Zuviel

jorunn

Mitglied
Sie sassen zu viert im Wohnzimmer, jeder für sich. Schon lange war kein Wort mehr gefallen. Schließlich griff Peter nach der Fernbedienung und schaltete den Apparat ein.
"Ihr werdet doch heute nicht fernsehen wollen!", sagte Barbara ruhig.
"Aber heut spielt doch Deutschland gegen England." protestierte er und fuchtelte mit der Fernbedienung in der Luft herum.
"Peter! Lass uns mit Fußball in Ruhe! Das kann Iris heute nicht ertragen!" Barbara nahm ihrem Gatten das Gerät aus der Hand, betätigte den roten Knopf und deponierte sie auf dem Schrank. Sie wirkte sehr blass in dem schwarzen Kleid, das um den Busen und die Taille spannte. Sie hatte es vor zehn Jahren zur Beerdigung ihrer Mutter gekauft. Peter verzog das Gesicht und warf seinem Sohn einen sprechenden Blick zu: Weiber.
"Dann geh ich nach Hause.", sagte er, "kommst du mit, Mischa?"
Michael stand auf, wich den Blicken seiner Frau und seiner Mutter aus. "Gute Idee."
Iris atmete tief aus, als die beiden das Haus verliessen. Barbara legte beruhigend die Hand auf ihre Schulter.
"So sind sie eben. Männer!", sagte sie abfällig, "kann ich dir irgendwas bringen, Iris? Einen schönen heissen Tee vielleicht, es war so nass - dort draußen."
Sie betrachtete besorgt das leichenblasse Gesicht ihrer Schwiegertochter. Wenn sie nur endlich weinen würde. Sogar ein Nervenzusammenbruch wäre ihr lieber als diese unnatürliche, statuenhafte Ruhe. So war Iris schon seit der Anruf aus dem Krankehhaus gekommen war. Sie war sogar selbst dorthin gefahren, ruhig, kompetent, ohne eine einzige Verkehrsregel zu übertreten. Sie hatte perfekt eingeparkt. Ohne sichtbare Gefühlsregung hatte sie mit dem Arzt gesprochen.
"Es tut mir leid. Wir konnten nichts für ihn tun. Die Kopfverletzungen..."
Barbara hatte geschrien, als er das sagte. Nicht Iris. Nicht sie. Mit ruhiger Hand unterschrieb sie die Erklärung, mit der sie sich einverstanden erklärte, dass ihrem Jungen alle Organe entnommen wurden.
"Willst du nicht auf Peter warten?" hatte Barbara geschluchzt.
Iris schaute sie an, die Augen wie Spiegel. "Nein."
Kalt wie Eis, diese Frau.
Barbara fröstelte es.
"Nein danke.", sagte Iris jetzt. Ihre Stimme klang unverbindlich freundlich, so emotionslos wie die Zeitansage."Ich brauch nichts. Geh nur heim und mach dir's bequem. Servier den Männern ein Bier. Ich will einfach nur alleine sein."
Barbara zierte sich noch ein wenig, doch dann verließ sie innerlich doch erleichtert das Haus.
Iris blieb noch eine Weile in ihrem Sessel sitzen
Sie konnte nicht weinen, in ihr war alles schwarz, still, tot. Sie hatte es gewußt, als das Telefon klingelte. Sie hatte es schon gewußt, als Jens mit dem Motorrad wegfuhr.
Er hatte den Haufen Schrott spottbillig gekauft und in monatelanger, geduldiger Kleinarbeit ein Motorrad daraus gebaut. Ein wahres Schmuckstück mit einem phantastischen Motiv auf dem schwarzlackiertem Tank, viel in der Sonne blitzendem Chrom und dem tiefen Blubbern einer starken Maschine.
"Was ist mit Sicherheit?", hatte sie gefragt und mißtrauisch die Maschine umrundet. "Gib sie lieber in eine Werkstatt und lass sie gründlich durchchecken. Ich geb dir das Geld!"
Jens hatte gelacht, ein dumpfes Geräusch unter dem schwarzen Helm, warf ihr eine Kußhand zu. "Klar, Muttertier, alles, was du willst. Aber erst dreh ich eine Runde!"
Sie warf Michael einen hilfesuchenden Blick zu, doch der schaute nur das Motorrad an. "Da ist schon alles in Ordnung, Schatz. Ich hab ihm geholfen."
Sie wollte das Auto erwähnen, an dem er vor Jahren monatelang herumgeschraubt hatte, und das dann auf den Schrottplatz gesschleppt wurde, ohne nur einen einzigen Meter aus eigener Kraft gefahren zu haben. Sie wollte von dem Ikea-Schrank sprechen, der ein ganzes Wochenende lang aufgebaut wurde und bis heute nicht richtig schloß, dem Küchenschrank, von Michaels fachmännischen Händen aufgehängt, der eines Nachts mit einem lauten Scheppern auf dem Küchenboden landete. Das selbstgedeckte Dach, das so leckte, dass sie doch einen Handwerker beauftragen mussten, die Elektroleitungen, die der Elektriker nicht abnehmen wollte, und, und, und...
Doch Jens schwang sich auf seine Maschine, gab probeweise Gas und fuhr los. Bevor er schwungvoll um die Ecke bog, hob er grüßend die Hand.
Das nächste Mal sah sie ihn im Krankenhaus, den Körper von piependen, pumpenden Geräten am Funktionieren gehalten, nur noch ein Stück Hoffnung für todkranke Menschen, die dringend ein Herz, eine Leber oder Nieren brauchten, um weiterleben zu können.
Sie hatte nicht ablehnen können. So ergab das alles vielleicht doch einen Sinn.
Sie dachte an das Baby, das sie damals in den Armen gehalten hatte, die ersten wackligen Schritte, die ersten Worte. Den kleinen Lausejungen mit den Zahnlücken. Die endlosen Diskussionen über Hausaufgaben. Der coole Sechzehnjährige, der mit Liebeskummer heulend auf seinem Bett lag. Seine damalige Freundin war heute auch auf der Beerdigung gewesen, geschockt und fassungslos wie alle.
Ihr Brustkorb tat so weh, dass sie kaum noch atmen konnte.
Sie musste aufstehen, durch die Wohnung wandern.
Jens würde ihr ganzes Leben nicht mehr älter werden als zwanzig. Nie wieder würde sie Sonntags morgens fassungslos in ihrer Küche stehen, in der er mit ein paar Freunden einen "kleinen Mitternachtsimbiss" eingenommen hatten. Keine geplünderten Kühlschränke mehr. Keine unbekannten Mädchen im Morgenmantel im Bad, die dazu noch ihr Deodorant benutzten.
Nie wieder.
Wie ferngesteuert stolperte sie die Treppen hinunter in den Keller. Michaels heilige Kuh, der Hobbyraum.
Wenn er nicht immer behauptet hätte, dass professionelle Werkstätten nichts taugten. Wenn er nur einmal akzeptiert hätte, dass es einen Sinn macht, dass Leute jahrelang in einem Beruf audgebildet werden...
Die Klammer um ihre Brust wurde immer enger. Da wollte, musste etwas raus, und es ging nicht.
Sie stieß mit dem Fuß an eine der Kunststoffkästen, die überall an der Wand lehnten. Er fiel um, und Michaels Schraubenkollektion kullerte über den Betonboden.
Das Geräusch tat gut. So gut.
Sie trat an den nächsten Kästen. Die kleinen durchsichtigen Kunststoffschübe rutschten heraus. Nägel aller Größen und klirrten auf den Boden, im nächsten Kasten waren Lüsterklemmen.
Ihr wurde leichter.
Der Spaten an der Wand fiel geräuschvoll um. Sie nahm ihn in die Hand, starrte ihn eine Minute an, dann schlug sie zu, mitten auf Michaels ordentliche Werkbank. Schraubenschlüssel schepperten auf den Boden. Feilen, Ratschen und was er noch darin hatte. Nur ein dunpfer Knall, als die Bohrmaschine herunterfiel.
Sie begann zu lachen wie eine Irre, und sie machte weiter, so lange, bis nichts mehr herunterzuwerfen und kaputt zu schlagen da war.
Erst da blieb sie stehen, schaute sich um, fassungslos, unfähig zu begreifen, dass sie dieses Chaos angerichtet hatte.
Der Keller verschwamm vor ihren Augen,
Nun konnte sie weinen.
 
S

Silvi Degree

Gast
Hi,liebe Jorunne,bin zufälligerweise auf diese deine Kurzgeschichte gestoßen.Da hast du ein ziemlich schwieriges Thema gewählt -es aber recht gut in den "Griff" bekommen.
Ja, nichts ist schlimmer als wenn man nach derartigen Schicksalsschlägen nicht weinen kann...
Jorunne, ist das etwa eigenes Erleben?
Liebe Grüße
Silvi
 

jorunn

Mitglied
Hallo, Silvi,

zum Glück (klopft dreimal auf Holz) nicht. Aber ich habe drei Jungs, und alle drei kriegen glänzende Augen, wenn sie ein Motorrad sehen, fahren Moped und Mofa und der Älteste macht dieses jahr seinen Führerschein. Und keiner hat es nötig, mal anzurufen, wenns mal später wird. Da kriegste schonmal Albträume...
Vile Grüsse
Jorunn
 

knychen

Mitglied
hallo jorunn,
nachdem du geschrieben hast, daß du alle sachen von mir gelesen hast, bin ich durch die seiten gesurft und habe "zuviel" gefunden. böses thema, das.
aber findest du es nicht übertrieben, den vater einfach fußball sehen lassen zu wollen ( wat'n deutsch)?
so abgebrüht kann doch keiner sein.
aber sonst: chapeau!!
sagt knychen
 

jorunn

Mitglied
Danke

für sämtliche Komplimente- Der fußballverliebte Papa hat sein Vorbild in meinem Onkel, der am Tag der Beerdigung meines Opas unbedingt Sportschau sehen musste (was Oma fast zu ihrem Gatten ins Grab gefegt hätte) - aber das war natürlich ein alter, kranker Mann. War vielleicht ein wenig übertrieben - obwohl - echte Fussballfans gehen ja auch ins Stadion, während ihr erstgeborener das Licht der Welt erblickt...
Schönen Tag, wünscht
Jorunn
 



 
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