Zeitreise nach Knockcroghery

hades

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Zeitreise nach Knockcroghery

Die Fahrt ist sehr anstrengend. Selten bin ich die Tour von Deutschland über Calais-Dover hinauf nach Holyhead an einem Tag gefahren. Dieses Mal muss ich bereits morgen Vormittag in Kiltimagh sein. Auf der Fähre nach Dublin hatte ich noch eine dreieinhalbstündige Ruhepause, doch nun biege ich bereits hinter der Guinness-Brauerei auf die Nationalstraße, die mich nach Westen führen wird. Um diese Jahreszeit ist es schon längst dunkel und der diesige Regen hilft auch nicht gerade die Fahrt zu vereinfachen. Das Stück Highway hinter Dublin lässt sich noch leidlich fahren, doch dann wird die Straße einspurig und eng. Es geht nicht viel Verkehr nach Westen, an diesem Samstag nach Weihnachten. Ich passiere Enfield, eine willkommene Abwechslung mit den zahlreichen sich hell abhebenden Pubs. Nun habe ich die Lichter des Ortes hinter mir.
Ich hätte mir dort ein Zimmer nehmen sollen, denn nun auf den finsteren Straßen in dieser verregneten Atmosphäre beschleicht mich Müdigkeit. Ich muss in einen Feldweg abzweigen und anhalten, weil ich einzuschlafen drohe. Doch die Müdigkeit ist wie weggeblasen; Zögern, ich entschließe mich weiter zu fahren.
Jetzt klopft jemand hinten ans Fenster, ich erschrecke. Ich schaue zurück und erkenne im Licht der Rückscheinwerfer eine vom Regen durchnässte, männliche Gestalt. Ich verschließe die Tür von innen und kurble das Fenster ein Stück herunter. Nun, von der Innenraumlampe angestrahlt, hat der Mann nichts Bedrohliches. Er ist etwa so alt wie ich und auf meine Frage nach seinem Anliegen antwortet er in akzentfreiem Deutsch:
„Entschuldigen Sie, ich habe Ihr Kennzeichen gesehen und nehme an, dass Sie Deutscher sind.“
Ich bin überrascht und erleichtert unter den gegebenen Umständen die wohl vertraute Sprache zu vernehmen.
„In welche Richtung fahren Sie ab Kinnegad weiter, Longford oder Roscommon?“
Wenig später fahren wir gemeinsam auf der Straße nach Kinnegad, und biegen, dort angekommen, auf die Nationalstraße in Richtung Galway ab. Mein Begleiter heißt Michael, hier nennen sie ihn Mike. Er ist vor vierzig Jahren mit seinen Eltern, die eine kleine Farm gekauft hatten, von Aachen nach Knockcroghery gezogen. Dort lebt er seither, hat nach dem Tode seiner Eltern die Farm übernommen und ist mittlerweile selbst Vater von drei Kindern.
Es gab nicht viele Siedler hier in dieser Gegend, damals, vor dreißig Jahren. Ich bin fast sicher, mein Begleiter ist Michael, jener, der damals mein bester Freund gewesen war. Mit Fünfzehn lebte ich ein Gastjahr auf einer Farm in der Nähe von Lough Ree. Die Familie Schmidt holte mich vom Bahnhof in Athlon ab, alle waren sie gekommen: Der Vater Josef, den ich später Joe nannte, die Mutter Annemarie, genannt Ann, die zehnjährigen Zwillinge Rósín und Aileen, und eben Michael. Ich durfte vorne auf dem Bock sitzen, vor uns im Trab zwei muntere irische Ponies. Die Kinder alberten hinten auf der Wagefläche herum. Die Zwillinge hatten einen eigenartigen englischen Akzent, den ich noch nicht verstand. Von Zeit zu Zeit fiel deutlich mein Name, sie lachten und es machte mich verlegen. Ann, die meine Unsicherheit bemerkte, sprach zu mir, um mich abzulenken. Ich erfuhr, dass die Leute sie Smith nannten, und Zuhause nur Deutsch gesprochen wurde. Sobald sie ihr Haus verließen, sprach man Englisch; Irisch war in dieser Gegend nicht üblich. Joe hielt die ganze Zeit still die Zügel und gab den Tieren Kommandos. Wir bogen irgendwo hinter Knockcroghery rechts in einen schmalen Weg und es dauerte noch etwa eine viertel Stunde, bis wir die Farm erreichten.
Ich schaue mir nun im Lichte eines kleinen Ortes Mike von der Seite her an und erkenne Michael genau. Mike seinerseits zeigt nicht den Anflug einer Ahnung; ich wage aber nicht die alte Wunde anzurühren.
Es waren noch zwei Wochen bis zum Beginn des Unterrichts, sodass ich genügend Zeit hatte, vorher die Familie kennen zu lernen. Die Arbeit der Farmer war nicht so Tag füllend, wie man es vom deutschen Bauernhof her kannte. Die Farmarbeit beschränkte sich auf Schaf- und Rinderzucht. Vor acht Uhr stand hier am Morgen niemand auf. Ann war in der Regel die Erste und die Zwillinge erschienen, wenn Würstchen, Speck und Eier gebraten waren. Ich gewöhnte mich schnell daran wie Joe und Michael erst gegen Neun zum Frühstück zu erscheinen. Ich erinnere mich noch gut, wie ich mit Joe einen Abend in die Stadt fuhr und mein erstes Pint trank. Zuhause in Deutschland durfte ich noch kein Bier trinken, doch hier bekam ein Junge zum ersten Mal mit Fünfzehn ein Pint. Ich weiß noch, wie bitter dieses schwarze Bier schmeckte, doch ich ließ es mir nicht anmerken.
Gegen halb neun kamen Jungen und Mädchen mit Musikinstrumenten zu einer Session, wie sie es hier nennen, ins Pub. Ich fühlte mich in eine sonderbare Welt versetzt. Diese typische Musik hörte ich in späteren Jahren noch oft. An diesem Abend war sie das Letzte, woran ich mich erinnere.
In der folgenden Zeit begann ich mit Michael, den Lough Ree zu erkunden. Er zeigte mir, wie man ein Boot steuert und wie man Hechte fängt. Vom Morgen bis zum Abend waren wir zusammen und dreimal in der Woche fuhren wir mit Joe in die Stadt und besuchten ein Pub, doch vom Bier hatte ich vorerst einmal genug. Joe sagte, Neuigkeiten erfährt man nur hier. Samstags fuhr Ann mit, denn am Abend gab es hier Tanz.
Die Ferienzeit ging schnell vorbei und ich wurde in die Schule eingeführt.
Ich blicke zu Mike hinüber, der gerade von der Vergangenheit erzählt. Jeden Moment, meine ich, muss er mich erkennen. Er spricht jetzt von den Zwillingen, die kurioserweise in einem Nachbarort ebenfalls mit einem Zwillingspaar verheiratet sind.
„Ich habe meine Eltern früh verloren“, sagt Mike. Joe starb mit neunundfünfzig an einem Herzinfarkt. Zwei Jahre später starb auch Ann an Krebs. Mike macht eine kurze Erzählpause, ich fühle seine Betroffenheit, die auch mich ergreift. Ich hatte Joe und Ann damals lieb gewonnen. Das bekannte Gefühl, noch so viel zu sagen gehabt und die Chance dazu nun ein für alle Mal verpasst zu haben, bemächtigt sich meiner; ich versuche Fassung zu wahren in dieser seltsamen Nacht.
Damals, wieder zu Hause in Deutschland, hatte ich kaum mehr als einen höflichen Brief geschrieben. Ich erhielt dann noch zwei von der Familie; einen beantwortete ich knapp. Zu sehr war ich von dem Vorgefallenen befangen und froh, als es zu Ende war. Ich habe seither nie wieder etwas von den Schmidts gehört.
Mike hat sich wieder gefasst und erzählt von Siobhán.
„Sie war die Schönste im County“, schwärmt er. „Viele Jungen begehrten sie, ich aber bekam sie“, fährt Mike fort.
Mein Verhalten von damals berührt mich immer noch peinlich, doch zum Glück scheint er nichts zu ahnen.
Vier Wochen bevor meine Zeit in Irland beendet war, hatten wir Siobhán an einem Samstag beim Tanz in der Stadt kennen gelernt. Ich war, wie vom Blitz getroffen, Hals über Kopf in sie verliebt. Sie schien sich auch für mich zu interessieren, ich erinnere mich noch gut, dass es Michael wurmte, weil sie ihn nicht beachtete. Michael erinnerte mich verschwörerisch flüsternd an den Schwur am Lake, dass nichts und niemand zwischen uns treten sollte. Ich tat an jenem Abend, als respektiere ich das, heimlich verabredete ich mich aber für den nächsten Sonntag mit Siobhán. In den nächsten Tagen erschien mir Michael eigenartig und linkisch. Mir machte es nichts aus, denn ich war verliebt.
Jener Sonntagabend, der Beginn meines ersten Rendezvous, er war wie ein Traum, mein erster Kuss mit einem Mädchen.
Gegen Mitternacht aber erschien auch Michael und setzte sich wie selbstverständlich an unseren Tisch. Ganz gegen mein Erwarten verhielt er sich liebenswürdig, obwohl er leicht angetrunken war. Er freue sich für mich; das schönste Mädchen der Stadt für seinen besten Freund. Dabei starrte er Siobhán unverschämt in die Augen. Seine nun folgenden intimen Komplimente ärgerten mich. Rasend aber machte mich ihre Empfänglichkeit dafür. Ich musste damals lernen, dass Eifersucht nicht besonders erregend auf Mädchen wirkt. Da ich seinerzeit aber für diese Lektion noch nicht bereit war, ließ ich die Angelegenheit eskalieren; kurz: Ich vermasselte alles. Ich verlor Siobhán an Michael, so jedenfalls war meine törichte Sichtweise. Ich gab Michael die Schuld und er wurde mein Feind.
Die vierzehn Ferientage vor meiner Rückkehr nach Deutschland konnte ich kaum ertragen und verbrachte sie einsam mit meinem Schmerz an den Ufern des Lough Ree. Irgendwie schaffte ich es noch, mich am Ende von der Familie Smith zu verabschieden.
Beim nächsten Autoscheinwerfer sehe ich Mikes Gesicht verzerrt.
„Ein Unbekannter hat sie missbraucht und ermordet“, schreit er erregt.
Siobhán wurde eines Morgens vor etwa 10 Jahren am Ufer des Lough Ree tot aufgefunden. Ich bin erschüttert vom erneuten Verlust, eine Kröte rutscht mir in den Magen.
„Das war ein großes Aufsehen damals“, fährt Mike fort, über sein Erzählen liegt nun wieder eine Letheschicht von 10 Jahren.
„Man hatte mir die Liebe meines Lebens genommen, ich bin heute noch nicht darüber hinweg.“
Mike ahnt nicht, dass meine Wunde frischer ist.
„Entschuldigen Sie“, fährt er fort, „manchmal werden Erinnerungen wieder lebendig. Wir sind angekommen, Sie können mich hier aussteigen lassen.“
Tatsächlich haben wir Knockcroghery erreicht. Mike bedankt sich überschwänglich und fordert mich auf, ihn bald zu besuchen, dann müsse ich von mir erzählen. Er beschreibt noch den mir wohl bekannten Weg zu seiner Farm.
Es ist ein neuer Tag und ich habe meine Angelegenheit in Kiltimagh bereits erledigt. Deshalb beschließe ich nach Knockcroghery zu fahren, um mich meinem alten Freund vorzustellen. Nachdem ich über diese Sache geschlafen habe, erscheint mir mein Inkognito in der letzten Nacht lächerlich.
Nun bin ich verwirrt. Zurück in Knockcroghery finde ich an Stelle der Farm die Ruine des wohl bekannten Hauses. Ich muss ins Dorf, weil man Informationen in Irland am sichersten in den Pubs bekommt. Von einem alten Farmer erfahre ich, dass Michael - etwa vier Jahre nach meinem Aufenthalt - an Leukämie gestorben war. Siobhán hatte einen Landlord in Moate geheiratet. Die Familie war ein Jahr nach Michaels Tod nach Deutschland zurückgekehrt. Seitdem steht die alte Farm leer. Hinter vorgehaltener Hand flüstert mir der Alte zu:
“Das Farmhaus ist ein Haunted House, und niemand mag sich dort nach Einbruch der Dunkelheit aufhalten.“

© Dezember 2000
 



 
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