Zeitnebel

moehrle

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Zeitnebel

I.
Sie kamen. Immer näher. Er konnte sie spüren. Irgendwo im Nebel zwischen den Bäumen, oder auf den Bäumen selbst lauerten sie. Suchten sie nach ihm. Er duckte sich und robbte vorwärts. Der Nebel und der dichte Bodenbewuchs gaben ihm so die beste Deckung. Dornen brachten die Haut an seinen Handflächen zum Platzen und sein Blut zum Fließen. Er spürte keinen Schmerz, noch nicht, und schleppte sich weiter.
Stimmen. Von irgendwoher. Durch den Nebel und die dicht zusammenstehenden Bäume war es unmöglich ihre Position zu bestimmen. Sie schienen ihm vertraut und gleichzeitig aus einer anderen Welt zu kommen. Ihm war, als kämen sie von überall. Vielleicht kamen sie es auch.
Er sprang auf, von plötzlicher Panik erfasst, und rannte los, obwohl er kaum seine blutigen Hände vor Augen hätte sehen können. Nach ein paar Metern stolperte er über eine aus dem Boden herausragende Wurzel und schlug der Länge nach hin. Ein bohrender Schmerz durchzuckte seine Hüfte. Diesmal spürte er den Schmerz mit unbarmherziger Klarheit. Sekundenlang war er nicht in der Lage irgendetwas anderes zu spüren.
Mit dem Gesicht im Waldboden lag er da und wollte liegen bleiben, doch diesen Luxus konnte er sich nicht leisten. Ein atavistischer Trieb befahl ihm aufzustehen und weiterzulaufen. Er tat es, doch er kam nicht weit. Nach zwei oder drei Metern gaben seine Beine nach und er kippte zur Seite, landete unsanft auf der ohnehin schmerzenden Hüfte. Der Schmerz war noch schrecklicher als zuvor. Er konnte sich nicht erinnern jemals solche Schmerzen gehabt zu haben. Angestrengt versuchte er sich umzudrehen, um wenigstens etwas Druck von seiner Hüfte zu nehmen. Er sah hoch zu den Baumwipfeln, die im tiefen Nebel lagen. Der Wald, der schon manches kommen und gehen gesehen hatte, nahm keinerlei Notiz von ihm.

II.
Er sagte sich, dass dies alles nur ein Traum sein könnte. Sein müsste. Gleich würde er aufwachen und dann... Und dann !? Mit Schrecken wurde ihm klar, dass er weder wusste wo er war, noch wie er hierher gekommen war. Er wusste nichteinmal mehr, wer er war.
Hatte er dies vorhin noch gewusst ?
Der urzeitliche Trieb tief in ihm schrie ihn an, er solle endlich aufstehen und weiterlaufen, doch er weigerte sich ihm zu gehorchen. Solange seine Fragen unbeantwortet blieben, machte es für ihn keinen Sinn zu laufen. Warum sollte er laufen, wenn er nicht einmal wusste wovor er weglief und wer er selbst eigentlich war?
All diese, ach so menschliche Logik, wurde von dem Reptilienteil seines Hirnes niedergebrüllt. Ohne es zu wollen richtete er sich auf und setzte sich in Bewegung. Langsamer als zuvor zwar, aber stetig weiter durch den Nebel
Er wusste nicht ob er in dieselbe Richtung lief wie zuvor und der Stimme in ihm war es egal. Hauptsache du bleibst in Bewegung, mach dir um den Rest keine Gedanken, schien ihm diese Stimme zu sagen. So lief er immer weiter in den Wald hinein. Oder aus ihm hinaus. Nicht einmal die Sonne, oder die Sterne konnten ihm als Orientierungspunkt dienen. Er taumelte. Wie ein betrunkener Blinder, mit schützend erhobenen Händen, irrte er durch den Nebel.
Plötzlich zerrte etwas an ihm, riss ihn zurück und holte ihn fast von den Beinen. Panische Angst packte ihn. Seine Verfolger, wer immer sie waren, hatten ihn gefasst.
Er drehte sich nicht um, sondern versuchte sich loszureißen, mit aller Kraft. Wie ein Hund an der Leine. Doch seine Kraft war beschränkt, die Schmerzen in seiner Hüfte hinderten ihn. Es war aus, er hatte keine Chance.
Ohne Hoffnung und ohne Neugier drehte er sich um, um seinem Tod entgegenzutreten. Es war niemand da. Es dauerte ein paar verwirrte Sekunden, bis er feststellte, dass niemand ihn festgehalten hatte. Er war an einem Ast hängen geblieben. Eigentlich war er es nicht einmal selbst, sondern etwas was um seine Schultern hing. Etwas was er zuvor nicht bemerkt hatte. Ein schmaler Gurt, an dem ein zierliches, aber schweres Präzisionsgewehr hing.
Wieder verspürte er sprachloses Entsetzen. Gehörte es ihm ? Für welchen Zweck war es gedacht ? Und vor allem: Wer war er ? Wer zur Hölle war er ??
Er blieb stehen, minutenlang, ohne es zu merken. Ein Gefühl von Deplatziertheit hatte ihn eingehüllt wie der Nebel selbst. All das konnte nicht real sein, sagte er sich immer wieder. Es war nur ein Alptraum. Doch die Stimmen, die er hörte schienen so echt.
Alptraum oder nicht, er musste weiter. Allein schon um den atavistischen Trieb in sich zu befriedigen. Und um die kalte, betäubende Nässe zu vertreiben, die an seinem Körper nagte.
Er schleppte sich weiter, bald lief er sogar wieder. Sogar die Schmerzen in der Hüfte schienen einen Moment lang verschwunden. Er spürte nur Kälte. Erbarmungslos und einschneidend. Das Gewehr hatte er abgeschnallt und hielt es schützend vor sich. Wenn seine Feinde, wer oder was sie auch immer waren, kommen würden, würde er versuchen sich so teuer wie möglich zu verkaufen.

III.
Der Nebel schien lichter zu werden. Immerhin konnte er jetzt sogar den Boden unter seinen Füßen erkennen, was das Laufen deutlich vereinfachte. Ihm kam eine Idee. Er hielt an, sah sich kurz um, und inspizierte seine Jacken- und Hosentaschen. Zu seinem Erstaunen fand er ein Taschenmesser, Munition und was er gehofft hatte zu finden. Ein Handy.
Er öffnete das Klapphandy, wie er Verhungernder eine Tüte Kekse öffnen würde und starrte das Display an. Auch wenn es augenscheinlich sein Handy war, kam ihm nichts an diesem Gerät bekannt vor. Er suchte und fand das Nummernverzeichnis und blätterte darin herum. All die Namen, die darin gespeichert waren riefen in ihm nur Ratlosigkeit hervor. Er wählte den ersten Namen, Adams, an und drückte die Wähltaste. Er lauschte.
Nichts geschah. Kein Freizeichen, keine Bandansage, nichts. Er beendete den Wählversuch und sah noch einmal auf das Display. Kein Empfang. Nicht einmal ein einziger Balken. Wütend warf er das Gerät auf den Waldboden und lief weiter, aus dem Nebel hinaus.
Von irgendwoher hörte er leise Musik. Er war sich fast sicher sie würde nur in seinem Kopf existieren, doch je weiter er den Nebel hinter sich ließ, desto lauter und klarer wurde die Musik. Es war eindeutig Musik. Er konnte Blasinstrumente und Pauken raushören, sie schienen einen Marsch zu spielen. Nur kurz fragte er sich, warum mitten im Wald, in einer Einöde in der es nichteinmal Handyempfang gab, Musik gespielt wurde. Die Frage wurde in seinem Kopf ersetzt durch den Drang so schnell wie möglich die Quelle der Musik zu erreichen.
Dann sah er die Sonne. Zwischen den Bäumen funkelte sie in den Nebel hinein. Er erkannte, das ein Stück vor ihm der Waldrand lag, oder zumindest eine Lichtung. Von dort schien auch die Musik zu kommen.
Jetzt wo er ein Ziel hatte, beschleunigte er seinen Schritt nochmals und wurde auch nicht langsamer, als die Schmerzen in seiner Hüfte wieder zu pochen begannen. Er glaubte dort Antworten finden zu können. Irgendetwas sagte ihm, dass er das würde. In der Ferne, dort wo er den Waldrand vermutete, entdeckte er eine Stelle die ihm seltsam vertraut vorkam. Ein Platz zwischen zwei großen, alten Bäumen, auf dem eine dichte Hecke wuchs.
Irgendetwas an dieser Stelle wirkte wie ein Magnet auf ihn. Mit dem erhobenen Präzisionsgewehr lief er darauf zu und blendete alles andere aus. Die Bäume, die lauter werdende Musik, die Stimmen um ihn herum, die Kälte und die Schmerzen. Dort zwischen den Bäumen würde er Antworten finden, dort würde er sich selbst finden.

IV.
Er stand vor dieser wild gewucherten Hecke, die er schon einmal gesehen zu haben glaubte. Ihm war als hätte er sie in seinen Träumen gesehen. Erlebte er hier gerade ein Deja-vu ? Ohne es selbst zu merken hatte er sein Gewehr in Schussstellung gebracht. Das Gebüsch war zu hoch, als das er hätte sehen können, was dahinter lag. Er zögerte kurz, dann versuchte er sich durch das Geäst zu kämpfen. Die dünnen, festen Äste zerkratzten sein Gesicht, doch er spürte die Schmerzen nicht, denn in wenigen Sekunden würde er...
Er sah es. Er sah alles mit erschreckender Klarheit vor sich. Die Musik, die Stimmen, nun machte alles Sinn und trotzdem war das Szenario vor ihm so widernatürlich, dass er fast in Ohnmacht gefallen wäre.
Vor ihm, etwa hundert, vielleicht auch zweihundert Meter, lag eine Autobahn. Die Rasenflächen um die Fahrbahnen herum waren von hunderten Menschen bevölkert. Einige standen johlend und klatschend in unmittelbarer Nähe zu ihm. Auf den Standstreifen waren Blaskapellen aufgereiht, die pompöse Marschmusik spielten. Und Soldaten, unzählige Soldaten. Viele von ihnen schwenkten Fahnen. Er erkannte nicht sofort das Symbol auf diesen Fahnen, aber als er es tat, wurden seine Knie weich und er musste sich niederknien.
Es waren Hakenkreuze. Überall Hakenkreuze.
Die Menschen jubelten einer Fahrzeugkolonne zu, die sich gemächlich die Straße entlangschob. Die Autos waren fast identisch. Altertümliche, schwarze Ungeheuer, die wie bösartige Rieseninsekten aussahen. Nur das vorderste Auto stach hervor, es war ein Cabrio. Auf Höhe der Rückbank stand der Mann, dem alle Menschen zujubelten. Adolf Hitler. Mit angewinkeltem, rechtem Unterarm grüßte er in die Menge.

V.
Er spürte etwas, was sich wie ein Schlag in die Hoden anfühlte. Ihm blieb die Luft weg, denn er wusste, dass er nicht das sehen konnte, was er zu sehen glaubte. Die Nazis und ihr Führer waren seit über siebzig Jahren vernichtet, soviel war klar. Trotzdem glaubte er sie hier und jetzt vor sich zu sehen, was absolut unmöglich und verrückt war.
Die Autobahn, die Menschenmassen, die Autos, die Fahnen, all das verschwamm vor seinen Augen zu einer einzigen trüben Masse. Erst als sein Blick wieder klarer wurde, bemerkte er, dass er das Gewehr angelegt und das Zielfernrohr justiert hatte. Klar und deutlich konnte er jetzt den grüßenden Hitler in seinem Fadenkreuz sehen.
Etwas befahl ihm abzudrücken. Jetzt, genau jetzt. Doch der Führer war bereits tot, und seine Genitalien wurden in irgendeinem russischen Militärarchiv aufbewahrt. Der Führer war tot und das Dritte Reich ebenso. Nebel der Geschichte, unwiederbringlich.
Der Drang abzudrücken wurde trotzdem fast unmenschlich. Gerade in dem Moment als er den Abzugshebel so weit gedrückt hatte, dass es ein paar Millisekunden später kein Zurück mehr gegeben hätte, platzte etwas in seinem Kopf. Ein Nebelvorhang verschloss seinen Blick und ließ Hitler verschwinden. Er stürzte nach vorne in eine tiefe Ohnmacht, aus der er nie mehr erwachte.

ENDE
 



 
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