Zwischen Tod und Leben.

5,00 Stern(e) 1 Stimme

pleistoneun

Mitglied
Ich schulterte meine Fantasie und reiste mit ihr durch ein Land ohne Namen. Die Landschaft war von Wald und Wiesen bedeckt, wie zuhause, aber hier waren sie nicht grün, sondern rot und Blumen waren hier keine Blumen, sondern bunte Fingerhandschuhe. Ich kam vorbei an Flüssen, die aus glänzendem Gold waren und ich sah Gebirgszüge, die aus gestapelten Einmachgläsern bestanden. Der Zweck der Reise war mir unbekannt und ich wusste auch nicht, wohin sie mich führte. Obwohl ich meinen Sinn für Zeit und räumlicher Orientierung einer fantastischen Regie überlassen hatte, begann ich mich doch allmählich an die neue Umgebung zu gewöhnen.

Nach einer langen Reise kam ich an ein seltsames Haus. Es besaß keine Wände, nur ein altes Schindeldach, auf dem Musiknoten in Frauenkleidern tanzten. Mein Blick aber fiel auf einen weißen Raben, der vor diesem Haus saß und der da plötzlich zu sprechen begann: "Ja, und darüber bin ich sehr froh, denn ich fühlte mich sehr einsam."
Jetzt auch noch ein sprechender Rabe.
"Meinst du, wir sollten es ihm sagen? Ist das klug?", fuhr der Rabe fort.
Mit wem redete da der weiße Vogel? Warum gab er Antworten auf Fragen, die gar nicht gestellt wurden?
"Wer bist du?", fragte ich.
Er anwortete: "Ich bin wie du ein Gefangener dieser Welt. Nur deine Gefährtin, die Fantasie, ist frei."
Das klang neunmalklug, aber schlau wurde daraus niemand.
"Ich bewege mich frei und unbeschwert durch die Welt. Wie könnte ich da ein Gefangener sein?", entgegnete ich.
"Du bist ein Narr, wenn du nicht siehst, dass dein Leben hier eine Verhöhnung der Realität ist. Ich hocke schon lange Zeit hier und habe mein Schicksal erkannt."
"Welches Schicksal?"
"Ich erkannte, dass ich nur im Bewusstsein einer höheren Ordnung existiere, die mich erdacht hat. Dein Auftritt hier bedeutet nur, dass dich diese Ordnung als neue Figur in ihr Bewusstsein gerufen hat."
"Das glaubst du doch selbst nicht, weißer Rabe!"
"Jeder deiner Gedanken, jede Idee ist nur Schein, ein Gaukelspiel, Blendwerk. Wir haben noch nie einen eigenen Gedanken erzeugt. Wir fühlen uns frei, weil der Plan dieser höheren Ordnung es so vorsieht und uns dieses Stück Freiheit geben will."
"Du meinst ..."
"Ich habe die Absicht, unsere Knechtschaft hier zu beenden", sagte der Rabe aufgeregt. "Und was ist meine Aufgabe dabei?"
"Ich habe bei unserer Begrüßung mit deiner Fantasie gesprochen. Sie hat keine Stimme, aber dennoch teilt sie sich uns durch Improvisationen des Lebens mit. Mit Hilfe unserer Fantasie werden wir diese Welt verlassen."
"Es ist schwer für mich, das alles zu verstehen, Rabe. Könnte es denn aber nicht auch sein, dass diese höhere Ordnung, die uns erdacht hat, nicht selbst gerade ein Leben im Bewusstsein eines anderen führt?"
"Das ist durchaus möglich. Aber ich denke, wir können aus diesem Ringelspiel ausbrechen."
"Wie?"
"Im Schlaf träumt das Bewusstsein und da wir nichts anderes sind als das Produkt dieser Gedanken, erleben wir diesen Traum als unseren. Aber genau dann, wenn der Traum zu Ende ist, können wir seinem Bewusstsein entspringen, indem wir unsere Fantasie benutzen und uns in eine neue Welt begeben, in der wir Freiheit erlangen."
"Ist das nicht Selbstbetrug, von einer Traumwelt in die andere zu fliehen?"
"Es wird unsere Welt sein, die wir für uns erschaffen haben und wir sind nicht mehr das Erzeugnis einer fremden Kraft. Diese neue Welt, mein Freund, diese neue Welt wird uns unsere Realität zurück geben und uns wieder zum Meister über unsere eigenen Ideen machen."

Das war der Plan. Zu zweit würde der Ausbruch eher gelingen, weil mehr fantastisches Potenzial freigesetzt werden könnte, meinte der Rabe. Und so saßen wir zusammen vor dem Haus ohne Wände, bis in unsere Scheinwelt langsam die Nacht herein brach. Alles wurde ruhig um uns, doch wir blieben wach. Nach geraumer Zeit wurden wir - wie es der Rabe vorhergesagt hatte - in den Traum unseres Herrn gezogen. Darin war ich ein Ameisenelefant und der Rabe hatte die Rolle des Regens, und die einstigen Musiknoten in Frauenkleidern prasselten als Regentropfen munter auf mich hernieder. Ein furchtbarer Traum, aber ich passte auf, dass ich den Moment nicht verpasste, wo ich abzuspringen hätte. Im nächsten Augenblick - mitten im wildesten Regen - war es plötzlich angenehm still und trocken. Der Zeitpunkt war gekommen.

Ich konzentrierte mich scharf auf unsere neue Welt, stellte sie mir lebhaft in allen Einzelheiten vor und es eröffnete sich in der Tat ein neuer Kosmos. Ja, und da drüben auf der frischen, grünen Wiese hüpfte der Rabe, der nun nicht mehr weiß, sondern wie jeder andere Rabe auch, ein schwarzes Federkleid hatte. Die Wiese war wieder grün, ja! Und da waren auch grüne Bäume, allerdings ungewohnt riesig, und sie trugen keine Blätter oder Nadeln, sondern von ihren Ästen hingen Würmer. Seltsam. Neben den weitläufigen Wiesen hinter den saftigen Hügeln lag ein See, in dem sich die wunderschöne Umgebung spiegelte. Aber was war das? Oh nein, neben dem See lagen große Ansammlungen toter Insekten. Warum war diese meine Welt nun schon wieder anders als ich wollte? Und als mich der Rabe - der genau dasselbe dachte - anschaute, war mir alles klar. Wir hatten mit unseren beiden Fantasien versucht, eine Welt nach unseren Vorstellungen zu formen, die aber, wie es schien, weit voneinander abwichen. Doch wir hatten erreicht, was wir wollten - die Befreiung aus der Gefangenschaft. Wir spazierten in unserer Wirklichkeit gewordenen neuen Umgebung gerade den lautlosen Fluss entlang, als wir zu einem tiefen Loch in der Erde kamen. Wir schauten in die schwarze Versenkung und noch ehe wir uns überlegen konnten, was wir tun sollten, wurden wir hinein gezogen. Und wir fielen und fielen und hörten gar nicht mehr auf zu fallen und dann war es nur noch menschlich und hell und ein Arzt hielt mich in seinen Händen.

Meine Eltern sagten mir später, ich hätte bei meiner Geburt nicht geschrieen. Warum auch? Ich fühlte mich endlich am Ziel einer langen Reise. Und gerade dieser Glaube war ein Irrtum fantastischen Ausmaßes.

Was aus dem Raben wurde? Wenn ich meine Fantasie benutzen dürfte, dann könnte ich mir vorstellen, dass .....
 

Ohrenschützer

Mitglied
recht so

Also ich finde den Schluss überaus passend. Vom Motiv "ein Traum ein Leben" ausgehend werden Hüllen in Hüllen entdeckt, sodass der Kern nicht mehr sichtbar ist. Und letztlich steckt die Geschichte selbst in einer Hülle (der Phantasie des Autors und des Lesers), und bevor die nächste angerissen wird, wird ausgeblendet.

Wo komm ich her, wo geh ich hin, geh ich selbst oder werde ich gegangen, woraus besteht die Welt, warum sieht sie jeder anders? Faszinierende Antwort auf diese Fragen, für meine Begriffe auch den komplizierten Gedankengang sehr schön nachvollziehbar gemacht. Dickes Lob von meiner Seite!

Schönen Gruß,
 

pleistoneun

Mitglied
Danke von meiner Seite...

Natürlich könnte man diese Geschichte unendlich weiter denken, aber das wäre Wiederholung, denn der Grundgedanke, nämlich das Wiederkehren und die Beschaffenheit der Existenz hab ich beleuchtet, angerissen; ich möchte immer einen offenen Schluss lassen, damit der Leser sich selbst Gedanken darüber macht, wie es denn weiter gehen könnte. Es gibt - besonders bei dieser Geschichte - keine absolute Lösung für die Fortsetzung. So fließt denn alles. Danke für die Kommentare.
 



 
Oben Unten