Zugluft

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chriss

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Sie hatten es sich bereits gemütlich gemacht auf all den harten Bänken, die den hohen Raum säumten. Gemütlich gemacht – beinahe musste er über diesen Ausdruck schmunzeln. Und doch sahen sie zufrieden aus in ihrem Elend. Wohl zufriedener als so mancher der heute schon an ihnen vorbei geeilt war – und wohl auch zufriedener als er selbst. So stand er da, inmitten all jener, die –wie man so schön sagte - in unserer Gesellschaft durch den Rost gefallen waren. Er stand da und konnte seinen Blick nicht von ihnen wenden. Er wollte ja gar nicht hinschauen, und gerade deshalb musste er. Er musste all ihr Elend in sich aufsaugen; sich ihre verlebten Gesichter einprägen. Er beobachtete wie sich einer von ihnen eine Zigarette in den Mundwinkel schob und sie sich umständlich anzündete. Seine ungeschickten Finger fummelten lange an der Zündholzschachtel bis er Feuer entfachen konnte. Vorsichtig führten diese das Zündholz zur Zigarette, der Mann zog genüsslich an ihr und blies den Rauch langsam in die kalte Nachtluft.

Doch die Kälte störte ihn an diesem Tage wohl weniger als die Tatsache, dass es schon weit nach Mitternacht war. Hastig schob er den Ärmel seines schwarzen Mantels zurück um auf seine Uhr zu blicken. Kurz nach halb zwei. In wenigen Minuten sollte der Nachtzug eintreffen. Er wandte seinen Blick von der sich ihm bietenden Szenerie ab und blickte verärgert gen Himmel. Er hasste Zugfahrten, speziell in der Nacht. Bot das geschäftige Treiben unter Tags zumindest noch etwas Anonymität, so fühlte er sich den Blicken der vereinzelten Mitreisenden zu nächtlicher Stunde besonders ausgeliefert. Er spürte ihre kalten Augen, die jeden Millimeter seines Körpers nach Merkmalen absuchten, die seine Kleidung musterten und selbst die geringsten Bewegungen seines Körpers verfolgten und zu analysieren versuchten. Sie registrierten welches Buch er las, welche Zeitung er studierte und welchen Kaffee er trank. Langsam aber sicher konnten sie so in seine Psyche eindringen und ihn ungewollt immer und immer besser kennen lernen; sein gesamtes Sein erforschen. Er war absolut wehrlos dagegen, und es war unmöglich ihnen zu entrinnen. Ob es nun der alte Mann war, der ihm gegenüber sitzend nachdenklich an seiner Pfeife zog – oder die durchaus anziehende junge Frau, die nur teilnahmslos aus dem Fenster zu blicken schien. Sie alle hatten es auf ihn abgesehen. Er sah wie ihr Gehirn arbeitete. Sie alle wussten auch dass er sie dabei ertappt hatte - das erkannte er an ihrem verhaltenen, wissenden Lächeln, mit dem sie seine abwehrenden Blicke quittierten. Und mit jedem Lächeln drangen sie noch tiefer in ihn ein, bis es nicht mehr auszuhalten war.
So warf einen letzten fast neidvollen Blick auf die Landstreicher und Tagediebe, die ihm während der letzten Minuten Gesellschaft geleistet hatten, und verlies nachdenklich und angespannt die Abfahrtshalle. Seine Reise an sich verstörte ihn momentan beinahe mehr als ihr Grund. Erst Tags zuvor hatte er den Brief erhalten.

Bedrohlich lag dieser stundenlang auf seinem Arbeitsplatz. Der feine schwarze Rahmen auf dem Kuvert aus edlem, handgeschöpftem Papier lies ihn fürchterliches vermuten. Schlussendlich konnte er sich dazu durchringen, in dem dunkelbraunen Ledersessel hinter seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Sein Körper versank in der weichen Polsterung des Stuhles, die ihm in jenem Moment wie ein Schutz gegen die drohende Nachricht erschien. Angespannt steckte er sich eine Zigarette an; das Rauchen hatte er Jahre zuvor aufgegeben, und doch befand sich immer eine Packung in der untersten Lade seines Schreibtisches – für eben diese Gelegenheiten. Er sog den Rauch tief in seine Lungen und blies ihn langsam durch die Nase aus. Behände griff er zu seinem Brieföffner, einem kleinen vergoldeten Schwert, ein Souvenir aus einem längst vergangenen Urlaub. Er lies den Griff durch seine Finger gleiten, richtete die Spitze auf das Kuvert und ritzte es gekonnt auf. Umständlich entnahm er den Brief, entfaltete ihn und begann langsam die altmodisch verschnörkelte Schrift zu entziffern.

So kam es dass er nun zu nächtlicher Stunde auf dem Bahnsteig Position bezogen hatte; auf den Zug wartend, der ihn zum Begräbnis seiner lang verschollen geglaubten Großtante brachte. Weder hatte er je engen Kontakt zu ihr gehabt, noch verspürte er das Bedürfnis, ihrer Totenfeier beizuwohnen. Nur konnte er die in besagtem Brief an ihn gerichtete Bitte, er möge doch verlässlich kommen, nur schwer abschlagen. In diesem Moment hätte er alles dafür gegeben, sich es wie einer von ihnen in der Bahnhofshalle bequem machen zu können; sich aus allen gesellschaftlichen Verpflichtungen auszuklinken, den Blicken der verhassten Mitreisenden zu entgehen. Er hätte alle Unbequemlichkeiten in Kauf genommen – den bitterkalten Herbstwind, das unbequeme Nachtlager, die verächtlichen Blicke der Abreisenden. Sich auf eine dieser Bänke zu legen würde ihn mit einem Schlag von all seinen quälenden Sorgen erlösen. Zwar hätte ihn auch so mancher mit starrem Blick gemustert – so wie er zuvor sich nicht dagegen hatte erwehren können – und doch hätte wohl keiner versucht, in seine Gedanken einzudringen und sein Innerstes zu erforschen. Aus reinem Selbstschutz nicht.
Und doch wusste er, dass die Ankunft des Zuges all seine Träume zunichte machen würde. Er sich abermals den Regeln unterwerfen musste.

In der Ferne durchbrachen schon die Lichter des nahenden Zuges die Dunkelheit der sternenlosen Nacht. Sekunde um Sekunde wurden sie hellen, klarer und langsam begannen sich die Konturen des Gefährtes, dem sie zuverlässig den Weg leuchteten, abzuzeichnen – und Sekunde um Sekunde schnürte sich sein Hals enger, bis er glaubte keine Luft mehr bekommen zu können. Sein Brustkorb wurde schwer, sein Puls begann zu rasen und der Schweiß an seinen Händen ließ ihm seine Tasche entgleiten. Mit jeder Zugfahrt wurden diese Zustände schlimmer und obwohl er sich ihrer bewusst war und ihre Ursachen kannte, weigerte er sich standhaft etwas dagegen zu unternehmen. Niemand wusste von seinen Ängsten und so sollte es auch bleiben – er fühlte sich nicht fähig jemanden daran teilhaben zu lassen. Er sei nicht normal. Dies wäre wohl insgeheim das Urteil eines jeden gewesen, den er eingeweiht hätte. Und was gab es schlimmeres als nicht normal zu sein. Galt es doch möglichst nicht von der Norm abzuweichen. Er war sich dessen immer bewusst, jeder war sich dessen bewusst. Man hatte sich dessen einfach bewusst zu sein. So hieß es also die beinahe panische Angst ganz tief in sich zu vergraben, keine Schwäche zu zeigen. Er atmete tief durch als der Zug nun endlich den Bahnsteig erreicht hatte und unter lauten Quietschen und Ächzen von ihm zu stehen gekommen war. Mit festem Griff packte er erneut seine Reisetasche und schritt zielstrebig auf die nächste Waggontüre zu. Er öffnete sie und ließ seine Tasche mit einem schnellen Schwung ins Innere gleiten. Eilig folgte er ihr nach und machte sich auf die Suche nach einem geeigneten Abteil. Ein Abteil, in dem er alleine war. Erleichtert fiel sein Blick auf das erste Raucherabteil des Waggons, in dem sich niemand zu befinden schien. Er trat ein, zog die dunkelgrünen, vom Sonnenlicht gebleichten Vorhänge hinter sich zu und lies sich mit einem Seufzer der Erleichterung auf den nächstbesten Sitz fallen. Seine Ängste fielen von ihm ab und dieses Gefühl der Unbesorgtheit lies sogar ein kleines Lächeln auf seine Lippen zaubern. Vielleicht hatte er dieses Mal wirklich Glück und konnte die Nacht ohne gröbere Störungen überstehen. Er legte seine Beine hoch und schloss entspannt für eine Sekunde die Augen.

Er musste kurz eingenickt sein, denn als er sich leicht verwirrt umblickte hatte der Zug bereits den Bahnhof verlassen und die nächtliche Landschaft zog schnell am Fenster vorbei. Nur unscharf konnte er bei dieser Geschwindigkeit die Konturen der Bäume erkennen, sie alle huschten an ihm vorbei als wollten unerkannt bleiben. Die beinahe gespenstische Stille die ihn umgab wurde nur von den leisen Geräuschen Fahrt des Zuges unterbrochen, und selbst diesem monotonen Rattern konnte er in jenem Moment etwas abgewinnen; es hatte eine beruhigende, fast einschläfernde Wirkung auf ihn. Gerade als er abermals die Augen schließen wollte, um ungestört seinen Gedanken nachhängen und sich seelisch auf das ihn erwartende Ereignis vorbereiten zu können, wurde seine kleine Idylle durch vorsichtiges Klopfen an der Waggontüre zerstört. Langsam schob sie sich zur Seite, der Vorhang wurde gelüftet und das teilnahmslose Gesicht eines Mannes kam zum Vorschein. Ohne einen Laut von sich zu geben trat er ein, schloss die Türe und brachte den zur Seite geschobenen Vorhang wieder in Ordnung. Ohne seine Mitreisenden eines Blickes zu würdigen, griff er nach seinem großen Koffer und hievte ihn mit einem Ruck auf die Ablage über ihren Köpfen. Mit einem lauten Stöhnen ließ er sich abrupt in den weichen Sitz fallen und starrte unbeirrt aus dem Fenster.
Da war es wieder, diese unbändige Gefühl der Angst, das wie ein Zentnerstein auf seinem Brustkorb lastete und ihm langsam aber unaufhörlich den Hals zuschnürte – ganz so als ob jemand sanft seine Hände um diesen gelegt hätte und nun mit einer nie enden wollenden Folter beginnen wollte. Plötzlich erschien ihm all jenes, das noch kurz zuvor sein Wohlgefallen fand, wie eine zusätzliche Bürde in diesem Szenario. Der zugezogene Vorhang ließ mit einem Mal das Abteil noch enger erscheinen, die zuvor angenehme Stille lieferte ihn der Observation durch seinen Mitreisenden endgültig aus. Kurz spielte er mit dem Gedanken, sich nach einem neuen Sitzplatz umzusehen, jedoch schien er wie von einer unsichtbaren Macht in diesem Raum gehalten zu werden. Er wurde regelrecht in seinen Sitz gedrückt, ohnmächtig aufzustehen und zu entkommen. Noch immer hatte er seinem Gegenüber nicht ins Gesicht geblickt, sein verzweifelter Blick verlor sich in der Ferne der Nacht. Und obwohl er so unaufhörlich aus dem Fenster blickte, war er sich sicher aus dem Augenwinkel das Lächeln des Mannes zu erspähen. Er was jenes Lächeln, exakt jenes Lächeln. Zu oft hatte er es schon ertragen müssen um es nicht wieder zu erkennen oder gar ignorieren zu können. Das Lächeln setzte sich in seinem Kopf fest, stahl ihm all seine Gedanken und lies ihm nur die nackte Angst.

Er hatte das Fenster geöffnet. Auch die Türe hatte er einen Spalt breit aufgeschoben; die Zugluft würde gut tun Die Zugluft würde all das Grauen vertreiben, würde neues Leben in das Abteil bringen. Er spürte den Wind in seinem fahlen Gesicht und sog die erfrischende Nachtluft ein, die schnell den Raum erfüllte. Bedächtig steckte er sich eine Zigarette an, entflammte sie mit größter Vorsicht und verlor sich ganz in dem gespenstischen Orange der Glut, als er an ihr zog. Der lang vermisste Geschmack wurde nur von dem stechenden Geruch des frischen Blutes an seinen Händen getrübt. Und eben dieser würde bald von der Zugluft hinaus ins Nirgendwo getrieben werden, ebenso wie jener heisere Schrei seines Gegenübers.
 
L

Lotte Werther

Gast
An chriss

Deine Geschichte verrät mir beim ersten Lesen zweierlei: dass du schreiben kannst, aber auch, dass dieser erste Versuch, zumindest hier auf der Leselupe, noch viel Spielraum für besseres Schreiben lässt.

Zum inhaltlichen Aufbau möchte ich dir dringend raten, den Teil zu streichen, der den Anlass der Reise beschreibt. Es ist völlig unerheblich, ob ER zum Begräbnis der Großtante fährt. Es ist auch egal, ob es überhaupt die Tante ist oder jemand anderes. Dieser Teil schadet deinem Text sehr. Hier geht es allein um die Fahrt im Zug und die Psychologie des reisenden Ichs.

Und das hast du sprachlich stellenweise gut gemacht. Die auffallendsten Schnitzer zähle ich im folgenden auf:

So stand er da, inmitten all jener, die –wie man so schön sagte - in unserer Gesellschaft durch den Rost gefallen waren.

Sätze wie dieser gehören in einen Zeitungsbericht vielleicht, nicht in eine Geschichte.

Erleichtert fiel sein Blick auf das erste Raucherabteil des Waggons, in dem sich niemand zu befinden schien.

War er nun allein oder nicht. "Schien" deutet darauf hin, dass er es nicht war. Wo ist der andere?

Seine Ängste fielen von ihm ab und dieses Gefühl der Unbesorgtheit lies sogar ein kleines Lächeln auf seine Lippen zaubern.

Abgesehen von Tipp- oder Rechtschreibfehlern, wie "lies", ist die Formulierung falsch. Das Gefühl lässt nicht zaubern, es zaubert selbst.

Ohne seine Mitreisenden eines Blickes zu würdigen, griff er nach seinem großen Koffer und hievte ihn mit einem Ruck auf die Ablage über ihren Köpfen.

Ich dachte, dass der Prot. bis zu dem Augenblick allein im Abteil war. Nun sind es plötzlich mehrere Köpfe...

Noch immer hatte er seinem Gegenüber nicht ins Gesicht geblickt, sein verzweifelter Blick verlor sich in der Ferne der Nacht. Und obwohl er so unaufhörlich aus dem Fenster blickte,

Zuviel Blicke und geblickt...

Insgesamt ein vielversprechender Anfang. Satzzeichen und Tippfehler bitte prüfen.

Lotte Werther
 

chriss

Mitglied
Re: An chriss

Hallo!

Ich bedanke mich für das Lob und die konstruktive Kritik, werde deine Ratschläge sicherlich beherzigen...

Liebe Grüße

Christoph
 



 
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