atemlos (überarbeitet)

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Gagjack

Mitglied
atemlos

ich stehe vor dem kleinen spiegel der gästetoilette und schaue mir in die augen.
die letzten 42 jahre haben ihre spuren hinterlassen.

ich bin zu gast bei mir.

eigenartig- erst jetzt wird mir richtig bewusst, dass sich alles auf sieben wochen reduzieren lässt.

sieben wochen auf sich zurückgeworfen zu sein, niemanden sprechen zu können, tage in einer zwischenwelt zu erleben. es fällt schwer, diese gedanken zuzulassen.

aber es ist mein leben, komprimiert auf ein bett in der intensivstation

ich werde mir meiner selbst bewusst:
das sind meine füsse mit ihren zehen, sie passten einmal in die häkelsocken meiner grossmutter, jetzt nehmen sie grösse 46 in anspruch.
da sind die narben von dem überflüssigen apendix der meiner überdrüssig geworden war, von den menisken, die ihren dienst versagten und mich verlassen mussten.
ich spüre die narben am bein, die bei jedem wetterumschwung jucken.
warum musste sich auch der bremshebel meines rades darin verbohren?


der grösste einschnitt in mein leben bleibt der reißverschluss den ich über dem herzen trage.
ich habe mein herz geöffnet, wildfremden menschen in grünen kitteln und mundschutz. sie haben mein innerstes gesehen und verzweifelt versucht, mich am leben zu erhalten.
ich sehe die narben auf meiner brust, aber die in der seele bleiben mir verborgen. sie gründen in längst vergangenen zeiten.

wie oft im meinem leben habe ich tief durchgeatmet, nach luft geschnappt,den angenehmen duft einer schönen frau aufgesogen?
wie oft hatte ich den eindruck das mir die brust verschnürt ist, ich keine luft mehr bekomme, einen zuvor geliebten menschen nicht mehr riechen kann?

ich stelle mir diese fragen, ohne mir darauf eine antwort geben zu können.

diese gedanken gehen mir immer durch den kopf, treffen mein herz, wenn ich an diese sieben wochen denke.


es ist die zeit gewesen, als ich erstickte, ich nicht mehr atmen, nicht mehr riechen konnte; die zeit in der ich im schlafkoma lag.

„keine 10%ige sauerstoffsättigung im blut“-worte wie blei in meinem kopf.
das ringen um luft, der kampf gegen den nahen tod. zweimal habe ich ihn in dieser zeit verloren, zweimal haben mich die grünkittel zurückgeholt in die welt, in der ich nicht atmen konnte.
dankbar bin ich ihnen dafür.

einundzwanzig Tage nach den operationen brauchte ich, bis ich schlafen und wahrnehmen konnte.

solange lebte ich ausserhalb von mir weiter.

meine welt wurde dann sieben wochen lang von „evita 2“ bestimmt.
regelmässig presste sie den sauerstoff durch den kleinen schlauch der in dem loch meines halses steckte.
sie bestimmte mein leben .
sie gab den rhythmus vor.
ich konnte nach dem erwachen aus dem koma nicht sprechen.
evita hat es verhindert.
mir blieb das denken und nur das.

in diesen sieben wochen lief mein lebensfilm in wiederholungen vor meinen augen ab.

ich fühle, es sind diese spuren , die ich in dem kleinen spiegel sehe.
 
S

Sandra

Gast
Hallo Christoph.

Ich würde den Text lediglich anders formatieren, dann noch ein bisschen Textarbeit (nicht viel ;) ). Zudem Groß- und Kleinschreibung setzen. Ansonsten - nach wie vor beeindruckend.

LG
Sandra


Atemlos

Ich stehe vor dem kleinen Spiegel der Gästetoilette und schaue mir in die Augen.
Die letzten zweiundvierzig Jahre haben ihre Spuren hinterlassen.

Ich bin zu Gast bei mir.

Eigenartig - erst jetzt wird mir bewusst, dass sich alles [blue](vielleicht näher erläutern was? Meine Erinnerungen, Erfahrungen, mein Leben, meine Krankheit ...) [/blue]auf sieben Wochen reduzieren lässt.

Sieben Wochen auf sich zurückgeworfen zu sein, niemanden sprechen zu können, Tage in einer Zwischenwelt zu erleben. Es fällt schwer, diese Gedanken zuzulassen.

[blue](Ich spreche von meinem Leben?)[/blue] Es ist mein Leben, komprimiert auf ein Bett in der Intensivstation

Ich werde mir meiner Selbst bewusst:
Das sind meine Füsse mit ihren Zehen, sie passten einmal in die Häkelsocken meiner Grossmutter, jetzt nehmen sie Grösse 46 in Anspruch. [blue](Sehr gefühlsmäßiges Bild. Klasse!)[/blue]
Da sind die Narben von dem überflüssigen Apendix, der meiner überdrüssig geworden war, von den Menisken, die ihren Dienst versagten und mich verlassen mussten.
Ich spüre die Narben am Bein, die bei jedem Wetterumschwung jucken.
Warum musste sich auch der Bremshebel meines Rades darin verbohren?

Der grösste Einschnitt in mein Leben bleibt der Reißverschluss, den ich über dem Herzen [strike]habe.[/strike] [blue]trage[/blue]
Ich habe mein Herz geöffnet, wildfremden Menschen in grünen Kitteln und Mundschutz. Sie haben mein Innerstes gesehen und verzweifelt versucht, mich am Leben zu erhalten.
Ich sehe die Narben auf meiner Brust, aber die in der Seele bleiben [strike]mir[/strike] verborgen. Sie gründen in längst vergangenen Zeiten.

Wie oft im meinem Leben habe ich tief durchgeatmet, nach Luft geschnappt, den angenehmen Duft einer schönen Frau aufgesogen?
Wie oft hatte ich den Eindruck, dass mir die Brust verschnürt ist, ich keine Luft mehr habe [blue](bekomme?), [/blue]einen [strike]ehemals[/strike] geliebten Menschen nicht mehr riechen kann?
Ich stelle mir diese Fragen, ohne mir darauf eine Antwort geben zu können.
Diese Gedanken gehen mir immer durch den Kopf, [blue](treffen auf mein Herz)[/blue] und in mein Herz, wenn ich an die[blue]se[/blue] sieben Wochen denke.

Es ist die Zeit gewesen, als ich erstickte, ich nicht mehr atmen, [blue]nicht mehr [/blue]riechen konnte; die Zeit in der ich im Schlafkoma lag.

„Keine 10%[blue]ige[/blue] Sauerstoffsättigung im Blut“ - Worte wie Blei in meinem Kopf.
Das Ringen [strike]um[/strike] nach Luft, der Kampf gegen den nahen Tod. Zweimal habe ich ihn in dieser Zeit verloren, zweimal haben mich die Grünkittel zurückgeholt in die Welt, in der ich nicht atmen konnte.
Dankbar bin ich ihnen dafür!

Einundzwanzig Tage nach den Operationen brauchte ich, um schlafen und wahrnehmen zu können. [strike]bis ich schlafen und wahrnehmen konnte.[/strike]
So lange lebte ich ausserhalb von mir [blue](selbst?) [/blue][strike]weiter[/strike].

Meine Welt wurde dann sieben Wochen [strike]lang[/strike] von „Evita 2“ bestimmt.
Regelmässig presste sie den Sauerstoff durch den kleinen Schlauch, der in dem Loch [blue](meines?[/blue]) [strike]in meinem[/strike] Hals[blue]es[/blue] steckte.
Sie bestimmte mein Leben.
Sie gab [strike]mir[/strike] den Rhythmus vor.
Ich konnte nach dem Erwachen aus dem Koma nicht sprechen.
Evita hat es verhindert.
Mir blieb das Denken - und nur das.

In diesen sieben Wochen lief mein Lebensfilm [strike]unendlich oft [/strike][blue]in Wiederholungen [/blue] vor meinen Augen [blue](ab?[/blue]).

Ich [strike]glaube[/strike] [blue](bin ganz sicher?), [/blue]es sind diese Spuren, die ich [blue](heute?)[/blue] in dem kleinen Spiegel sehe.
 

Gagjack

Mitglied
Welten der Emotion freigesetzt

Liebe Sandra,

Deine Kritik hat mich "atemlos" gemacht.

Ja, ja ,ja, warum habe ich es nicht selbst bemerkt? (Wozu gibt es u.a. denn sonst die LL!).
Die Kleinschreibung behalte ich bei, denn ich fühlte mich hilflos und klein. So klein wie ein Säugling, mit einem Unterschied: ich konnte denken; ich hatte Worte für meine Situation, meine Gedanken, meine Gefühle.
Vielleicht den Anfang und den Schluß Groß/Klein? Keine Ahnung.
Die anderen Vorschläge- s.o.

Vielen Dank

Christoph
 
S

Sandra

Gast
Hallo Christoph,

man liest in der LL häufig Texte die die Kleinschreibung bevorzugen. Ich habe allerdings noch nie ein so gutes und für mich einleuchtendes Argument für diese Form gelesen, wie hier.

Dir einen schönen Abend :)

Sandra
 
B

bonanza

Gast
ich beglückwünsche dich für diese erfahrung.
ich meine, daß du sie durchgestanden hast und darüber
schreibst oder redest.

du mußt darüber reden, und das machst du in diesem text
nicht schlecht, wie ich finde.

bon.
 
Hallo,
Mich erstaunt immer wieder der Mut, mit dem hier so persönliche Beiträge eingestellt werden. Respekt!
Du kleidest Deine Erfahrung in sehr anschauliche Worte.
Gruß
AM
 

Gagjack

Mitglied
nach Sauerstoff ringend

Hallo AM,

wenn nach so langer Zeit noch ein Kom. kommt, kommt es mir sehr Kom.-würdig vor.

Spaß beiseite, es ist wie es ist:
wenn ich in die Lage versetzt werde, über meine innersten Empfindungen endlich reden (schreiben)zu können, so tue ich das.
Wer oder was mich dazu veranalasst hat, kann ich jetzt nicht mehr sagen; Tatsache ist- ich musste es tun.

Es wird in absehbarer Zukunft noch einen langen (oh weh!) Prosatext dazu geben.
Ich bin jedenfalls auf bestem Wege dorthin.

Vielen Dank für ...

Christoph
 



 
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