang nach. Dann setzte er ein letztes Mal an: „Und würdest du für niemanden diesen Berg verlassen?“
„Nein, für niemanden.“
„Auch nicht für mich?“
Da schwieg die junge Frau erschrocken. Lange Zeit saß sie stumm da, während ihre Freunde und die Gäste immer lustiger und lauter wurden. Der Prinz hockte neben ihr, ebenso stumm – was nicht seine Gewohnheit war – und wartete gespannt auf eine Antwort.
Wie mögen ihre Worte gelautet haben? Nun, sicher ist zumindest, dass am nächsten Morgen, als die Gäste ihren Abschied nahmen, die Hexe sehr stumm war. Den ganzen Tag überlegte sie und überlegte. Es lag eine Last auf ihrem Herzen, eine Botschaft, die sie den Brüdern und der Schwester überbringen musste, die sie in ihre Familie aufgenommen hatten. Wenige Tage später kehrte der Prinz zu dem Berg zurück. Die Zwerge erwarteten ihn bereits, argwöhnisch und mit verschlossenen Gesichtern. Auch die Hexe stand dort, ein Bündel neben sich, in dem ihre wenige Habe enthalten war. Ihr Herz klopfte aufgeregt, als sie den Reiter auf sich zukommen sah. Sie begrüßte ihn mit einem Lächeln. Dann ließ sie sich von ihm auf sein Pferd heben. Schweren Herzens verabschiedete sie sich von ihren Freunden.
„Warum kommt ihr nicht mit uns?“, fragte der Prinz höflich. „Mein Schloss ist groß und starke Arbeiter wie euch können wir gut gebrauchen.“
„Wir danken dir für dein Angebot, Königssohn.“, entgegnete Omega. „Aber die Zwerge gehören zum Berg. Verlassen wir den Berg, dann verlieren wir uns selbst.“ Also nahm die Hexe traurig Abschied von ihrer Familie, um ihrem Mann zu folgen. Ein Stein lag ihr dabei im Magen und ihr Glück wollte nicht ganz ungetrübt sein.
So führte der Prinz seine fremde Braut auf sein Schloss.
 



 
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