Zu scharf

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Raniero

Textablader
Zu scharf

Erleichtert betrat Rufus Bockmühle das Zugabteil.
Gottlob, fast leer.
Er liebte keine vollen Abteile, auf seiner einstündigen Fahrt vom Dienst nach hause, viel zu laut und viel zu lange wurde dort gequatscht.
An diesem Nachmittag saß nur ein Fahrgast darin, auf einem der beiden Fensterplätze, ein älterer Herr mit einer Zeitung, den könnte man sicher kurz abwimmeln, noch, bevor er ein Gespräch beginnen sollte, und außerdem, wozu, er hatte doch eine Zeitung vor der Nase.
Rufus grüßte knapp; der Alte nickte zurück.
In der Hoffnung, dass kein weiterer Fahrgast mehr das Abteil aufsuche würde, nahm er auf dem gegenüberliegenden Sitz an der Gangseite Platz und machte es sich bequem, ein Stündchen Schlaf, das brauchte er jetzt, nach diesem anstrengenden Tag.

Der Alte blätterte geräuschvoll seine Zeitung um.
In dicken Lettern las Rufus:
‚Soße zu scharf; Scheidung!’

Worauf die so alles kommen, diese verrückten Revolverblätter’, schmunzelte Rufus und schloss die Augen.

Kurze Zeit später wurde Rufus durch ein merkwürdiges Geräusch geweckt.
Er blickte sich um, der Alte hielt sein immer noch hinter der Zeitung verborgen.
‚Gott sei dank, niemand zugestiegen’, dachte Rufus erleichtert.
Plötzlich vernahm er das merkwürdige Geräusch erneut, es schien direkt hinter der Zeitung seinen Ursprung zu haben und klang wie ein wildes Schluchzen.
‚Mein Gott’; dachte Rufus, ‚das kann doch nicht wahr sein! Was ist denn mit dem los?’
Er haderte mit seinem Schicksal.
‚Jetzt habe ich das Glück, in einem fastleeren Abteil zu sitzen, und was habe ich davon? Womöglich einen Verrückten vor mir!’
Er räusperte sich.
„Ist etwas nicht in Ordnung?“ fragte er mit lauter Stimme.
Der Alte nahm die Zeitung vom Gesicht und legte sie auf den Sitz neben sich; Sturzbäche von Tränen liefen ihm die Wangen hinunter.
Rufus bemerkte etwas, was er vorher nicht wahr genommen hatte, beim flüchtigen Hinsehen; der Alte war nicht nur alt, sondern regelrecht steinalt und sah aus, wie der Vater eines Achtzigjährigen.
‚Wie kann man einen solch alten Menschen denn allein in einen Zug setzen’, dachte Rufus erschreckt, ‚ohne Begleitperson?’


Der Uralte sah ihm ins Gesicht, und in diesem Blick lag eine unendliche Traurigkeit.
„Das da“, sagte er mit leiser Stimme und zeigte auf das Boulevardblatt, „das bin ich.“
Rufus verstand nicht.
Der Alte nahm die Zeitung zur Hand und hielt sie Rufus entgegen.
„Der hier, wies er auf mit dem Zeigefinger die Schlagzeile, „in dem Artikel, der bin ich.“
„Sie wollen sagen“, zeigte Rufus sich irritiert, „ der mit der zu scharfen Soße? Das glaube ich nicht!“
„Das müssen Sie mir glauben, junger Mann“ flehte der Alte, „ich komme gerade vom Scheidungsrichter.“
„Aber wie ist denn so etwas möglich, wegen einer zu scharfen Soße lässt man sich doch nicht gleich scheiden!“
„Gleich nicht, da gebe ich Ihnen Recht. Nun ja, wir sind ja auch schon mehr als sechzig Jahre verheiratet, voriges Jahr haben wir sogar die diamantene Hochzeit gefeiert, mit allen Verwandten.“
„Donnerwetter, das ist aber eine sehr lange Spanne. Das erreichen nicht viele Menschen. Ja, wenn das so ist, dann verstehe ich erst recht nicht, weshalb Sie sich dann scheiden ließen. Nur, weil Ihnen die Soße zu scharf war?“
„Ich wollte mich ja gar nicht scheiden lassen, sie war es, meine Else. Und mir war die Soße ja gar nicht zu scharf, ich habe sie ja selbst gekocht. Ihr war sie zu scharf, aber das war nur eine Ausrede. Der wahre Grund ist, sie hat einen anderen, mit sechsundneunzig Jahren.“
„Ihre Frau hat einen anderen“, wiederholte Rufus ungläubig, „mit sechsundneunzig Jahren, einen anderen Mann?“
„Einen anderen Koch, na, ja wenn Sie so wollen, auch ‚nen anderen Mann. Der ist erst sechsundzwanzig, siebzig Jahre jünger als sie.“
Rufus fiel der Unterkiefer herunter.
„Siebzig Jahre jünger als sie? Ja, was will sie denn mit so einem, in ihrem Alter?“
„Der kocht besser, sagt sie“, antwortete der Alte und knipste Rufus ein Auge zu, „aber, wenn Sie mich fragen, dann steckt da was anderes hinter.“
„Sie meinen, mein Gott, ich wage es gar nicht, das auszusprechen, Sie wollen sagen, er ist besser im Bett?“
„I wo“, entgegnete der Greis ungerührt, „daran denkt meine Else schon lange nicht mehr. Nein, sie sagt, er kocht besser, aber ich glaube, er kocht nicht besser, sondern er kocht einfach nur anders. Er ist Diätkoch, von Beruf, müssen Sie wissen. Ich dagegen, koche mein Leben lang besonders pikant, in einschlägigen Kreisen bin ich als der scharfe Willy bekannt, und meiner Else hat meine Küche immer gut geschmeckt, solange, bis sie diesen verdammten Schonkoch kennen gelernt hat: Na, gut, gehen wir von jetzt an getrennte Wege.“



Rufus verspürte echtes Mitleid mit dem Alten.
„Sie sind ja richtig zu bedauern. Nun, ja, einen Trost haben Sie doch, denn jetzt, wo Ihre Frau ja den Schonkoch hat, können Sie in Zukunft scharfe Soßen kochen, soviel Sie wollen, für sich allein.“
Ein breites Grinsen überzog das Gesicht des Alten.
„Nicht nur für mich allein!“ strahlte er.

Im gleichen Moment hielt der Zug an.
Mit einer Behändigkeit, die Rufus ihm gar nicht zugetraut hätte, sprang der Greis aus dem Zug.
Auf dem Bahnsteig wurde er von einer Gruppe von leicht bekleideten Damen mit üppigen Oberweiten in Empfang genommen; keine der Damen schätzte Rufus älter als fünfundzwanzig.
Die Leichtbeschürzten nahmen den scharfen Willy in ihre Mitte.
„Girls“, hörte Rufus den Alten noch sagen, bevor der Zug sich wieder in Bewegung setzte, „zur Feier des Tages gibt’s ‚ne Feuersoße!“

Während der Weiterfahrt sinnierte Rufus darüber nach, dass der Alte eigentlich gar nicht so sehr zu bedauern sei, nach seiner Scheidung.
„Was die wohl nach der Feuersoße mit ihm anstellen“, fragte er sich und tat für den Rest der Fahrt kein Auge mehr zu.
 



 
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