Zerrissen

E

Epiklord

Gast
Entsetzt starre ich aus dem Fenster. Wo gestern noch die Finsternis den Friedhof asphaltierte, die Stadt brombeergebläut erwuchs aus heiterem Himmel, die Bühnenlampe der Sonne Gespenster zu Blüten verkehrte, das hoffnungsvolle Glimmen über dem Boden in fette Glühwürmchen tauchte, brechen die Zellverbände der Lebewesen einfach auseinander und fliegen verstreut im Sonnenwind. Wenn der „Verfall“ weiter so um sich greift, dürfte bis zu dem Künstlertreffen an der Ostsee in dem beschaulichen Ahrenshoop, in dem ich einst aufwuchs, alles demontiert sein. Die Halbwertzeit habe ich überschlagen.

Auf dem Monitor im Internet geht es seinen üblichen Gang; die selbsternannten Kritiker sind wie eh und je am Umschichten in den Literaturforen, an diesen Scheiterhaufen der Gescheiterten; das Volk amüsiert sich; heuer wird Schreibentleins luftiger Vers ganz nach unten gelegt, ein leicht brennbarer Scheit. Rettbar vorm Entzünden vielleicht nur, indem man die Foren umtaufte in gemeine Volksguthaufen. Der Dichter zieht Hoffnung stolz hinter sich her, kompostierte Mistkügelchen, darin noch ungelegte Möchtegerneier, Abfallprodukte der Kritiker, welche man dem Poeten unter den Füßen wegziehen möchte, damit sie ihn nicht überrollen.

Gebannt betrachte ich meine sonst überaus zugeknöpfte Nachbarin Elke Pilokat, wie sie in ihrem Garten wie ein junger Derwisch tanzt. Mein Fenster erlaubt mir zudem eine Sicht schräg in die Konrad-Adenauer-Allee. Einige Bäume haben bereits einen Großteil ihrer Substanz verloren. Die Kraft, oder ist es keine Kraft?, welche den Dingen ihre Formen erhalten hatte, scheint aus irgendeinem Grund zu versagen. Meine Brille habe ich überprüft, an ihr liegt es nicht.

Mir kommt das Meer in den Sinn, unser Strandhaus in Ahrenshoop, meine unbeschwerte Kinderzeit, bevor ich mit den Eltern hierher nach Berlin gezogen bin. Wie mochte es um das Meer stehen, dessen Nähe ich so oft vermisste? Versickern seine Geheimnisse mit der Auflösung, wird es seine Wahrheit preisgeben, über die ich bereits als Zwölfjähriger spekulierte?

Und ich erinnere mich an meinen Vater, den Chirurgen, als er operierte nahe den Langerhansschen Inseln*, während ich narkotisiert auf Trauminseln wandelte, im verstrahlten Bikiniatoll, gebärende Frauen aufspürte mit Kindern wie Geschwüre, als Vater nach einem Inselkarzinom Ausschau hielt, nach meinem Krebs, und als wir uns nach der OP aussprachen, er mich beruhigte und sagte, dass alles okay sei, nur eine harmlose Geschwulst, die er entfernt habe. In der Zeit vor dem Eingriff hatte ich mich einer Aufklärung entzogen, beherrscht von dieser latenten Angst, das Aufdecken der Wahrheit könne mich in den Abgrund stürzen oder schmerzlich schlummernde Illusionen freilegen.

Vater ging im letzten Herbst fort, streifte nun auf den Bikinis herum, ein Forschungsauftrag. Ich war mir nun selbst überlassen. Und da erwischt es mich auch schon, und einen Fußgänger in der Konrad-Adenauer-Allee, während Elke Pilokat immer noch ihren Blick magisch in einen Handspiegel richtet und es scheint, sie wolle unendlich so weiter tanzen. Ihr hässlicher Buckel, an dem sie wie an einem Zentnersack Kartoffeln all die Jahre schwer getragen hatte, hatte sich aufgelöst und war einfach so verschwunden. Mein linker Fuß indessen ist nur noch ein flimmerndes Scheingewebe. Dann verlieren meine Beine gänzlich ihre Form, liegen vor mir am Boden wie Zuckersand, den kein Backförmchen halten wird. Gerade jetzt wäre ich gern davongelaufen.

Und mir fällt ein, dass ich mich einmal als Jugendlicher danach sehnte, frei zu sein wie ein Vogel und wegfliegen zu können von den sich häufenden Pflichten und Sorgen. Aber dann stellte ich mir vor, wie in einem Zugvogel unausweichlich Fernweh aus innerem Schattenreich emporsteigt, spüre das unruhig Blut und Gedärm, am Aug vorbei die Vorhut, seine Flügel im gepressten Raum, und wie er bei Nacht auf und davon fliegt gefangen im Pulk, im Gepäck seine Last, an den alten Ort zurückzukehren; ein Geschoss durch fedrigfiebrige Brust würde ihn sterbend herausreißen und alle Fesseln wären gelöst; welch Ironie eines Vogelfreiseins. Damals zerbrachen so viele Utopien, die nur in einem beschützten Raum existieren konnten.

Nun reißt es die Kleidung von der Pilokat und mich fast in ein Endzeitglück. Doch ihre Körperoberfläche, die gesamte Peripherie erscheint verschwommen. Meine Augen sind raus ..............., glaube ich. Am Ahrenshoop-Termin, oder nach meiner jetzigen Berechnung genau am 29. Februar 2013 gibt es diese Welt nicht mehr… und mein Meer, seine Tiefe, sie werde ich mir bis dahin erhalten, denke ich. - Dann fallen die Kritiker auch darüber her, nicht ohne unserem Protagonisten noch die Arme demontiert und anschließend den Kopf zerrissen zu haben. Zuvor hatte sich selbstverständlich jeder von ihnen gehörig den eigenen zerbrochen.


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*Die „Langerhansschen Inseln“ sind Zellagglomerate in der Bauchspeicheldrüse.
 



 
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