aus meinen memoiren: hygiene

flammarion

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Hygiene

Ich war etwa vier Jahre alt, als Irma einmal zufällig beobachtete, wie ich "bettfein" gemacht wurde. Ida hatte mich bis auf das Unterhemd entkleidet, mir Gesicht und Hände gewaschen und zog mir nun das Nachthemd über. Irma sagte: "Aba Oma, so kannst de det doch nich machn! Da zieht ja der janze Nacht-schweiß in det Tachhemd! Du willst doch woll nich, det uff de Schdraße keena mit Christa schpielt, weil se schdinkt?" Ida antwortete unwirsch: "Die hat janischt uff de Schdraße zu schpieln!" Aber sie zog mir in Zukunft das Unterhemd aus, wenn sie mich zu Bett brachte.
Wenn wir Kinder gebadet werden sollten, kochte Ida mehrere Kessel Wasser und schüttete sie in eine Wanne, in die sie uns anfangs beide zusammen hineinsetzte. Waltraud sollte zuerst mich und dann sich waschen. Das tat sie. Die Wanne war nicht besonders groß, Waltraud mußte sich nicht viel bewegen, um mich überall waschen zu können. Nur die Ohren wusch Ida uns. Dazu wickelte sie den Seiflappen um ein abgebranntes Streichholz und fuhr damit in alle Ausbuchtungen bis tief ins Ohrinnere. Das war sehr unan-genehm. Als letztes wurden die Haare gewaschen, wobei Ida uns zum Schluß eine Schüssel warmes Was-ser, das mit Essig angereichert war, über die Köpfe goß. Davon sollten die Haare Glanz und Geschmei-digkeit erhalten. Als wir nicht mehr zusammen in die Wanne paßten, badete zuerst Waltraud, dann stieg ich in das benutzte Wasser. Nun mußte ich mich selber waschen. Es versteht sich, daß ich sehr schnell damit fertig war, denn erstens war es nicht gerade angenehm, zwischen Schmutzflocken zu sitzen und zweitens hatte das Wasser nicht mehr die angenehme Temperatur. Das Haarewaschen wurde jetzt von Ida übernommen, wobei ihr durch einen Unfall steif und gefühllos gewordener kleiner Finger heftig meine Kopfhaut kratzte. In den Genuß dieser Bäder kamen wir einmal im Monat, öfter hielt Ida sie nicht für nötig. An Sonnabenden stellte sie eine große Schüssel warmes Wasser zur Verfügung. Es war jene Schüssel, in welcher wir uns im Sommer die Füße wuschen vor dem Schlafengehen, im Sommer liefen wir barfuß. In ebendieser Schüssel wurde auch der Kuchen angerührt und der Kartoffelsalat angerichtet. Ich konnte kaum lachen, als die Freundin meiner Mutter einen altberliner Kinderwitz kund tat: "Erwin, komm oben, Füße waschen, Mama brauch die Schüssel für Salat!" Ida mokierte sich darüber, daß bei Familie L. die Kartoffeln im Ausguß gewaschen wurden: "Erst pinkeln se rin un denn waschn se die Ka-toffiln!"
Als Waltraud nicht mehr bei uns wohnte, gab Ida die Wanne zum Altstoffhandel. Ich sehe ja ein, daß es ihr zu beschwerlich war, das Bad für mich zu richten, aber hätte ich das unter ihrer Anweisung nicht selbst tun können? Namentlich das Ausschöpfen der Wanne mit Schüsseln, was ja wohl das schwerste für sie war. Sie war der Meinung, daß ich für alles zu blöd sei, so fielen die Bäder weg.
Daß und wie man sich morgens und abends waschen sollte, erläuterte eine Lehrerin im Geschichtsunterricht des siebenten Schuljahres, wo das Mittelalter auf dem Lehrplan stand. Ich hatte keine Angst vor der Pest, die war ja längst besiegt, aber die Lehrerin sagte, daß man sich viel wohler fühlt, wenn man seinen Körper pflegt und daß man dadurch auch hübscher wirkt. So wusch ich mich nun täglich. Ida sagte dazu: "Na, nu übatreibst de aba!"
Irma bemerkte, daß ich (vierjährig) stark aus dem Mund roch. Sie bewegte Ida dazu, auch für mich Zahnputzzeug anzuschaffen. Waltraud mußte mich das Zähneptzen lehren. Sie fuhrwerkte derart in meinem Mund herum, daß mir alles wehtat. Da an den weiteren Tagen nicht auf meine Zahnpflege geachtet wurde, putzte ich sie immer seltener und hörte bald ganz damit auf. Erst, nachdem ich im zweiten Schuljahr eine Großveranstaltung der "Jungen Pioniere" erlebte, wo in einem kleinen Theaterstück aufgezeigt wurde, was mit den Zähnen geschieht, wenn sie nicht regelmäßig geputzt werden, griff ich täglich zur Zahnbürste.
Wenn meine Haare zu lang geworden waren (wenn sie hinten auf die Schultern fielen und vorn meine Sicht behinderten), stutzte Ida sie auf die gewohnte Länge (gerade noch die Ohren bedeckend) zurück. Bis in mein zehntes Lebensjahr verpaßte mir Ida an jedem Morgen die "Hahnekamm"-Frisur. Weil sie den Kamm, der die Haare festhalten sollte, stets heftig über meine Kopfhaut kratzen ließ, brüllte ich beim Frisieren oftmals "wie am Spieß". Ich bin auch heute noch äußerst empfindlich auf der oberen Kopfpartie und gehe ungern zum Friseur. Ida mokierte sich bei Grete L. über mein "albernes Benehmen". Grete L. riet, mir vom Friseur die neue Kinder-Modefrisur machen zu lassen, einen "Korea-Schnitt". Ida erschrak: "Wat forn Ding? Korea-Schnitt? Wie soll denn det aussehn?" - "Na, det is so n Rundschnitt. Da brauchen sich die Jörn bloß zu schütteln, und schon sind se jekämmt." Sie zeigte ihr ein Klassenfoto ihrer jüngsten Tochter und Ida konnte sehen: Kein Kind trug mehr den "Hahnekamm", alle hatten kurzanliegende Haare. "Mensch, da kann man ja die Jungs nich mehr von die Meechns untascheidn!" rief Ida. "Doch, kiek ma richtich hin, bei die Jungs sin die Haare noch kürza!" entgegnete Grete L. So ging Ida mit mir zum Friseur und sah zu, wie der neue Schnitt gemacht wird. Sie hat ihn dann auch noch einige Zeit nachgemacht. Als sie es nicht mehr konnte (da sie auf die achtzig zuging, wollten die Augen nicht mehr so recht), bekam ich regelmäßig Geld für den Friseurbesuch. Als Dreizehnjährige erlaubte ich mir die Extravaganz, die Stirnlocke wachsen zu lassen. Ida tobte: "Det is doch keene Frisur nich! Det schöne Jeld zum Fensta rausjeschmissn!" Aber ich fand mich "cool" und es gab niemanden außer Ida, der meine Frisur beanstandete. Zur Jugendweihe mußte ich mir eine Dauerwelle machen lassen: "Du wirst jetzt erwachsen, du mußt ooch danach aussehn!" Die vielen Stunden tatenlosen Herumsitzens beim Friseur! Grete L. hatte zwar vorsorglich geraten: "Nehm dir n Buch mit!", doch es war gelesen, bevor die Frisur fertig war. Die ätzenden Flüssigkeiten, die die Frisur auf Dauer erhalten sollten! Die Hitze unter der Trockenhaube! Das Ziepen beim Zurechtkämmen! Obendrein sah ich nun viel älter aus. Es hieß ja, daß man bei der Jugendweihe in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen wird, also lächelte ich über die krasse Veränderung meines Äußeren.
Waltraud mußte mir stets die Nägel schneiden. Ich durfte erst als Zehnjährige eine Schere in die Hand nehmen, als der Mathematiklehrer die Nachbildung eines Würfels zur Hausaufgabe machte. Von da an wußte ich, wo die Schere liegt und benutzte sie zum Basteln und um mir selber die Nägel zu schneiden, das tat weniger weh.
Als ich etwa elf Jahre alt war, wollte Waltraud mir zeigen, wie eine Dame ihre Fingernägel pflegt. Sie schnitt mir die Nägel spitz, eine Dame hat nämlich spitze Nägel, und räumte allen Fingernagelschmutz hinfort, bis sie nur noch Weißes zu Tage förderte. Tags darauf waren meine Fingernägel blutunterlaufen. Ida sah es und fragte, warum ich so unerhört dreckig sei. Ich hatte mir nicht zwischen Abendbrot, Schlafengehen und Aufwachen Schmutz unter die Nägel ziehen können, der "Dreck" war auf Waltrauds Nagelpflege zurückzuführen. Ich erzählte Ida davon und sie verbot Waltraud, irgendetwas an mir "herumzufummeln".
Nachdem Ida einer Pediküre bedurfte, bat sie mich (eineinhalb Jahre vor ihrem Tod), ihr die Zehennägel zu schneiden. Alle ihre Zehen waren normal gewachsen, nur die beiden großen und die beiden kleinen Zehennägel waren wie aufgeschäumt, ganz dick und mit vielen Zwischenräumen versetzt. Die Pedikürdame hatte mir gezeigt, wie man diese Problemnägel schneidet und ich kam meiner Aufgabe gewissentlich nach. Endlich konnte und durfte ich etwas. Ida zuckte und keifte zwar gelegentlich, aber ich hatte sie nicht verletzt, sondern nur ihre Zehennägel geschnitten.
1995 war die mir zunächstgelegene Arztpraxis ausgerechnet jene, in der meine "Nichte" eine Anstellung bekommen hatte. Sie hatte Diätköchin gelernt und war jahrelang in einem Krankenhaus beschäftigt. Das qualifizierte sie nun zur Sprechstundenhilfe. Ich hatte Schwierigkeiten mit meinem linken Fuß, er ist kleiner als der rechte und hatte daher einen Sporn entwickelt. Manuela durfte ihn mit Bestrahlung behandeln. Als sie mein Bein an die Anlage anschloß, sagte sie: "Du solltest dir mal wieder deine Füße machen." Ich blieb ratlos zurück - wie "macht" man sich die Füße? Ist waschen und Nägelbeschneiden nicht genug?
Ida schneuzte sich übrigens in den Unterrock, obwohl wir viele Taschentücher besaßen.
 



 
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