aus meinen memoiren: irma

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flammarion

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Tante Irma

Weihnachten 49 erlauschte ich, daß Ida seinerzeit Irma beauftragt hatte, mich spazieren zu fahren. Irma war auch begeistert mit mir losgezogen, aber die Nachbarn fragten: "Nanu, Irma, so jung und schon Mutti?" Die Vermutung der Nachbarn, eine ledige Mutter wie Gerda zu sein, war ihr so pein-lich, daß sie nie wieder mit mir spazieren fuhr.
Als ich sie bewußt wahrnahm, war sie fast zwanzig Jahre alt und springlebendig. Oft hörte ich sie Lieder pfeifen, was Ida mit saurer Miene folgendermaßen kommentierte: "Bei Meedschn, die feifn, un Hühnan, die kreehn, da soll man beizeitn den Hals umdreehn!"
Irma trug ihr dunkelblondes, leicht gewelltes Haar stets kurzgeschnitten, und sie bevorzugte Ho-sen als Bekleidung (das wurde ebenfalls von Ida nicht gutgeheißen). Auch ihre Blusen und Pullover hatten einen leicht männlichen Akzent.
Sie lernte nach Schulabschluß Schlächtermamsell und arbeitete, solange es möglich war, bei einem Schlächter. Dann kehrte der Krieg zu seinem Ursprung zurück, der Schlächter mußte schließen, und Irma wurde Flakhelferin, wo sie sich als sehr tüchtig und mutig erwies. Sie hat viele Brandbomben unschädlich gemacht und betrachtete den Krieg in jugendlichem Leichtsinn gewissermaßen als ein Abenteuer. Von den männlichen Flakhelfern lernte sie das Rauchen und wie man sich die Zigaretten selber dreht. Noch Ende der Fünfziger Jahre drehte sie sich ihre Zigaretten selbst, anfangs aus aufge-lesenen Kippen (auch ich habe ihr viele Kippen gebracht, wofür ich von Ida gescholten wurde), später aus gekauftem Tabak. Sie meinte: "Wenn man den Tabak selbst in die Hand nimmt, weiß man, daß man kein Unkraut raucht." Sie besaß bald außer dem ledernen Tabaksbeutel auch eine kleine "Ziga-rettenmaschine", wo man den Tabak nur noch lose auf das Blättchen streute und alles andere ging wie von selbst.
Irma wußte - genau wie Gerda - um ihrer beider Herkunft, nannte Gerda dennoch oft zärtlich "Schwesterchen". Irma war - obwohl die Jüngere von den beiden - Gerdas Beschützerin. Vielleicht, weil sie so groß und kräftig, burschikos und draufgängerisch war; sie konnte es durchaus mit einem Jungen aufnehmen. Und weil sie Gerda wirklich sehr gern hatte.
DEGUFA war nach dem Krieg mit eine der ersten Fabriken in Berlin, in der die Arbeit wieder auf-genommen wurde, und Gerda und Irma wechselten nach ihrer schlecht bezahlten Arbeit in der Gärt-nerei zu dieser Firma über. Hier bekamen sie außer gutem Lohn auch noch die Schwerstarbeiter-Le-bensmittelkarte; und wenn man clever genug war, konnte man auch Kohlen für den Winter beiseite schaffen. Ganz zu schweigen von Einzieh-Gummi und Einweckringen. Das waren gefragte Dinge auf dem Schwarzmarkt. So litt Familie Seele ein klein wenig weniger Not als viele andere berliner Familien.
Einmal brachte Irma eine Gummiblase mit - ca 30cm im Durchmesser. Ich Fünfjäh-rige durfte damit spielen. Ich hatte schon gesehen, wie Kinder mit Bällen spielen, nun versuchte ich, die Blase auftippen zu lassen. Sie tat es, und ich schlug kräftiger zu, um zu sehen, wie hoch die Blase wohl springen würde. Aber sie platzte und sauste mit lau-tem Pfeifen in unserer Küche herum - glücklicherweise, ohne Schaden anzurichten. Ich brüllte und weinte vor Schreck, und hoffte, daß nichts entzwei ging. Auch fürchtete ich, daß ich bestraft werden würde, weil die Blase kaputt war. Aber ich wurde nur ausge-lacht, weil ich mich so erschrocken hatte.
Ein andermal brachte sie "Gummi-Seifenblasen" mit, eine Gummi-Lösung, aus der man mit Hilfe eines Strohhalms Ballons produzieren konnte, die wie Seifenblasen schwebten, aber wesentlich haltbarer waren. Man konnte sie mehrmals antippen, ohne daß sie platzten.
In den Nachkriegsjahren war Irma heiter und guten Mutes. Über viele ihrer lockeren Sprüche kann ich heute noch schmunzeln, auch wenn manches davon wahrscheinlich Nazi-Jargon war. Sie benutzte die Sprüche in den unglaublichsten Situationen, die hier wiederzugeben zu weit führen würde: "Wenn du denkst, du hastn, huppt er aus m Kastn!" - "Glücklich ist, wer verfrißt, was nicht zu versaufen ist!" - "Det jeht einm durch Mark und Pfennich! (statt durch Mark und Bein)" - "Hasche Haschisch in de Ta-schen, hasche immer waschu naschen!" - "Da stehst de sprachlos vis a vis, möchte bloß mal wissen, wer dieser Sawie war?" - "Hilfe! Mord! Im Wäschekorb! Rettung is nich nötich." - "Hunde, wollt ihr ewich leben?" - "So wird s jemacht, wer nich schterm will, der wird jeschlacht!" - "Auf, auf, schprach der Fuchs zum Hasn, hörst de nich die Jeeja blasn?" - "Wer frisch den Schtier bei n Hörnan packt, bekommt wat Festet inne Hand." - "Lieba arm dran als Arm ab." - "Wo sich Herz und Magen laben, will die Nase auch was haben!" - "Bei Frost und Regenwetter kann man die Faulen nicht von den Fleißigen unterscheiden, da rennen sie alle!"
Wenn Waltraud vor dem Spiegel stand und sich umsah, ob die Strumpfnähte richtig sitzen - 1950 waren Strümpfe mit Naht obligatorisch - sagte Irma lachend: "Du kannst dir drehn, wie de willst, der Arsch bleibt hinten!" Und wenn jemand sehr lange mit dem Frisieren vor dem Spiegel zubrachte, dann sagte sie: "Jib dir keene Mühe, Kleene, aus ner Eule wird doch keen Paradiesvogel!" Begegnete sie auf der Straße einer alten Be-kannten, mit der sie sich verzankt hatte, begrüßte sie sie freudestrahlend: "Jut siehste aus, wie lange bist n schon tot?"
Wenn sie mich dabei erwischte, daß ich in der Nase bohrte, pflegte sie freundlich zu sagen: "Brich den Bohrer nich ab, dein Papa macht dir keen neuen." Das hielt mich eher zu gutem Benehmen an, als wenn Ida mir in der selben Situation auf die Finger schlug. Von Irma lernte ich auch, daß und wie man mit Messer und Gabel ißt, und erst durch sie akzeptierte ich, daß man den Ellenbogen nicht auf die Tischplatte stützt.
Wenn Waltraud und ich burschikos irgendetwas forderten, dann sagte sie zu uns: "Zwei Schlüsselchen öffnen Tür und Tor, zwei kleine, niedliche, blanke, sie kommen in jeder Sprache vor und heißen "Ich bitt" und "Ich danke!" Waltraud mokierte sich: "Det heißt doch bittE un nich so abjehackt bitt!" Ich entgegnete: "So kann man t sich aba bessa merkn!", denn ich war als Siebenjährige noch nicht in der Lage, ihr zu erklären, daß der Reim durch die von der Rechtschreibung abweichende Formulierung einen be-sonderen Rhythmus bekam. Nun war ich wieder "die Doofe", weil ich mir das Richtige anhand vonetwasFalschembesermerkenkonnte
Wir Kinder sagten normalerweise: "Ick nimm . . ." Irma korrigierte dann energisch: "Det heeßt ick nehme! Ick nehme, du nimmst, er, sie, es nimmt, wir nehmen, ihr nehmt, sie nehmen! Nehmen is jenauso wichtich wie jeben, und darum heißt et ooch nich ick jib, sondern ick jebe!" Da hatte sie aber gegen Idas Sprechweise geredet. Erst, als ich in der Schule die Bestätigung für Irmas Behauptung erfuhr, nahm ich ihre Lehre an; und wenn ich sonst noch an ein schwieriges Wort geriet, fragte ich sie nach der Bedeutung oder Schreibweise. So auch nach dem Wort "uralt". Es begegnete mir auf einem Plakat in dem Spirituosengeschäft, in welches mich Irma oft nach einer Flasche "Halb und halb Schimmelgespann" schickte. Auf dem Plakat stand: "Wenn einem Gutes wider-fährt, das ist schon einen Asbach uralt wert". Von "Ural" wußte ich, daß es eine weit entfernte Gegend ist. "Asbach" definierte ich eindeutig als ein Getränk - weil es das Wort "Bach" enthielt - das uralt. Aber wie ist uralen? Krabbelt es im Hals wie Himbeer-brause? Oder war es eiskalt auf der Zunge? Gleich hinter dem Ural begann doch dieses furchtbar kalte Sibierjen! (So hatte Waltraud gesagt.) Es dauerte eine Weile, ehe Irma begriff, was gemeint war, dann lachte sie schallend und klärte mich auf. Das Wort "uralt" wurde zwar benutzt in unserer Familie, aber man ließ mich in dem Glauben, daß es von "Uhr" hergeleitet wurde, was ich gern glaubte, denn unsere Uhr war "uralt". Und als ich lesen lernte, sagte die Lehrerin, daß wir die Buchstaben im Zusammenhang aussprechen sollen; das Wort "abartig" z.B. hätte ich "a bartig" gelesen und überlegt, was für eine Sorte Bart gemeint ist.
Irma war mein gesuchter Ratgeber, bis ich die Freundin meiner Mutter kennenlernte. Von ihr wird später noch ausführlich die Rede sein.
Ich freute mich immer, wenn ich Irma nach Hause kommen hörte. Dann lief ich zur Wohnungstür, nahm sie bei der Hand und zerrte sie in die Küche, wo sie mir die Witze aus der von Ida abonnierten "Berliner Zeitung" vorlesen mußte. Und als ich selber lesen konnte, mußte sie mir erklären, was an manchen Witzen lustig sein sollte. Da gab es z.B. die Rubrik: "Die Anekdote". Da war zuoberst ein Pelikan abgezeichnet, der scheinbar lachte. Ich kannte dieses Tier nicht und war der Meinung, daß es Anekdote genannt wird. (Das Tier hatte einen gewaltigen, halboffenen Schnabel, der war fast so groß wie das gesamte Tier, es erschien mir daher sehr gespenstisch; und weil die Überschrift in zwei Hälften geteilt war, glaubte ich, daß das Tier nicht richtig lebt und auch nicht richtig tot ist, nur anek - tot.) Diese Anekdoten verstand ich nur selten, weil man zu ihrem Verständnis gewisse Vorkenntnisse benötigte. Woher sollte ich sie haben, wo doch weder Ida, noch Gerda, von Familie L. ganz zu schweigen, jemals über berliner Berühmtheiten aus Kunst und Wissenschaft redeten?
Irma behauptete immer, nicht viel Zeit zu haben, doch sie beantwortete meine Fragen so ausführlich und wahrheitsgetreu sie konnte und schob mich nicht zur Seite. Sie war auch imstande, auf eine Frage mit einem klaren: "Das weiß ich nicht!" zu antworten. Dieses Eingeständnis gab mir mehr Kraft und Mut, als wenn auch sie mich an meine Schullehrer oder gar auf "später" verwiesen hätte.
Sie zeigte mir, wie man mit Abziehbildern umgeht, wie man aus Kastanien kleine Körbchen und Puppenwagen schnitzt und wie man aus Eicheln Tabakspfeifen und kleine Männlein bastelt. Sie schenkte mir so nebenbei, also nicht, weil ich Geburtstag hatte oder sonst irgendein Feiertag war, Flaschenteufelchen und ein Kaleidoskop, an beidem hatte ich sehr viel Spaß. Als ich in Grete L.s Anwesenheit in das Kaleidoskop blickte, lästerte sie: "Siehst aus wie ne Blöde! Wat jibt et denn in det Ding zu seehn? Det sind doch man bloß bunte Papierkrümel und andra Dreck, du Dussel! Bloß die Krümel schpiejeln sich da! Du selba kannst nich in den Schpiejel kieken, dafor is et zu dusta in det Ding." Ich versuchte nicht, ihr die märchenhafte Schönheit dieser Spiegelungen zu erklären. Sie sah mich an, als wäre ich ein ekliger Käfer.
Im Winter 49 zeigte Irma Waltraud und mir, wie man Schattenspiele gestaltet. Bald konnten wir kleine und große Hunde, Schwäne, Pferde, Hühner und Hähne und sogar Affen und Giraffen an der Wand erscheinen lassen, woran wir sehr viel Spaß hatten.
Als sie 21 Jahre alt war, hatte sie einen sehr hartnäckigen Verehrer aus dem Westteil der Stadt. Er hieß Heinz und war etwa 10 Jahre älter als sie. Sie sagte ihm immer wieder, daß sie sich nicht an ihn binden würde. Er ignorierte jede Abweisung und machte ihr viele Geschenke, Blumen, Perlonstrümpfe (die sie sogleich an Gerda weiterreichte), Parfüm und vieles andere, auch einen großen Radioapparat. Irma lud mich sonntags häufig ein, den RIAS-Kinderfunk zu hören, aber diese Sendung entsprach nicht meinem Geschmack. Es erschien mir alles so gekünstelt und unnatürlich, besonders die hochdeutsch sprechenden Kinder. Kein mir bekannter Mensch sprach Hochdeutsch! (Ich ging damals noch nicht zur Schule.) Der RIAS-Kinderfunk war daher für mich nur ein Auswuchs der "Brotlosen Kunst". Aber es beglückte mich, zu wissen, daß man sich die Mühe machte, Sendungen eigens für Kinder zu gestalten.
Besagter Heinz jedenfalls ließ von seinen Bemühungen um Irma erst im Jahre 1952 ab, als sie ihm ausgangs eines seiner Besuche vor unserer Haustür klipp und klar sagte, daß sie sich nur zu Frauen hingezogen fühlte und er schon aus diesem Grund keine Chance bei ihr hatte. Er entgegnete, daß er sie gerade deshalb so reizend findet. Irma nannte ihn daraufhin einen fiesen, perversen Spanner, ohrfeigte ihn und ließ ihn auf der Straße stehen. Ida schlug nach diesem Bericht die Hände in echter Verzweiflung über dem Kopf zusammen und jammerte: "Den Dussel hättest du heiratn könn, denn weerste doch een for allemal vasorcht jewesen, du deemlijet Kamel!" Irma entgegnete stolz: "Ick vasorch ma alleene, det is so sicha wie jewiß! Außadem muß heutzudaare ne Frau nich unbedingt heiratn. Die Gleichberechtigung ermöglicht jedem n jesichertet Auskomm, det is jetz Sozjalismus!" Diese Worte machten mir den Sozialismus sehr sympathisch. Auch ich wollte später nicht - ähnlich wie Grete L. - angewiesen sein, darauf zu warten, daß mir mein Ehemann gnädig das Wirtschaftsgeld gibt, mit dem ich dann auf Biegen und Brechen die Familie zu ernähren hätte. Mit Blick auf das L.sche Familienleben empfand ich die Ehe als eine allseits befürwortete moderne Form der Sklaverei. Ich war - achtjährig - fest entschlossen, niemals zu heiraten.
Ich hatte diesen Heinz auch kennengelernt. In meiner Erinnerung sehe ich einen eher unscheinbaren jungen Mann vor mir. Er war so zierlich, daß er nahezu feminin wirkte. Ich halte es für möglich, daß er Irma wirklich geliebt hat, wie wäre sonst seine jahrelange Anhänglichkeit zu erklären? Es gibt Männer, die sich nur in Lesben verlieben, ebenso wie es Frauen gibt, die sich nur in Schwule verlieben (sie sind bereits mehrfach literarisch belegt). Doch ehe diese Randgruppen gesellschaftlich anerkannt werden, muß noch sehr viel Toleranz unter den Menschen wachsen.
Für längere Zeit hatte Irma eine Freundin namens Rita. Das war eine energiegeladene Person mit leuchtend blauen Augen und reichem schwarzem Haar. Sie wohnte ein paar Monate bei Irma. Sie war sehr resolut und unternehmungslustig. Sie ernährte sich vom Verkauf eines von ihr produzierten Bügelfaltenfestigers. Sie hatte sich diese Erfindung patentieren lassen. Sie bestand aus einem Stift, der einem Radiergummi ähnlich sah, mit dem man - - - "sachte über die Bügelfalte streicht, danach das Bügeleisen wie gewohnt benutzt, und schon sitzt die Bügelfalte wie genäht! Äußerst strapazierfähig! Nie wieder zerknitterte Hosen! Sie können jede Arbeit verrichten, sich noch so oft bücken, mit der Freundin in der Wiese liegen und wer weiß was für Dummheiten machen, Ihre Hose bleibt der Stolz des Besitzers, knitterfrei bis zur nächsten Wäsche! Und dann wieder: Sachte mit dem Stift über die Falte . . ." So offerierte sie ihren Artikel. Sie stand auf den Wochenmärkten und schrie sich die Lunge aus dem Leib. An jedem Tag verkaufte sie einige Stifte, denn ihre heitere Art sprach die Leute an.
Einmal nahm sie mich mit, um die Ingredenzien für ihre Stifte einzukaufen. Sie brauchte dazu ein ganz bestimmtes Paraffin, das es nicht überall gab. Wir klapperten die einschlägigen Geschäfte ab und hatten überall Pech, nirgendwo hatte man diesen Artikel noch vorrätig. Endlich sagte uns eine Ladenbesitzerin: "Der det Zeuch produziert hat, is doot. Det Zeuch kriejen Se nirrjens mehr, Sie müssen sich schon an een anderet Zeuch jewöhn!" Aber das hatte Rita schon versucht. Jedes andere Paraffin ließ die Masse kraus werden und die Stifte zerbröselten. Sie probierte in unserer Küche etliche Tage andere Zusammensetzungen der Masse aus, bis sie eine gute Mischung gefunden hatte. Gerade zur rechten Zeit, denn Ida sagte unvermittelt: "Nu is det aba ma jenuch mit den Jeschdank in meine Küche!" und Rita beeilte sich, alles aufzuräumen und zu säubern.
Im selben Jahr nahm sie mich mit auf den Weihnachtsmarkt. Dort war ich nie zuvor, und ich hatte ihn mir so richtig märchenhaft vorgestellt. Weihnachten treffen alle Märchen zusammen. Märchen sind Träume, Weihnachten ist ein alljährlich wiederkehrendes Wunder. Ich hoffte, daß uns auf dem Weihnachtsmarkt irgendein Wunder begegnen würde, dem ich dann zurufen könnte: "Hier bin ich, was darf ich zu Deiner Vollendung tun?" Stattdessen traf ich auf das jedem bekannte heillose Gedränge. Rita schützte mich mit ihrem Körper vor Anrempelungen und führte mich zu einem Karussel, wo ich eine Runde mitfahren durfte. Sie setzte mich zu ein paar Kindern in die Gondel, was mir sehr unbehaglich war, denn jene waren gut bekannt miteinander und fühlten sich durch mich gestört, was sie mich durch "unabsichtliche" Tritte und Püffe spüren ließen. Ich war froh, als die Fahrt zu Ende war. Rita wunderte sich, daß ich nicht noch einmal fahren wollte und freute sich, auf diese Weise Geld zu sparen.
Angeregt durch die vielen Wohlgerüche des Weihnachtsmarktes bekam ich Appetit. Ich fragte, ob sie etwas zu Essen kaufen würde? Sie kaufte einen kandierten Apfel. Derartiges hat-te ich nie zuvor gegessen. Es war ein großer Apfel. So groß, daß ich ihn nicht anbeißen konnte. Da machte Rita mir den Anfang. Der Apfel war essigsauer, mir zieht sich heute noch alles zusammen, wenn ich an diesen Apfel denke! Die rote Glasur war messerscharf und schnitt mir in den Gaumen. Ich konnte nicht verstehen, daß das eine beliebte Leckerei sein sollte, wie konnte man nur so etwas essen? Obendrein bekam man ganz klebrige Finger davon, klebrige Lippen und Nase! Namentlich letztere fing gar arg an zu frieren, nachdem sich der Zucker nicht abwischen ließ. Wir gingen also völlig unamüsiert nach Hause, denn auch Rita hatte nicht das gesuchte ganz besondere Weihnachtsgeschenk für ihre Eltern finden können. (zwanzig Jahre später habe ich noch einmal einen kandierten Apfel probiert und endgültig befunden: Bonbon gehört nicht auf einen Apfel, er ißt sich besser ohne Bonbon und Bonbon lutscht sich besser ohne Apfel. Ich habe meinen Kindern nie einen kandierten Apfel gekauft.)
Auf dem Heimweg wurden wir von einer dunkelhäutigen Frau unbestimmbaren Alters angesprochen. Einige Löckchen ihres tiefschwarzen Haares lugten unter ihrem riesigen, mit dichten, langen Seidenfransen verzierten, verwegen gebundenen Kopftuchs hervor, das auch den Blick auf große goldene Ohrringe freigab. Diese Ohrringe gehören zu dem Erstaunlichsten, das ich in meinen frühen Kindertagen sah. Da waren nicht nur die halbmondförmigen Kreolen, sondern auch feine Kettchen, an denen blaue, grüne und rote Prismen selbst den geringsten Sonnenstrahl in vielfarbige Blitze verwandelten. Die Frau vermutete in uns Mutter und Tochter. Sie hatte Kleider unter ihrem weiten Mantel verborgen und zeigte uns eines, das mir gepaßt hätte. Es war ein Trachtenkostüm aus schwarzem Tuch, aufwendig in südeuropäischer Art mit Perlen und Goldstickerei verziert. Es gefiel mir sehr gut, besondes die blendendweiße Bluse mit dem zarten Spitzenkragen. Sie klagte uns ihr Leid, daß der Verkauf der Kleider ihrer verstorbenen Tochter ihr einziger Broterwerb sei. Schon deshalb hätte ich ihr das Kleid abgekauft. Aber Rita war sich nicht sicher, ob sie die vierzig Mark von Ida wiederbe-kommen würde, und ich bestätigte ebenso lauthals wie wahrheitsgetreu: "Oma hat keen Jeld!" Obwohl Rita klarstellte, daß sie nicht meine Mutter ist, folgte uns die Frau noch eine ganze Weile in der Hoffnung, daß ich Rita doch noch zu dem Kauf überrede und ging im Preis sogar auf fünfundzwanzig Mark hinunter. Letztendlich verfluchte sie uns in einem sonderbaren Kauderwelsch und gipfelte in der Behauptung, daß ich zeitlebens niemals ein so schönes Kleid auch nur berühren werde, geschweige denn tragen, denn so ein schönes Kleid würde ich nie wieder bekommen, das könne sie als Zigeunerin garantieren. Als wir sie endlich los waren, knurrte Rita: "Sowat! Vakooft die die Kleider ihrer verstormnen Tochter! Wer s gloobt, wird seelich! Davon kann se doch nich leehm! Die wollte uns bloß det Jeld aus de Tasche locken!" Diese Ansicht wurde von Ida und Grete L. geteilt. Auch lobten sie mich, daß ich auf das Kleid verzichtete, denn Ida hatte wirklich kein Geld für Kleider, und wenn sie noch so preiswert und gut waren und von mir noch so sehr begehrt wurden. Einzig der Fluch der Zigeunerin, daß ich nie ein so schönes besticktes Kostüm besitzen werde, wurde von Ida und Grete L. ernstgenommen. Aber ich wußte schon, daß Grete L. Luftblasen redete, wenn sie die Augen auf eine bestimmte Weise aufriß, und lachte innerlich über ihre Auffassung. Sieben Jahre später schenkte mir der geschiedene Mann der Freundin meiner Mutter (später Onkel Erich genannt) ein russisches Folklore-Kostüm. Es war zwar nicht wie das Zigeunerkostüm mit Gold und Perlen bestickt, aber es hat mir genausogut gefallen.
Heute - wo ich diese Erinnerungen aufrufe - weiß ich, daß mir in dieser Zigeunerin tatsächlich ein Wunder begegnet war. Sie war Überlebende des Holocaust, von welchem ich damals nichts ahnte. Und ich habe nichts für sie getan. Und ich wurde dafür gelobt. Unglaublich.
Das Weihnachtsfest 49 wurde mit Familie L. gemeinsam gefeiert. Damals war gerade ein Schlager in Mode, der lautete: "Rita war 18 und jung, Rita war 18 und schön, nie hatte sie einem Mann tief in die Augen gesehn . . ." Dies sang man nun lautstark mit hämischen Seitenblicken auf Irmas Freundin Rita. Ich wußte inzwischen (durch den Blick in Herrn L.s und Alfreds Augen), daß es gar nicht so erhebend ist, "einem Mann tief in die Augen zu sehn" und war der Meinung, daß Rita überhaupt nichts verpaßte, und sagte leise zu ihr: "Mensch, sind diiie doof!" Irma und Rita sahen sich verdutzt an, dann lachten sie, und mich beschlich das Gefühl, mich selbst ins Abseits gestellt zu haben. Doch ich stand dazu. Irma und Rita waren mir wesentlich lieber als Herr L. oder Alfred. Und ich urteile heute noch genauso.
Danach hatte Irma eine Freundin, die gewiß zehn Jahre älter war als sie. Sie hatte kurze, strubbelige, mittelblonde Locken, die ihr wirr vom Kopf abstanden, und sie war meistens grell geschminkt. Sie besaß einen ebenso strubbeligen kleinen Hund unbestimmbarer Rasse, dem sie gern den Bauch in seiner vollen Länge streichelte. Der Hund war das so gewöhnt, daß er sich vor jedem, der ihn streicheln wollte, sofort auf den Rücken warf. Mir war es unangenehm, ihn zwischen den Hinterbeinen zu streicheln, aber sein Frauchen sagte auffordernd zu mir: "Mach et man ruhich, det hat der jenau so jerne wie jeda andre, ob Mensch oda Tier, alle wolln se jenau DA jeschtreichelt werdn!" Ich teilte ihre Meinung nicht. Es traf auf mich nicht zu. Ich ließ mich zwar von Alfred "genau DA" streicheln, aber es war mir unangenehm. Das Begehren der Erwachsenen erstaunte mich. Ich ließ es ebenso über mich ergehen, wie Ida und andere Erwachsene "die neue Zeit" hinnahmen.
Bis zu meinem zehnten Lebensjahr war ich der festen Überzeugung, daß Irmas Be-kanntschaften ganz normale Freundinnen waren, Freundinnen, wie sie jede Frau hat. So wäre es auch geblieben, wenn mich Waltraud nicht aufgeklärt hätte: "Die Irma is schwul." Nun dämmerte es mir, daß die Freundinnen einander liebten, daß sie zärtlich zu einander waren, daß sie genau die sexuelle Erfüllung miteinander fanden, die Alfred bei mir suchte. Ich dachte: "Wat det nich allet so jibt!" und freute mich, daß Irma immer Freundinnen hatte, die heitere, lebenslustige Menschen waren, sodaß auch sie stets heiter und energiegeladen war.
Ein beliebter selbsterfundener Filmtitel von Gerda lautete: Der rasende Pfortz auf der Gardinenstange". Weil ich allzugern die Kinokindervorstellungen besuchte, wollte ich oft schon vorher wissen, wie der Film heißt. Irma wußte mehr als alle, also fragte ich sie an einem Sonntagmorgen, wie der heutige Film heißt. Sie sagte, sie wisse es nicht. Ich glaubte ihr nicht, sondern unterstellte, daß sie mich veräppelt. Zwischendurch reichte Ida uns Kindern das Frühstück. Es bestand aus Schmalzstullen, wobei auch zwei Kanten vakant waren. Waltraud erschien nach dem ersten Bissen der mir zugedachte als schmackhafter, weil er tiefer eingeschnitten war. Wir tauschten. Dann stellte sie fest, daß mein Brot viel härter war als ihres, und sie wollte ihren Kanten zurück. Nun sagte Irma ernst: Der heutige Film heißt "Die Jagd nach dem Schmalzkanten". Ich betrachtete das als Antwort auf meine Frage. Auf dem Filmplakat stand: "Anna Ith". Ich ging noch nicht zur Schule. Fragte jemand nach dem Titel des heutigen Films, sagte ich strahlend: Es gibt heute "Die Jagd nach dem Schmalzkanten" und hielt alle für doof, die sagten, daß der Film "Anna Iht" heißt. Dieser Film über eine Heldenjungfrau beschäftigte mich sehr lange. Ich war froh, daß es nicht um einen Schmalzkanten ging. Waltraud hatte mir nicht Einhalt geboten. Sie grinste nur. Sie konnte lesen, sie hätte mir den wahren Filmtitel nennen können!
Um 1950 fragte Irma Waltraud und mich: "Ihr eßt doch jerne Bücklinge, wa? Könnt a habn. Wieviele wollt ihr?" Ich erwiderte begeistert: "Eeen schaff ick janz beschtimmt!", ohne lange darüber nachzudenken, wie sie wohl an den raren Artikel herangekommen war; sie besaß ja öfter mal etwas Besonderes. Irma sagte: "Ihr könnt soo viele haben, wie ihr nur wollt!" Nun sagte ich: "Denn will ick dreie!", denn dann hätte ich noch einen für morgen und könnte auch noch der Oma einen abgeben. Irma verneigte sich dreimal vor mir, wobei sie feierlich sagte: "Ein Bückling, zwei Bücklinge, drei Bücklinge, bitte schön!" Ich erkannte erheitert, daß Worte mitunter eine doppelte Bedeutung haben, und lachte herzaft. Waltraud war auf das Spiel nicht eingegangen, für sie war es ganz einfach nur "Blödsinn".
Dann hielt Irma ihre Zeigefinger steil in die Höhe und fragte: "Wißt ihr, was das ist? Das sind Mohrüben. Und was sind Mohrüben? Polizeifinger. Und was machen Polizeifinger? Das!" Und dann kitzelte sie uns an den Rippen, daß wir vor Wonne kreischten.
Damals versuchte sie sogar, mir auf meine Bitte hin das Pfeifen und Mundharmonikaspielen beizubringen, aber ich begriff nach ihren Erklärungen und selbst nach ihrem Eingriff in meinen Mund noch immer nicht die Stellung der Zunge bei diesen Unternehmungen. Im Alter von zweiundzwanzig Jahren konnte ich dann plötzlich wie von selbst Melodien pfeifen, aber eine Mundharmonika habe ich nie wieder angefaßt.
Eine ihrer Freundinnen hatte ihr einen kleinen eingerahmten Spruch geschenkt, er war dargestellt wie ein kleines Zimmer, d.h. es standen richtige kleine Möbel an den Seiten und auf der Wand stand: "Wer nie sein Brot im Bette aß, weiß nicht, wie Krümel pieken!" Über diesen Spruch habe ich jahrelang philosophiert: "Ist es etwa angenehm, wenn die Krümel im Bett pieken? Oder ist der Spruch eine Warnung?" Ich kam zu keinem Ende. Irma erklärte mir diesen Spruch als Scherz und ich fand mal wieder nicht die Stelle zum Lachen. Genauso ging es mir auch mit einem Lieblingsspielzeug von ihr. Es handelte sich dabei um zwei kleine Hunde aus Plaste, die einen Magnetkern enthielten, sodaß sich bei Annäherung der Tiere aneinander die Schnauze des einen am Hinterteil des anderen festklebte. Die Tiere rasten förmlich aufeinander zu, der eine vorwärts, der andere rückwärts. Darüber konnte Irma mit ihren Freundinnen stundenlang kichern. Ich hatte auf der Straße gesehen, daß alle Hunde sich so verhalten, jeder Hund schnuppert am Hinterteil des anderen. Ich weiß noch heute nicht, was es darüber zu lachen gibt. Damals unterhielt ich mich mit Onkel Erich darüber, und er erzählte mir eine Sage zu diesem Thema, daß nämlich nach einem Kongreß der Tiere der Hund mit einem Brief zum König geschickt wurde. Er trug ihn in der Schnauze, damit er schnell laufen konnte. Dann mußte er ein Gewässer überqueren, und er klemmte sich den Brief unter den Schwanz, damit er beim Schwimmen besser atmen konnte. Er dachte nicht daran, daß sein Schwanz beim Schwimmen steil in die Luft ragt, so ging der Brief verloren. Seit jenem Tag beschnuppern sich die Hunde auf diese Weise, um herauszufinden, wo der Brief geblieben ist.
Übrigens bezeichnete Irma sich selbst gern als "Intelligenzbestie".
1952 hatte sie eine Freundin, die englisch sprach. Wenn Irma angetrunken war, ließ sie uns an ihrem neuen Wissen teilhaben; das war lustig, denn sie übermittelte uns das Englische anhand der Ähnlichkeit mit dem Deutschen. Viele Worte kommen im Englischen und im Deutschen vor, jedoch häufig mit ganz anderem Sinn. So lernte ich von ihr den Buchtitel "The poor People of London" in der fehlerhaften Übersetzung "Alle Londoner sind nur Piepels". Natürlich sagte sie uns auch, wie die richtige Übersetzung heißt. Abschließend bemerkte sie: "Seht a, det sind so typische Eselsbrücken. Wenn man sich irrjendwat nich richtich merken kann, baut man sich ne Eselsbrücke. Jeda Esel braucht ne Brücke!"
Jene Freundin hatte ihrerseits eine Engländerin zur Freundin, die nur wenig deutsch sprach. Einmal berichtete Irma uns über eine Unterhaltung in der Wohnung dieser Freundin. Irma hatte recht schwungvoll ihre Meinung über ein aktuelles Thema verlauten lassen und theatralisch mit den Worten geschlossen: "Irr ick ma oda irr ick ma nich? Ick irr ma nich!" worauf die Engländerin leise, aber fest in das allgemeine nachdenkliche Schweigen hinein sagte: "Du doch Irma!" Ein liebenswerter Irrtum.
Wenn Irma sich in unserer Küche mit Waltraud und mir auf eine längere Unterhaltung eingelassen hatte, drehte sie sich häufig mitten im Satz um mit der scherzhaften Bemerkung: "Ihr haltet mich bloß von der Arbeit ab!", dabei war sie doch diejenige, die das Gespräch begonnen hatte! Wir lachten und wandten uns anderen Dingen zu.
1950 wechselte Irma von DEGUFA zur BVG über. Hier hatte sie den Vorteil der Dienstkleidung, die ihrem Modegeschmack sehr entgegenkam. Und hier war es auch möglich, den Verdienst durch nicht abgerechnete Fahrscheine etwas aufzubessern. Die leeren Fahrscheinblöcke schenkte sie uns Kindern. Wir bastelten daraus Möbel für unsere Puppenstuben. Wenn der Neid der Familie L. nicht gewesen wäre, hätte ich nie geglaubt, daß Irma Diebstahl begangen hatte. Denn laut Ida war alles richtig, was Erwachsene tun.
Auf all ihren Arbeitsstellen war sie anstellig und fleißig. Da sie auch sehr sparsam war, konnte sie sich bald ein Fahrrad kaufen, um nicht mehr auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen zu sein. Anfangs stellte sie ihr Fahrrad in den Korridor, aber das paßte der Ida nicht, Irma mußte es in ihre Stube stellen, wo es ihr arg im Wege war. 1951 wurde von Alfred und Herrn L. der defekte Badeofen nebst Wanne aus unserem Badezimmer entfernt; und dort konnte Irmas Fahrrad nun stehen, ohne jemanden zu stören. Jedesmal, wenn ich daran vorüber kam, amüsierte es mich, daß das Fahrrad die Aufschrift "Diamant" trug. Irma pflegte das Rad so, daß es auch wirklich wie ein Diamant blitzte.
Als die Motorroller auf den Markt kamen, kaufte sie einen "Sperber". Damit kam sie schneller zu ihren Ausflugszielen und konnte jemanden auf dem Rücksitz transportieren. Der "Sperber" wurde anfangs im Hausflur abgestellt, das duldete nun wieder die Hausverwaltung nicht. So stellte sie ihr Gefährt auf den Hof, dort war genügend Platz.
Kurz nach meinem achten Geburtstag bemerkte ich, daß Irma eine Zigarettenschachtel in der Küche vergessen hatte. Ich war wieder einmal ganz allein in der Wohnung und hatte Langeweile, so steckte ich mir eine Zigarette an. Ich hatte oft genug beobachtet, wie es gemacht wird und hatte keine Schwierigkeit damit. Der heiße Rauch biß mir in Zunge und Hals. Ich bemühte mich, das zu genießen, denn ich wußte durch die Reden der Erwachsenen, daß Tabak ein Genußmittel ist. Ich konnte den Genuß nicht nachvollziehen, rauchte die Zigarette aber gänzlich auf. Nun wußte ich, wie es schmeckt und konnte zeitlebens darauf verzichten.
Manchmal neckte Irma mich im Vorübergehen mit kurzen Worten, die aber nie so verletzend waren, wie ich es von allen anderen gewöhnt war. Da sie keine Antwort abwartete, konnte ich nun schmollen oder vergessen. Oft tat ich beides. In jedem Fall aber vergaß ich es, denn Irma war eine lustige Person und hatte nur Spaß gemacht. Nur eine negative Bemerkung hat mich nachdrücklich beeinflußt: Ich stand vor dem Spiegel und probierte erstmals in meinem Leben aus eigenem Antrieb eine neue Frisur. Irma durchschritt den Flur und ich fragte sie: "Seh ick so bessa aus?" sie erwiderte ohne mich anzusehen: "Du mit deine Schweinelocken!" So war mir kurz und schmerzhaft jegliche Eitelkeit für alle Zeit vergangen.
Eine andere Freundin von Irma hieß Helga. Sie war ein klein wenig größer als Irma, stets tadellos gekleidet und frisiert, eine richtige Dame mit dezentem Make-Up und ausgezupften Augenbrauen. Ich bat sie, mir einen Vers in mein Poesie-Album zu schreiben. Aber sie hat-te eine derartige "Doktorschrift", daß ich sie nicht entziffern konnte. Ich bat sie, mir vorzu-lesen, was sie geschrieben hatte. Stattdessen schrieb sie auf die nächste Seite: "Da Christa das nicht lesen kann, fang ich noch mal von vorne an." und wiederholte den Text in derselben Krakelschrift. Nie habe ich erfahren, was sie mir für einen Spruch ins Album geschrieben hatte!
Wenn ich Irma bat, mir ein Märchen zu erzählen, begann sie zu singen: "Rotköppchen hübsch und fein ging in den Wald allein, da kam der böse Wolf und fraß es auf!"
Sie erzählte lieber Witze, z.B. diesen: Zur Jahrhundertwende lebte in Berlin eine Mut-ter mit drei Töchtern, die alle einen Sprachfehler hatten, sie konnten weder "g" noch "s" aussprechen. Jedes Jahr schärfte sie ihren inzwischen erwachsenen Töchtern ein, den Mund zu halten, wenn sie beim Tanz einen jungen Mann kennenlernen, damit er nicht schon vor der Hochzeit merkt, was er sich einhandelt. Eines Tages beherzigten die Mädchen das und kehrten alle mit einem netten jungen Kavalier an den Tisch zurück. Aber die berliner Tanzsäle waren auch damals nicht so richtig sauber, und eines der Mädchen erblickt eine Spinne an der Wand. Entsetzt schrie sie auf: "Eine Pinne! Eine Pinne!" Die zweite flüsterte ihr ebenso entsetzt zu: "Bit du dille! Bit du dille! (Bist du stille)" Die dritte aber sagte sehr vergnügt: "Na, ein Dück, det it dit nit dedaat habe! (Na, ein Glück, daß ich das nicht gesagt habe)" Oder diesen: Klein-Erna fragt: "Mutti, was ist ein Roler?" - "Du meinst einen Roller, aber den kennst du doch!" - "Nein, ein Roler, Mama." Die Mutter schickt das Kind zum Vater. "Papa, was ist ein Roler?" - "Du meinst einen Roller, nicht wahr?" - "Nein, ein Roler." - "Ja, woher hast du denn das Wort? Vielleicht ergibt sich der Sinn ja aus dem Satzzusammenhang." - "Von den Kindern auf der Straße, die singen immer: "Tittiroler sind lustig . . ." Titti kenn ich, aber was ist ein Roler?"
Ida verbot mir, in Irmas Zimmer zu gehen, ganz gleich, ob sie zu Hause war oder nicht. Aber die wenigen Blicke, die ich in ihr Zimmer werfen konnte, lassen mich verkünden, daß es stets ordentlich und sauber war, ebenso wie ihre Kleidung und Wäsche. Selten sah ich, daß sie Wäsche wusch, das erledigte wahrscheinlich ihre jeweilige Freundin für sie.
Auch sah ich sie selten eine Mahlzeit zubereiten. Sie aß meist auf ihrer Arbeitsstelle zu Mittag. Was sie zum Abendbrot benötigte, hatte sie in ihrer Stube. Und wenn sie hin und wie-der ihre Freundinnen am Wochenende eingeladen hatte und für sie kochte, verließ Ida demonstrativ mit mir die Küche, um "die Sauerei nich mit ansehn zu müssn". Aber Irma beeilte sich mit der Kocherei und hinterließ die Küche nach Möglichkeit sauberer, als sie sie vorgefunden hatte. Einmal wollte sie zusammen mit einer Freundin Kohlrouladen kochen. Sie trugen heiter alles zum Tisch, was sie benötigten, und kamen dann in Schwierigkeiten: Kocht man zuerst die Kartoffeln oder den Kohl? Kocht man den Kohl überhaupt, oder wickelt man ihn roh um das Fleisch? Irma fragte mit tiefem Erstaunen in der Stimme: "Ja, hast du denn noch niemals Kohlrouladen gekocht?" - "Nein." entgegnete die Freundin tief beschämt. "Na, ick ooch nich!" lachte Irma tröstend. Soviel ich weiß, gelang ihnen die Mahlzeit dann doch.
Einmal stand ich neugierig in der Küche, um zu sehen, was Irma ihren Freundinnen wohl vorsetzen würde. Es sollte u.a. einen Obstsalat geben. Auf dem Küchentisch stand eine große Tüte mit Äpfeln. Ich hatte schon mehrere Monate keinen Apfel mehr gegessen und fragte lüstern: "Tante Irma, bleibt da vielleicht n Appel übrich?" Gutgelaunt antwortete sie: "Kannst dir jleich een neem." Ich griff in die Tüte, ohne hineinzusehen und hatte ein Prachtstück von Apfel in der Hand, das ich mit großer Lust sogleich herzhaft anbiß. Aber so hatte Irma es nicht gemeint, sie hatte "gleich" gesagt und nicht "auf der Stelle". Sie schüttete die Tüte aus und sah, daß ich den einzigen großen Apfel erwischt hatte, die anderen waren nicht halb so schön. Nun war sie böse mit mir, ihre gute Laune war dahin. Jetzt sagte sie nicht mehr: "Du sollst nich leehm wie n Hund", sondern wies mich aus der Küche.
Selbst Irma, die so tolerant und gebildet war, stimmte eines Tages in den allgemeinen Chorus gegen meine Mutter ein mit der Bemerkung: "Deine Mutter kann keene Witze azeeln, die vasaut imma die Poänkte." Das hat mir sehr weh getan. Nach aller anderen üblen Nachrede sollte ich nun auch noch hinnehmen, daß meine Mutter keine Witze erzählen konnte. Heute vermute ich, daß Irma nicht akzeptierte, daß es unterschiedliche Arten von Humor gibt, denn ich habe meine Mutter als sehr humorvollen Menschen kennengelernt und viel mit ihr gelacht.
Während Irmas Tätigkeit bei der BVG ließ sie sich für den Dienst bei der Volkspolizei anwerben. Hier lebte sie förmlich auf. Sie war mit Leib und Seele dabei, die Arbeit machte ihr sichtlich Spaß. Ihre Anstellung bei der Polizei war leider nur von kurzer Dauer. Sie verliebte sich sehr heftig in eine Kollegin und lernte von ihr nicht nur alle Genüsse der lesbischen Liebe kennen, sondern auch den Alkoholmißbrauch. Es war nur eine Frage der Zeit, daß man sie beide betrunken im Dienst erwischte. Das darauffolgende Disziplinarverfahren gipfelte darin, daß Irma aus dem Polizeidienst entlassen wurde. Aber nicht das war das Schlimmste, sondern die Reaktion der geliebten Freundin. Sie gab Irma die Schuld an allem und wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben. Dieser Schicksalsschlag hat Irma sehr schwer getroffen. Sie trank eine ganze Flasche Schnaps leer, zog ihr hübschestes Nachthemd an, legte sich auf ihr Bett, stellte eine Schüssel daneben und schnitt sich die Pulsadern auf. Das Gefühl für Ordnung und Sauberkeit war ihr so in Fleisch und Blut übergegangen, daß sie selbst in dieser tragischen Situation bestrebt war, keine häßliche Pfütze zu machen.
Irgendwie hatte Ida jedoch gespürt, daß mit Irma etwas nicht stimmte. Sie wollte mit ihr reden, fand aber die Tür verschlossen. Es war das erstemal, daß Irmas Tür verschlossen war. Ida schlug Krach. Anhand der Reaktion - absolute Stille - erkannte sie, daß schnelle Hilfe geboten war. Sie holte Herrn L. herunter, damit er die Zimmertür aufbricht. Als sie sah, was geschehen war, schickte sie rasch nach unserem Hausarzt, der auch sofort kam und die Blutung stoppte. Irma wurde gerettet - und sie war nicht froh darüber. Das wurde allgemein ignoriert. Das Leben geht weiter! Der Arzt übergab eine Packung Beruhigungstabletten. Ida schickte mich mit diesen Tabletten zu Irma und trug mir auf, ihr zu sagen, daß sie nicht so blöd sein soll, die Dinger alle auf einmal zu nehmen. Ich könnte mich heute noch dafür ohrfeigen, daß ich diesen Auftrag wortwörtlich und in Idas Gestus erfüllte! Irma hatte mehr Mitgefühl verdient; zumal Ida mit ihr auch nicht die bei Mädchen sonst üblichen Scheerereien hatte. Irma hatte stets für die Familie mitgesorgt in den harten Kriegs- und Nachkriegsjahren. Das aber war nun alles vergessen. In Idas Augen war sie abartig und verabscheuungswürdig.
Seit jener Zeit war Irma verschlossen und in sich gekehrt. Ihr heiteres Wesen hatte sich gänzlich verloren. Sie trank jetzt regelmäßig und kam meist nur zum Schlafen nach Hause. Sie fand zwar immer wieder eine Freundin, aber keine Beziehung hielt für längere Zeit.
Wenn sie auf ihre Trinkgewohnheiten angesprochen wurde, antwortete sie je nach Laune: "Prost, Pulle, wie süß ist dein Loch!" oder: "Doof frißt, Intelligenz säuft!" Diesen Satz wendete ich - dreizigjährig - in erweiterter Form auf mich selber an: "Ick bin doof und versuche manchmal, intellijent zu sein."
Ich war etwa zehn Jahre alt, als Irma mich ein klitzekleines Gläschen Likör probieren lassen wollte. Ich warf den Kopf zurück und sagte stolz eines der zehn Gebote der "Jungen Pioniere" auf: "Junge Pioniere trinken keinen Alkohol!" und ging ihr aus dem Weg. Darüber war sie regelrecht erbost. Ich war nicht in der Lage, auf sie einzugehen. Sie war als "absonderlich" verschrien, und ich wollte "normal" sein.
Häufig kam es vor, daß sie an Tagen von Familienfeiern schon halb betrunken war, bevor Alkohol an die Gäste ausgeschenkt wurde. Dann sagte Ida giftig zu ihr: "Konnts de wieda nich de Zeit abwaaten, wa, hast de wieda vorjefeiat, wa?" Sie verließ dann das Haus und blieb der Feier fern. Sie wollte wahrscheinlich nicht zu einer Familie gehören, die keine war.
Das Leben ging also weiter, Irma aber hatte sich merklich verändert. Sie war nicht mehr so leicht ansprechbar für mich und auch hart anderen gegenüber. Als auf einer Familienfeier einmal Japan als "Land des Lächelns" bezeichnet wurde, sagte sie mit herabgezogenen Mundwinkeln: "Ja, ja, die Japse! Die haam den Booren raus, imma nur lächeln!"
Immer wollte ich sie für ein Gespräch gewinnen. Als ich z.B. einmal einen leichten Husten hatte und auch sie hustete, sagte ich scherzhaft zu ihr: "Du hast ma anjeschdeckt!" Sie erwiderte unwirsch: "Ja, ja, du hast n Rauchahustn! Ick un dir anjeschdeckt!"
An einem Sonnabend sagte ich übermütig zu ihr: "Morjen is Sonntach, da MUSS die Sonne scheinn! Det beschtimme ick!" Sie hatte wahrscheinlich wieder getrunken, jedenfalls erkannte sie den Widersinn dieser Bemerkung nicht und sagte fuchtig: "Du hast hier jarrnischt zu beschtimm, merk dir det!"
Da ich Irma als Kreuzworträtselfan kannte, ging ich - achtjährig - einmal mit einem Rätsel aus meiner ABC-Zeitung zu ihr. Ich war sehr stolz darüber, schon einige Lösungen in das Rätsel eingetragen zu haben, aber die anderen wollten nicht mehr hineinpassen. Sie warf einen kurzen Blick auf das Rätsel und keifte: "Det haste ja allet janz falsch jemacht! Die Antwort uff "Vaterland" heißt "Heimat" und nich "Deutschland", du Dussel, denkste denn, daß alle Menschen uff de Welt Deutsche sind? Jeda hat doch sein eijenet Vataland! Du hast det janze Reetsel vaschmiert! Man schreibt doch die Wörta bloß in die weißn Kästchn rin un nich drübawech!" (Ich hatte die hellblauen Blindfelder nicht als solche erkannt und erst jetzt erfahren, welche Funktion sie haben.) Ich hatte nun auf schmerzliche Weise etliches von Irma gelernt und ging nie wieder mit einem Kreuzworträtsel zu ihr.
Zwei Jahre später hatte sie in der Küche ein großes Rätsel aus der Wochenendbeilage der "Berliner Zeitung" liegenlassen. Ich hatte ihr beim Raten zugesehen und bemerkt, daß ihr mittendrin ein langes Wort fehlte. Es wurde nach dem "Erfinder" der Magdeburger Halbkugeln gefragt. Über ihn hatte ich gerade etwas in einem Buch aus der Bibliothek gelesen, und ich schrieb rasch seinen Namen in das Rätsel. Irma entdeckte bei ihrer Rückkunft sogleich meine krakeligen Buchstaben und wollte mir die Zeitung um die Ohren schlagen, weil sie nicht glauben wollte, daß der Name richtig war. Ich hatte zwar nicht mehr mein Bibliotheksbuch zum Beweis, aber die nachfolgenden Begriffe paßten akkurat in das Rätsel. So erwarb ich mir kurzzeitig Irmas Achtung, worauf ich sehr stolz war.
1958 hatte ich von Onkel Erich ein russisches Küchenlied gelernt und sang es recht häufig. Es handelte von dem russischen Helden Stenka Rasin; und es kam in dem Lied eine Zeile vor, die mit den Worten: "Stenka hört es . . ." begann. Als ich wieder einmal das Lied lautstark in unserer Küche zu singen begann, kam Irma aus ihrer Stube und sagte verweisend: "Paß bloß uff, eh, Schtenka hört det!"
Zu jener Zeit begann ich, mir eine politische Meinung zu bilden und redete eines Tages auch mit Irma darüber. Ich erklärte in diesem Zusammenhang: "Wir alle, alle Menschen dieses Schtaates, sind kleine und größere Rädchen; jeda hat an seihm Platze seine Uffjabe zu erfüllen, niemand ist unwichtich!" Irma hatte mit schiefem Mund zugehört und sagte nun: "Fang bloß nich an zu eiern, du schubst sonst den janzen Schdaat aus n Angeln, un denn wirst de rausjeschmissn!" Ich ignorierte ihre Abwertung und bestätigte: "Jenauso is et!"
Manchmal fanden heitere Abende in ihrem Zimmer statt, dazu lud sie einen gewissen Freun-dinnenkreis ein. Zuerst gab es ein gutes Essen, danach diverse Getränke und mehrstimmige Gesänge. Eine der Freundinnen spielte Gitarre, eine andere Mundharmonika. Da ich die Lieder durch die Wand hindurch hörte, sind mir heute noch zwei davon geläufig: "Ich möcht einmal mit dir allein wie Robinson auf einer Insel sein, eine Woche lang, einen Monat oder ein Jahr. Du brauchst kein Hutsalon und auch kein Abendkleid, dann wär der Weg zum Stan-desamt nicht mehr so weit! Ich möcht einmal mit dir allein wie Robinson auf einer Insel sein, eine Woche lang, einen Monat oder ein Jahr!" Von dem anderen weiß ich nur noch, daß es aus mehreren Liedern zusammengesetzt war, die nahtlos ineinander übergingen, wodurch sich ein heiteres Kauderwelsch ergab. Es endete mit den Worten: "Dann hol ich mir einen - - - runter vom Holunderbaum - - - das Ganze war ja nur ein Traum." Jeder Absatz gehörte zu einem anderen Lied, wie an der Melodie zu erkennen war.
Bei DEGUFA arbeitete auch ein Schwarzer; er war als Besatzungssoldat aus Amerika gekommen und hatte eine Berlinerin geheiratet. Er war 1954 ca. fünfzig Jahre alt und wohnte ganz in unserer Nähe, jedenfalls sahen wir ihn häufig, wenn er zur Nachmittagsschicht ging oder von der Frühschicht kam. Familie L. mokierte sich häufig über sein gebrochenes Deutsch, und sie nannten ihn abfällig "det Mohrchen". Als Irma einmal zufällig bei einem derartigen Kaffeeklatsch in unsere Küche kam, fuhr sie energisch dazwischen: "Der heißt nicht "Mohrchen", sondern Abdulla N Taguru!" worauf Grete L. höhnisch erwiderte: "Du bist selba so n Guru!" Ich war stark beeindruckt, daß Irma diesen Mann verteidigte, ohne einen Vorteil davon zu haben. Er hatte niemandem etwas getan. Grete L. hatte kein Recht, abfällig über ihn zu reden.
Die letzte Freundin, mit der Irma längere Zeit berfreundet war, hieß Heidi. Sie war der Irma in gewisser Weise sehr ähnlich, trug fast immer Hosen, hatte ein hübsches, ebenmäßiges Gesicht, dunkelblonde, kurze Locken und große braune Augen. Sie hing wie eine Klette an Irma und war furchtbar eifersüchtig, sogar darauf, daß Irma mit Waltraud und mir in einer Wohnung lebte. Dabei sprach Irma kaum noch mit uns. Die beiden zankten sich oft und lautstark miteinander, bis hin zu Handgreiflichkeiten. Aber immer wieder vertrugen sie sich miteinander, wobei Heidi in der Regel die Verzeihung Suchende war.
Meine Jugendweihe wurde in Irmas Zimmer gefeiert, weil dort alle Gäste an den Tisch paßten, ohne daß viel umgeräumt werden mußte. Als Gäste erschienen Gerda, Waltraud, Onkel Erich, für einen kurzen Moment Grete L., besagte Heidi und natürlich Irma und Ida. Es gab Kaffee und Kuchen. Die Stimmung war miserabel. Es war keine Feier, sondern eine Qual für alle Anwesenden. Schweigend wurde der Kuchen vertilgt. Was hätte ich Vierzehnjährige unternehmen sollen? Als der Tisch abgeräumt wurde, sah ich, wie Irma Heidis Brust streichelte. Damit hätte sie meiner Meinung nach warten können, bis sie allein waren. Solange hatte wenigstens ich noch meine Jugendweihe feiern wollen, jetzt war auch für mich der Tag gelaufen. Ich fühlte mich durch dieses Streicheln verletzt und entwürdigt.
Als Ida tot und beerdigt war und ich zu meiner Mutter zog, hat Irma mir meine gesamte Habe auf ihrem Motorroller transportiert, wofür ich ihr sehr dankbar bin, denn so war alles an einem Vormittag zu bewältigen. Wir fuhren dreimal zwischen den Wohnungen hin und her; wenn ich alles hätte tragen müssen, hätte ich mindestens doppelt so oft gehen müssen, allein dreimal mit den vielen Büchern, die ich inzwischen besaß.
Doch ich kam nie auf die Idee, sie zu besuchen; ja, ich ging nie in die Nähe meines einstigen Heims, ich mied es wie die Pest. Irma besuchte auch mich nicht. Ich wäre auch sehr erstaunt über ihren Besuch gewesen und hätte nichts mit ihr reden können. Aber ich hätte mich gefreut. Mit einem Besuch bei mir hätte sie auch meine Mutter anerkannt, es war ja ihre Wohnung, in der ich nun lebte. Irma hat jedenfalls Waltraud besucht, wie ich viele Jahre später erfuhr. Idas Familie waren ihre Adoptivkinder. Sie akzeptierten und mochten einander. Ida war meine Tante, ich ein Kind aus ihres Bruders zweiter Ehe, da hört Familie auf. Oder?
Ich traf Irma noch einmal zufällig 1962 in der Kaufhalle. Sie war betrunken und wir grüßten uns nur im Vorübergehen. Ein paar Monate später erfuhr ich, daß sie verstorben war und ihrem Sarg nur Gerda und Grete L. gefolgt waren.
Irma war einer der wertvollsten Menschen in meiner Kindheit.
 



 
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