Zum Ententeich

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Aqualung

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Im Februar liegen die Tage nur da und haben nichts vor mit Denen, die in ihrer Stille herumirren. Weiße Tage mit viel Schnee und wenigen Worten. In den Straßen ist es gespenstisch leise und hinter den Bergen vor der Stadt sammeln sich hungrige Krähen. Der Winter versucht seine Kräfte an den Tannen, reibt sich an den Hochspannungsleitungen, den Dachgiebeln, den Autoantennen. An den Herzen derer, die nicht weiterkönnen, weiterwollen, so weitermachen wollen. Wer will schon einsam sein und wessen Idee war das mit dem vielen Schnee? Gut, dass nichts von Dauer ist.
Programmwechsel. Wie im Film und doch so echt.
Bitte jetzt aufpassen. Es ist nur ein Kippschalter, der umgelegt werden muss. Es ist nur der Untergang der Wintersonne.
Das steht am Programm: Der Kalbstrick, die Rasierklinge, die Schlaftablette, die Nabelschnur, die Ungeduld. Irgendwas ist danach. Davor versinkt die Welt. Eine Welt, die vieles hat, das sie nicht braucht und der vieles fehlt, das sie bräuchte.
In dieser Welt ist Oskar, doch die seine ist sie nicht. Die Wärme unter der Decke trügt. Ihr Atem ist kalt und färbt das Fleisch zu Tode. Ein vergilbender Porensalat. Mahlzeit will man da nicht sagen. Kein Klopfen an der Türe, kein Kratzen am Fensterglas. Fußstapfen, die sich zwischen toten Ahornbäumen verlieren. Ein paar Gesichter treiben im Schnee. Am Ententeich liegen Autoreifen, festgefroren, zwei verlorene schwarze Gummiseelen. Alles nähert sich dem Muss so sein, dem Wird schon irgendwie enden, dem Kann gar nicht anders. Manchmal ist das Ende vor dem Anfang da.

Welch ein Fest der Liebe war das gewesen. Klingeling. Wieder punktgenau daneben. Oskar hatte das Meiste umtauschen müssen. Die Sportjacke, die Hose und sogar das Videospiel. Die Jacke hatte die falsche Farbe, die Hose war um die Hüften viel zu weit und das Videospiel hatte er schon von Freunden geliehen bekommen. Kein Volltreffer. Keine Liebe. Alles in allem war es mühsam, darüber nachzudenken.
Vor dem Eingang zu P & C hatte Oskar einem obdachlosen Menschen gegen die Kniescheibe getreten. Es war nichts zu machen. Manchmal geht es durch mit Oskar. Der spitze Schrei des Getretenen klang nach der Stimme einer Frau. Oskar hatte gestutzt, dann noch einmal die Stiefelspitze in das vermummte Gesicht der kauernden Gestalt krachen lassen. Er spürte, dass irgendetwas brach. Nasenbein, Zahnspange, Glaube. Niemand schien sich darum zu kümmern. Der entsetzte Blick einer Frau trieb zwischen aufgestellten Mantelkrägen davon. Es war egal, was er tat und noch tun würde. Einmal hatte er an etwas geglaubt. Das ist lange her. Was es war, hat Oskar vergessen.
Er hätte die Jacke nicht gebraucht, die Hose schon gar nicht.
Bei genauer Betrachtung ist es so simpel und wahrscheinlich deshalb unerfüllbar.
Oskar braucht einen Job.
Das Rauchen, das Kino und die Cheeseburger kosten Geld. Dann die Mädchen. Die Mädchen trinken gerne diese Mixgetränke, lassen sich bei jeder Gelegenheit dazu einladen. Jedoch: Wenn es um auf die Matte danach geht, streichen sie ihre Röcke glatt und schicken Oskar in die zweite Reihe. In der ersten nämlich stehen Andere. In der ersten stehen die mit Job, Zukunft und Mut. Die Sonntagskinder. Oskar hat nichts von alldem und das ist sein Dilemma.

Auf der Toilette von Virgin Megastore hantiert Oskar manchmal mit kalten Fingern an seinem Glied, liest dabei die Telefonnummern auf den Wandfliesen und denkt an den Sommer mit Benjamin, seinem strohblonden Freund.
Mit Benjamin war es einfach gewesen. Er machte, was Oskar wollte. Aber das blieb nicht so. Als Benjamin ein Mädchen kennen lernte, das sich noch dazu vom Bücherlesen begeistern ließ, war es damit vorbei. Oskar wollte auch eine Freundin. Im Chat war zwar der Teufel los, aber die Richtige war nicht dabei. Wie die auszusehen hätte, war nicht ganz klar. Genau betrachtet muss sie die Frau meines Lebens sein, glaube ich, hatte Oskar einmal gesagt. Was er damit meinte, konnte Oskar nicht erklären.

Das neue Jahr hat seit Wochen schon die alte Monotonie auf Lager. Und den vielen Schnee. Dann trudelt ein Brief bei Oskar ein, dessen Inhalt neu ist. Benjamin hatte sich mit einem Kalbstrick aufgehängt. Es ging um ein Mädchen, um ein Klopfen an der falschen Türe, um ein aussichtsloses Studium, um den brüllenden Vater.
Scheißweiber, Scheißleben, hatte Oskar dazu gemeint und liegt seitdem jeden Tag bis Mittag im Bett. Die Welt ist zu hell und der Schnee macht träge und leer. Wenn er früher aufstünde, würde sich nichts ändern. Es wäre egal, so wie auch alles Gewesene nunmehr egal ist.
Er hat damit aufgehört, neue Bewerbungen abzuschicken. Er erträgt die Absagen nicht mehr. Es ist besser, die Augen nicht zu öffnen, unter der Decke zu bleiben. Gestern ist er ein letztes Mal losgegangen. Dann hat er den Spiegel in der Aufzugskabine zerschlagen. Er hätte lieber das Gesicht des Beamten zerschlagen sollen. Nur so. Denn: Es ist egal, was er tut. Genau darum geht er jetzt nicht mehr zum Arbeitsmarktservice.
Gestern war gestern und heute ist ein völlig anderer Tag. Heute ist alles rot unter der Decke. Auf dem Bauch verlaufen feine Muster, die sich zwischen den Genitalien verlieren. Die Rasierklinge sucht die Nabelschnur, wildert bis in den krausen Flaum des Schamhaares. Es tut nicht weh, ist nichts Besonderes, ist nur oberflächlich. Ein Spiel eben. Schauen, was geht, bis sich Gefühle auftun. Die einfache Übung vor dem großen Finale. Ein Bild entsteht.
Das Wasserglas. Das ganz normale Wasserglas bitte.

Das Zischen, wenn die kleinen weißen Scheibenwelten untertauchen. Chemie in Auflösung. Krähenflügel kratzen ans Fensterglas. Die Ungeduld weckt alle Sinne. Ist es soweit? Vorhänge glitzern entlang aufgetürmter Wohnungen und das Eis schiebt sich knackend über den Türstaffel. Niemand ist da und niemand sagt nein. Niemand ist zuständig für Oskar.
Überall konnte er nachlesen, dass es ziemlich schnell gehen würde.
Oskar will den März nicht erwarten wollen. Wozu warten, wenn es dann doch nicht anders werden wird. Das Jahr ist ein gigantischer Beschiss. Die Wahrheit taugt nichts. Die Wahrheit ist ein Luder, eine grell bemalte Schlampe, ein Geisterfahrer gegen die Zeit, ein schwarzes Loch. Die Mädchen bleiben wieder aus, weil nur die Sonntagskinder in der ersten Reihe Träume versprechen und wahr machen. Im Zeugnis steht das Wort bestanden. Was er bestanden hat, nämlich die Reifeprüfung, empfindet Oskar als Schlamassel. Bestanden ist keine Eintrittskarte. Die ist auch nicht nötig, weil es einem frei steht, zu leben, wie man möchte, aber doch alles bezahlt werden will. Bei Oskar ist es schon so: Wenn es nicht um den Notendurchschnitt ginge, wäre es noch schlimmer, weil die Unfähigkeit dann offensichtlich wäre. Aber: Dann hätte er dem hinter dem Schalter ohne wenn und aber den Kiefer gebrochen.
Es ist wie Wiederkauen für Oskar. Oskar kaut an Vergangenem, das hochkommt, mahlt mit den Backenzähnen an der Vorhaut seines Geistes, zerrt am unsichtbaren Fleischerhaken, bis irgendetwas reißt und er zu Boden fällt. Oskar am Boden. Eine dampfende Innerei. Die ausgeweidete Gesellschaft vergibt blutleere Bonuspunkte.

Benjamin hatte die Festigkeit seiner Halswirbel unterschätzt. Darum zog sich das, was schnell vonstatten gehen sollte, über schmerzhafte Minuten. Wie dick da schon die Zunge war. Oskar hingegen gleitet in einen Korallengarten.
Benjamin würde lachen, wenn er wüsste, was sich schön langsam über dem Bett von Oskar tut. Karettschildkröten haken ihre Schnäbel in die leeren Augenhöhlen verloren gegangener Sporttaucher. Pottwale versenken in Zeitlupe ein norwegisches Fangschiff. Das Riff ist rot. Ein Schlachthaus. Die Großmutter hängt darüber und blubbert ohne Unterlass in der Sprache der Älpler.
,Der Speck muss hart sein und dünn geschnitten. Dühünn geschnitten. Brot und Speck mit auf die Reise. Mihit auf die Reise. Weil der Schnee drückt schon das Hüttendach in die Stube. Wer jetzt nicht schneller tut, Oskar!
Wer’s jetzt nicht tut, tut’s nimmermehr!’

Es kann gar nicht schnell genug gehen.
Der Raum ist ein donnernder Zug auf endlosen Schienensträngen. Im Stranggewirr liegt Oskar und bettelt das Regal mit den Videospielen um Vergebung an. Gedanken an Mixgetränke und Mädchen, an die Matte danach und den Rock hoch. Keine zweite Reihe mehr. Die erste Reihe macht tatsächlich Platz für ihn, hat mitten drinnen eine Lücke für ihn aufgehoben. War das dort Benjamin? Perlen tummeln sich im Korallengarten, jede davon ein Delphin auf dem steilen Weg nach oben. Was Oskar noch gemacht hat, war die Musik anstellen. Oskar, die Karettschildkröte. Nein, das Sonntagskind. Fast schon ausgestorben, wenn man es genau betrachtet. Der Subwoofer dirigiert die innere Einkehr. Das Dickicht lichtet sich. Ein paar abgebrochene Korallentürme und ein paar Meter weiter weg vom Riff geht es links oder rechts.
Ein schwarzer Pfeil, gleich einer Sporttaucherhand im Gneis des Zimmerdämmers:
Zum Ententeich.
Nach dem zweiten Glas spürt Oskar das Blei im Hinterkopf. Viele kleine Kügelchen, die gegeneinander schlagen. Was für ein Fest. Klingeling will Oskar singen, weil er jetzt viel besser sehen kann, was los ist.
So ist es recht, kreischt eine aufgebrachte Horde Schimpansen und schlägt ihre Zähne in den Wams eines glattrasierten Versuchsmenschen. Bush meat, bush meat, kann Oskar ihre Schreie hören. Und: Wir sind die Letzten in den Virungas!
Alles geht so schnell. Das Riff ist verschwunden. Oskar wirft den Schildpatt ab und wird zur goldblinkenden Reiterschwadron, die der König zur Parade antanzen lässt. Ein apokalyptischer Fahnenträger im Zeichen der Adoleszenz. Wer da alles dazu klatscht und heftig mit den Armen winkt. Na also: Dort steht ja auch der Vater! Spät ist er dran.
Mit erigiertem Glied und kalten Fingern zieht Oskar durch sonst gespenstisch leise Straßen. Eine Handvoll Krähen sitzt ihm auf den Schultern. Wappentiere, die ihm die rote Spinne vom Bauch gepickt haben.
Wer ist das, fragt der König und deutet mit einem seiner Armstümpfe zu Oskar.
Ein Neuer, kann der Hofnarr dem König antworten, bevor ihm, im allgemeinen Durcheinander und zum Gelächter Oskars, doch noch der Kopf abgeschlagen wird.
Jetzt muss Oskar nur noch an den toten Ahornbäumen vorbei, an den im Schnee treibenden Gesichtern. Eines davon ist vermummt und irgendwas darin scheint gebrochen zu sein. Am Ententeich schmilzt das Eis. Wer seine Seele dorthin trägt, hat Glück, denn jetzt kann er sie versenken. Die Weiden am Ufer flüstern unverständliche Worte und ein abstürzendes Vogelhaus schlägt krachend auf die dünne Eisdecke.
,Handarbeit aus der Lüneburger Heide’, schreit die schrille Stimme der Großmutter.

Es ist einsam hier, so ganz ohne Enten. Ein Teich ohne Enten ist wie die leere Schlinge eines Kalbstricks. Der Himmel ist candy apple grey, singt ein schlittschuhlaufender Troubadour und stemmt seinen Brustkorb gegen den aschgrauen Wind. Schwarze Gummiseelen treiben schläfrig gegen brüchiges Schilf, wie Tabletten, in mystischer Auflösung. Ganz so, wie Oskar immer schon gedacht hatte, dass es so sein müsse.
Die ersten schwachen Wellen haben die Karnickelhöhlen an der Uferböschung erreicht.
Es kann sein, dass alles vorbei ist, kaum dass es begonnen hat.
Ein Stück Speck zur Stärkung, Oskar. Wieder die Großmutter. Ihr Gesicht versinkt glucksend mit dem Vogelhaus.
Der Spiegel im Aufzug fällt ihm noch ein. War das schon das brüchige Teichsilber gewesen, in dem er jetzt untergeht?
Gut möglich. Aber egal.
 

Nicolas

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Hallo Aqualung

Mir hat die Geschichte sehr gut gefallen. Teilweise erinnert es mich (von der Stimmung) an den Steppenwolf, teilweise (vom Erzählstil) an Ulysses. Aber in Erinnerung bleibt vor allem die Wortgewalt deiner Sprache.
Die Geschichte habe ich beim ersten Durchlesen nicht verstanden.
Für mich einer der besten Texte, die ich bisher in der Lupe gefunden habe.
 

Aqualung

Mitglied
Guten Morgen, lapismont und Nicolas,

ich freue mich, dass mein Text bei euch gut angekommen ist. Ich habe versucht, das Thema Jugendarbeitslosigkeit irgendwie anders zu verpacken, surrealistischer, abstrakter vielleicht. Mein Bemühen dabei war, den Text möglichst kalt zu verfassen, eher aufzählend und endgültig.

Liebe Grüße an euch - Aqualung
 



 
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