aus meinen memoiren-kleinkunst

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
Old Icke begegnet der Kleinkunst

Im Sommer 47 stand auf einem beräumten Ruinengrundstück in unserer Straße ein kleiner Rummel, zu dem auch ein Puppentheater gehörte, d.h. ein Puppenspieler hatte sich den Fahrgeschäften und Buden mit seinem Wohnzelt angeschlossen. Er gab selten eine Vorstellung. Für uns, die wir ja noch gar nicht wußten, was ein Puppentheater ist, waren die Karussels und Buden viel interessanter. Wir hatten zwar kein Geld für Lose oder Wurfspiele, aber das Zusehen machte auch Spaß. Eines der Karussels hatte sogar eine Schallplatte, die den ganzen Tag dudelte: "Fahr mit mir nach Tahiti, mit mir nach Tahiti, mit mir . . ."
Eines Tages klebten viele bunte Plakate an allen Zäunen der näheren Umgebung, wo zu lesen war, daß der Puppenspieler am kommenden Sonntag eine große Kindervorstellung geben werde. Da alle Kin-der aus der Nachbarschaft die Vorstellung ansehen wollten, bekamen auch wir die Erlaubnis dazu. Ich erinnere mich natürlich nicht mehr an den Inhalt des Stückes, ich weiß nur noch, daß wir alle stark er-griffen waren und dem Stück mit großer Geräuschkulisse folgten. Jeder Satz und jede Bewegung des Puppenspielers wurde von uns mit entsprechender Lautäußerung bedacht. Ich weiß auch nicht mehr, wel-cher Art die Puppen waren, ob Marionetten oder Handpuppen uns ein zauberhaftes Märchen vorführten. Ich weiß nur, daß die Prinzessin blond und blauäugig war und ein Kleid aus weißer Spitze trug, der Kö-nig trug einen dunkelblauen Samtmantel mit Pelzkragen, der Zauberer einen schwarzen Mantel und einen hohen, spitzen Hut, der Teufel aber war ganz in leuchtend rote Seide gekleidet. Der Kaspar war mit ei-nem Anzug aus bunten Rauten angetan, er hatte kleine goldene Schellen an seiner langen Zipfelmütze sowie an seinen Händen und Füßen. Seine Pritsche war spiegelblank lackiert, wes-halb er sie auch nicht benutzte, sondern nur spazieren trug. Das Ganze war für mich überaus fantastisch. Ich war ganz der Welt entrückt und begriff es zuerst gar nicht, daß das Stück zu Ende und alles nur ein Märchen war. Die Leute begannen zu klatschen und der Puppenspieler trat vor den Vorhang, um sich zu verbeugen. Plötzlich war es unheimlich ruhig, dann brach ein Pfeifkonzert los. Der Puppenspieler war nämlich ein großer Mann mit langen schwarzen Lok-ken, er hatte einen dichten schwarzen Vollbart, der ihm bis auf die Brust reichte und er hatte tiefschwarze Augen. Er war nicht nur genau der Typ, der dem deutschen Volk bis vor kur-zem noch als Untermensch hingestellt wurde, sondern er sah auch noch dem bösen Puppenspieler Bara-bas aus dem russischen Märchenfilm "Das goldene Schlüsselchen", den wir Kinder kürzlich im Kino gese-hen hatten, sprechend ähnlich. Der Mensch, der uns eben noch mit seinem Spiel so restlos begeistert hat-te, wurde nun ausgepfiffen und Barabas geschimpft. Waltraud befürchtete schlimmere Übergriffe und ging rasch mit mir nach Hause, wie immer, wenn es irgendwo brenzlig wurde. Zu unserer Kindergemeinschaft gehörte ein etwa zwölfjähriger Junge, dessen Namen ich mir nicht gemerkt habe (ich hatte zuwenig mit ihm zu tun), der behauptete, mit dem Puppenspieler näher bekannt zu sein, auf sein Zelt aufpassen zu dürfen und auch manchmal die Puppen führen zu dürfen. Als wir alle nun diesen "Barabas" gesehen hatten, beschlossen die größeren Kinder unserer Gemeinschaft, dem "bö-sen Mann" die Puppen zu stehlen. Wir wußten, daß das Zelt dicht verschlossen war und niemand einfach so hineingehen konnte. Kindern, die die Puppen nur mal anschauen wollten, erklärte der Puppenspieler, daß die Puppen seit mehreren Generationen im Besitz seiner Familie wären und einen großen historischen Wert besitzen, daß er sie daher nur mit größter Vorsicht und nur zu den Vorstellungen benutzt. In dem kürzlich beendeten Krieg waren so viele Werte den Bach hinuntergegangen, daß wir Kinder absolut nicht begriffen, warum Puppen jetzt nicht von Kindern angefaßt werden sollen. Puppen sind Kinderspielzeug. Jeder einzelne von uns hätte mit den Puppen spielen können, nicht nur dieser Bärtige! - so dachten wir. Der Junge wurde beauftragt, uns die Puppen zu bringen. Er wehrte sich heftigst: "Nein, das tue ich nicht! Ich bringe euch die Puppen nicht! Niemals!" Blutend aus Gesicht und Händen verließ er die geheime Stätte unserer Zusammenkunft. In den nächsten Tagen wurde das Zelt observiert. Die Führer unserer Gemeinschaft wollten die Puppen haben. Der eine den König, der nächste den Teufel, der andere die Prinzessin, der vierte den Zauberer. Der, der die Prinzessin wollte, wurde weniger heftig verlacht als der, der den Kaspar begehrte. Der Kaspar war eine Figur, die zum Auslachen und Verhöhnen da war.
Endlich war ein passender Zeitpunkt gefunden. Der Puppenspieler war mit Freunden in einer Kneipe - wir wußten, daß ein Mann eine Kneipe nur als Volltrunkener verläßt und hofften, daß der Puppenspieler wenigstens darin ein "Mann" war; sein jugendlicher "Aufpasser" war von uns abserviert worden, er ließ sich gewiß nicht mehr blicken - die Gelegenheit war günstig. Aber keines der Kinder paßte unter der dichtverschlossenen Zeltplane hindurch. So begannen sie auf mich einzureden, daß ich kleiner Murkel für sie in das Zelt kriechen soll und die Puppen herausholen, wenn es geht, alle, aber zumindest den Teufel. Ich schüttelte den Kopf. Mit dem Teufel wollte ich nichts zu tun haben. Es gab in dem Stück keine Figur, mit der ich mich identifizieren konnte. Für keine der vorgeführten Puppen hätte ich mein Seelenheil ris-kiert. Sie versprachen mir alles Mögliche, wenn ich nur irgendeine Puppe stehlen würde. Ich hatte die Worte unseres Pfarrers aber noch im Ohr, der da sagte: "Du sollst nicht stehlen! So spricht der Herr, dein Gott!" Ich grinste meine Verführer an und schüttelte weiter standhaft den Kopf. Da sagte Waltraud be-dauernd: "Wirklich schade! Du bist die eenzichste, die da rinjehn könnte! Vielleicht hat diesa Barabas doch wieda die Fee mit den blauen Haaarn jefang; die muß denn jetz uff eeewich bei ihm bleim!" Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, wie er die Fee wieder in seine Gewalt bekommen haben könnte, aber im Märchen ist schließlich alles möglich, und dieser Mann mit seinem langen schwarzen Vollbart kam ein-deutig aus dem Märchenreich, soviel stand für mich fest. Die blauhaarige Fee durfte auf gar keinen Fall in seiner Gewalt bleiben! Tapfer ging ich auf das Zelt zu und schob mich vorsichtig unter die Plane. Es war stockfinster in dem Zelt, aber ich wußte, daß sich meine Augen binnen kurzem an die Dunkelheit gewöh-nen würden, und dann wollte ich solange suchen, bis ich entweder genau wußte, daß die Fee nicht hier war und ich sie also nicht retten konnte, oder ich würde auftragsgemäß den Teufel unserem Anführer bringen, die Prinzessin und den Zauberer denen, die nach ihnen verlangten, und den Kaspar hätte ich ger-ne mit seinem zukünftigen Besitzer geteilt. Ich wollte nicht, daß so zauberhafte Puppen unter einem bö-sen Mann leiden müssen.
Plötzlich erschütterten schwere Schritte den Boden hinter mir. Außerdem hörte ich die Kinder, die in gehöriger Entfernung auf meine Rückkunft warteten, schreiend davonlaufen. Eine große Hand packte meinen Fuß, der sich noch außerhalb des Zeltes befand, und ich wurde mit einem Ruck aus dem Zelt ge-rissen. Eine schwere Männerhand klatschte so gewaltig auf meine Rundungen, daß mir auch Brust und Bauch wehtaten. Dann riß der Puppenspieler mich in die Höhe, schüttelte mich und schrie: "Was tust du hier, du neugieriges Gör? Wag das nicht noch einmal!" Er stellte mich auf den Boden und verpaßte mir zum Abschied noch einen Fußtritt, der mich aber nicht voll erreichte, denn durch den unfreiwilligen Spa-gat, den ich ausführte, als er mich aus seinem Zelt riß, waren meine Beine noch nicht voll funktionsfähig. Ich fiel hin und sein Fuß sauste durch die Luft. Ich war stumm vor Entsetzen. Auf allen Vieren lief ich nach Hause, so schnell es irgend ging. An der Ecke wurde ich von den anderen erwartet, die das Ganze aus sicherer Entfernung beobachtet hatten. Sie trösteten mich mit einem Bonbon, den eins der Kinder zufällig in der Tasche hatte. Ich war der Held des Tages, obwohl meine Mission gescheitert war.
Ich hatte mehrere Schürfwunden und blaue Flecken davongetragen. Ida wollte natürlich wissen, wo-her sie rührten und ich erzählte alles wahrheitsgemäß. Ida winkte Traute und Doris zu sich und sagte: "So n Blödsinn laßt a jefällichst! Wenn Puppenschpiela ooch keen vanünftja Beruf is for n ausjewachsnen Mann, ihr könnt det nich beurteiln, ob det n bösa Mann is! Un ihm bei seine brotlose Kunst ooch noch die Puppn, also sein Werkzeuch zu klaun, det is, also ick weeß nich, wat ick zu so ne Jemeinheit saaren soll!" Daß sie diesmal so zurückhaltend war mit ihrem Tadel und nicht die üblichen üblen Beschimpfun-gen auf uns ausgoß, beeindruckte mich zutiefst. Ida fragte: "Wat wolltet ihr denn man bloß mit die Puppn?" - "Na, schpieln!" meinte Doris keck. Während Traute sich hinter mir versteckte, sagte Ida ta-delnd: "Det sin doch keene Puppn for eich zen schpieln, ihr Dusseltiere! Treibt eich ja nich wieda uff den Rummelplatz rum!" Traute und Doris versprachen es, froh, ungestraft davongekommen zu sein. Zu mir sagte Ida: "Du mußt nich imma ALLES machen, wat Traute un Doris saaren! Siehst ja, wat da manchma for n Blödsinn bei rauskommt!" - "Aba ick wollte doch die Prünzessin befrein!" versuchte ich mich zu verteidigen. Ida sah mich groß an: "Sowat jibt s doch nur im Meerchen, du dummet Polk! Prünzessin be-frein! Bist du etwa n Prünz? Du weeßt doch, wer die Prünzessin befreit, der muß se ooch heiratn!" Trau-te und Doris wollten sich ausschütten vor Lachen. So endete dieser ruhmreiche Tag für mich doch noch mit Schimpf und Schande. Wenn ich mich recht erinnere, wünschte ich an jenem Tag erstmalig, lieber als Junge auf die Welt gekommen zu sein. Wäre ich ein Junge gewesen, hätte man mich zwar veräppelt, aber doch meinen Heldenmut anerkannt. Mädchen ist das Heldentum für gewöhnlich verwehrt.
Zwei Jahre später hatte ich die nächste Begegnung mit der Kunst. Die Familie G. besuchte mit mir eine Zirkusvorstellung. Wir Mädchen hatten unsere weißen Sonntagskleider an und mir war eingeschärft worden, mich EINMAL anständig zu benehmen und halbwegs sauber zu bleiben. Um das zu gewährlei-sten, wollte ich bei einem der anderen an der Hand gehen. Aber das junge Paar wollte unterwegs ein we-nig turteln, und so sagten sie: "Du bist schon groß, du kannst alleine laufen." Diesen Standpunkt vertrat auch Waltraud, und so kam es, wie es kommen mußte: Anstatt auf den Weg zu achten, sah ich mir die bunten Plakate an, die Wohnwagen, die Gitter und das riesige Zelt und fiel natürlich irgendwann in den Schmutz. Nachdem abgelehnt wurde, mich an der Hand zu führen, glitten die Beschimpfungen wirkungs-los an mir ab. Auch, daß ich keine Zuckerwatte bekam, war mir keine Strafe. Ich wußte, daß Waltraut ihre Riesenportion nicht aufißt und so doch etwas für mich zum Kosten bleibt. Nachdem ich ihren Zuc-kerwattestiel leergeknabbert hatte, überlegte ich, was an dieser unappetitlichen klebrigen Substanz ei-gentlich dran sein sollte? Also von mir aus brauchte es dieses Zeug nicht zu geben! Die Käfige im Hinter-grund waren viel interessanter. Aber Alfred sagte: "Inne Tierschau jehn wa nich, die Viecha sehn wa ja denn inne Vorschtellung. Die wärn ja nich hier, wenn se nich ooch inne Maneesche jezeicht wern würn." Ich schmollte, zeigte es aber nicht. Ich wollte mir nicht noch weitere Nachteile einhandeln.
Endlich betraten wir das Zelt und gingen zu unseren Plätzen auf einer der hintersten Sitzreihen. Gerda maulte: "Mann, von hier aus sieht man ja janischt!" Alfred antwortete: "Wird schon reichn! Die annern Plätze sin zu deuer." Der Zirkus war nur mäßig besucht, so wechselten wir zu Beginn der Vorstellung auf bessere Plätze. Ich wunderte mich darüber, daß wir nicht vom Kartenabreißer daran gehindert wurden. Alfred sagte: "Der hat jetz wat anderet zu duhn, hier is jetz keena mehr, der uffpassen kann!" Ich blickte mich um und richtig - die Kartenabreißer waren in der Manege mit anderen Dingen beschäftigt. Während der Vorstellung erkannte ich gar einen von ihnen als Kunstreiter wieder.
Ich fand alles wunderschön. Die Clowns! Die Pferde! Die Perche-Nummer! Die Elefanten! Die Trapez-Nummer! Die Löwen! Die Jongleure! Die Tiger! Nochmal Clowns! Die gemischte Tierdressur! Die Musik, die so exakt zu jedem Auftritt passend gespielt wurde! Der Zauberer! Und die Hochseilarti-sten! Ich spendete überschwenglichen Beifall.
Nachdem Gerda gesagt hatte: "Unsa kleenet doowet Landei Krille is ja so leicht zu bejeistan! Die je-fällt allet, un wenn t der jrößte Mist is!" hielt Traute sich sehr zurück mit ihrem Beifall. Auch die Erwach-senen bewegten ihre Hände oft nur andeutungsweise. Ich verstand das nicht. Was die Artisten hier zeig-ten, konnte doch mit Sicherheit nicht jeder zweite! Meine diesbezügliche Bemerkung auf dem Heimweg wurde abgetan: "Dafor sin det Aatistn, damit se det könn! For Aatistn is det nischt besonderet. Wat de in den Zökus jesehn hast, siehste in jeen annan ooch." Meine Begeisterung war indessen nicht zu bremsen. Auf dem ganzen Heimweg sprach ich voller Entzücken über jede Darbietung. Endlich stöhnte Tante Ger-da: "Men - schens - kind, halt endlich die Klappe! Det kannste nachher allet Oman azeeln!" Abschließend bemerkte ich noch: "Wenn ick jroß bin, wer ick ooch Klohn!" Alfred lachte: "Det biste doch schon, du krist det man bloß nich mit!" In meiner Begeisterung hatte ich völlig vergessen, daß "Klohn" als Schimpf-wort galt. Ida hatte weder Zeit noch Geduld, sich meine begeisterte Schilderung des Zirkusgeschehens anzuhören. Sie wies mich ab: "Du fällst ma uff n Wecka, Meedel!"
Auch in den "Berliner Prater" ging Alfred mit uns, weil dort ein Kinderfest stattfand. An jenem Tag ging es folgendermaßen zu: Waltraud freute sich genauso wie ich auf das Kinderfest. Sie wäre gern mit ihren Eltern allein dorthin gegangen. Sie maulte: "Muß denn die Krille übaall mit?!" Ihre Mutter erklärte, daß ich genausoviel Anrecht auf ein Kinderfest habe wie sie. Nun wurden wir hübsch angezogen. Wal-traud murrte: "Kricht die Christa wieda eens von meine Kleida an? Ick kann det nich leidn!" Gerda lach-te: "Mensch, nu hab dir nich so alban! Det Kleid is dir doch schon lange ville zu kleene! Wo willste denn det jetz noch hinziehn?!" Waltraud sah es widerwillig ein. Nun wollte sie nur noch besser frisiert sein als ich. Das gestand ich ihr neidlos zu. Sie war die Ältere von uns beiden, sie war die Hübschere von uns beiden, sie war blond, sie hatte eine Mutter und neuerdings auch einen Vater. Ich konnte froh sein, von ihnen mitgenommen zu werden. Und ich war froh. Und dankbar.
Endlich gingen wir los. Auf dem Weg wurden wir noch einmal ermahnt: "Jenade euch Jott, wenn ihr euch mißtich macht!" (bei Waltraud war da keine Gefahr, die Ermahnung galt im Wesentlichen mir), dann waren wir nach kurzer Straßenbahnfahrt im Prater. Ich war enttäuscht, denn er sah aus wie ein großes Gartenlokal, und die Erwachsenen benahmen sich auch so, als wären sie in einer Kneipe. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß hier ein Kinderfest stattfinden sollte. Auf meine diesbezügliche Frage lenkte Alfred meinen Blick zu einem riesigen Gestell aus Holz und Metall: "Daaa is die Bühne, und da wird ooch wat sein!" Nun ließ ich die Bühne keine Sekunde mehr aus den Augen. Endlich formierte sich auf ihr ein Kin-derchor. Der Dirigent sagte mit weicher Stimme: "Zuerst singen wir nicht nur für alle anwesenden Kin-der, sondern auch mit ihnen. Alle, die mitsingen möchten, kommen jetzt zu uns auf die Bühne. So ent-steht ein riesengroßer, neuer Prater-Kinderchor, und wir singen all die Lieder, die jedes Kind kennt." Ich wollte sofort losstürmen, aber Gerda hielt mich am Ärmel zurück: "Bist du doof? Du kannst doch da nich mitsing, du kennst doch die Lieda janich!" Ich erwiderte jammernd und heftig gestikulierend: "In de Sonntachsschule bei n Kindajottesdienst kenn ick die Lieda ooch nich, un da muß ick mitsing, warum dürf ick denn nu jetz hier nich?" Alfred setzte mich energisch auf meinen Stuhl hinter mein großes Glas "Berliner Weiße mit Schuß". Das kostete damals ebensoviel wie ein halbes Pfund Wurst und ein halbes Brot. Von hier aus durfte ich zuhören, wie die allgemein bekannten Kinderlieder gesungen wurden, und ich bedauerte lebhaft, nicht auf die Bühne zu dürfen. Waltraud hatte sich inzwischen vom Tisch weg auf die Bühne begeben. Ich schrie: "Walle singt da vorne!" Gerda "beruhigte" mich: "Die is n bißchen älta als du, die kennt die Lieda. Un kiek dir ma um! Da sin noch andre Kinda, die atich am Tisch sitzn bleim." Aber diese artigen Kinder konnten nicht freihändig laufen, teils, weil sie zu jung waren, teils, weil sie be-hindert waren. Und ich kannte alle Lieder, die auf der Bühne gesungen wurden! Jedes einzelne konnte ich im vollen Wortlaut mitsingen! Ich sang also leise an unserem Tisch, wodurch ich Alfred und Gerda beim Schmusen störte. Wenn ich bemerkte, daß ich störte, trank ich mein Bier. Nachdem es so teuer war, soll-te es mir auch schmecken.
Als der Gesang auf der Bühne beendet war, kehrte Waltraud an unseren Tisch zurück. Alfred und Gerda lobten sie für ihren Auftritt (in der Art, wie man einen Hund lobt; deshalb war ich einen Moment froh, nicht auf die Bühne gegangen zu sein). Während Alfred kurz darauf für uns alle Bratwürste bestell-te, streckte Waltraud mir die Zunge heraus: "Ääätsch, ick hab doch mitjesung!" Tja, das hatte ich be-merkt. Mich bewegte nur noch die Frage: Warum wurde ich am Mitsingen gehindert? Warum durfte ich nicht auf die Bühne? Bin ich wirklich zu blöd, um die mir bekannten Lieder zu singen?
Eine Stunde später kam der Kinderchor (diesmal in farbenfrohe Trachten gekleidet) wieder auf die Bühne zurück. Und sie sangen Lieder, zu denen sie auch tanzten. Keine Macht der Welt hätte mich jetzt noch am Tisch halten können! Ich erklomm auf allen Vieren den glücklicherweise rückwärtigen Bühnen-aufgang (so konnte niemand meine Tapsigkeit sehen; ich war als Vierjährige noch nicht fähig, eine Trep-pe anders als auf allen Vieren zu erklimmen) und mischte mich unter den Chor. Aber jetzt waren die Zu-schauerkinder nicht zum Mitsingen aufgefordert. Ich war ein störender Fremdkörper und wurde rasch von der Bühne gedrängt: "Du jehörst nich zu uns!" sagten sie zu mir. Ich hatte nicht begriffen, daß die Bühne nun nicht mehr für Jedermann frei war und wurde obendrein von meiner Verwandtschaft ausge-lacht. Zum Abschluß der Veranstaltung gab es einen ABonbonregen@. Alfred nannte kopfschüttelnd die Kilozahl. Als es Bonbons hagelte, saßen Waltraud und ich brav am Tisch. Nun sprangen wir auf, um et-was zu erhaschen. Waltraud hatte nicht nur längere Arme, sondern auch Argumente: Was an der Erde liegt, ißt man nicht! So bekam sie alle Bonbons. ( zehnjährig erlebte ich ein Kinderfest im Nachbarhof. Auch hier war der Bonbonregen eine Attraktion. Ich stieß ein jüngeres Kind zur Seite, um einen Bonbon zu greifen. Es sah mich vorwurfsvoll an und ich gab ihm das Bonbon. Wir hatten uns zur gleichen Zeit gebückt, nur meine Armlänge verschaffte mir den Vorteil. Ich schämte mich sehr und nahm nie wieder an einem Bonbonregen teil.)
Die nächste Begegnung mit der Kunst hatte ich weitere zwei Jahre später. Wir gingen mit der Schul-klasse in ein - - - Puppentheater. Was wir dort sahen, war kein durchgängiges Stück, sondern ein Num-mernprogramm, und es traten unterschiedliche Arten von Puppen auf; von der Stabpuppe bis zur kunst-vollen Marionette war alles vertreten, was gemeinhin von Pup-penspielern bewegt wird. Für jede Num-mer wurde die Bühne völlig neu dekoriert. In den Um-bauphasen wurde das Publikum teils von Woll-würmern, teils vom Kasperle unterhalten. Was da im einzelnen vorgeführt wurde, weiß ich nicht mehr, mir ist von dem ganzen Puppentheater nur eine einzige Szene im Gedächtnis haften geblieben. Zum ei-nen, weil sie mir wirklich sehr gut gefallen hatte und zum zweiten, weil ich ihretwegen Ärger bekam, denn wir sollten über den Theaterbesuch einen Aufsatz schreiben und schildern, was uns sehr gut bzw. gar nicht gefallen hat. Als "nicht gefallen" schilderte ich das Benehmen meiner Klassenkameraden. Sie hatten sich auf dem Hin- und Rückweg sowie während der Vorstellung reichlich ungehörig be-nommen. Wenn ich in Idas Gegenwart auch nur ein Zehntel all dieser Ungehörigkeiten began-gen hätte, hätte ich eine gewaltige Tracht Prügel bekommen. Als "sehr gut gefallen" schilderte ich wahrheitsgemäß jene Sze-ne, die in Venedig spielte. Da fuhr eine Gondel anmutig durch den Canale Grande, und in der Gondel saß eine Puppendame mit hoher Frisur und weitem Kleid, einen Sonnenschirm in der Hand. Der Gondoliere trug einen weiten Mantel mit hohem Kragen, er stakte die Gondel sachte vorwärts und sang mit angeneh-mer Stimme die "Barkarole" aus "Hoffmanns Erzählungen". Damals kannte ich diese Barkarole noch nicht, aber es war die erste Melodie, die ohne Text bei mir haften blieb. Daher konnte mir fünf Jahre spä-ter die Freundin meiner Mutter den Titel nennen. Ich begriff nicht, warum der Gondoliere sich beim Sin-gen so komisch verrenkte, daß alle über ihn lachten. Wie kann man sich zu so herrlicher Musik komisch bewegen! Aber ich ließ mir durch diese Frage den Genuß nicht beeinträchtigen.
Als wir die Aufsätze zurückbekamen, klärte mich die Lehrerin dahingehend auf, daß das Benehmen meiner Klassenkameraden zwar tatsächlich unschön war, aber keineswegs zum Stück gehörte, daß auf der Bühne kein Wasser war, sondern nur glänzendes Papier und daß die Puppen nicht gesungen hatten, sondern daß ein Tonband abgespielt wurde und daß die ge-samte Szene absoluter Kitsch (hier verzog sie angewidert das Gesicht) gewesen sei. Ich wußte, daß auf der Bühne kein Wasser war. Ich wußte, daß die Puppen nicht selbst gesungen hatten. Aber es war alles so perfekt gemacht, daß meine Begeisterung kei-ne anderen Worte gefunden hatte. Was Kitsch ist, wußte ich damals noch nicht. Ich mußte nur schmerz-lich zur Kenntnis nehmen, daß das, was mir gefiel, minderwertig ist. Und in der Pause bekam ich Klas-senkeile. Von nun an zeigte ich nicht mehr offen, was ich dachte und fühlte, und lernte auch bald, in gewissen Situationen zu lügen.
Vierzehnjährig sah ich erneut lebende Menschen auf einer Bühne. Zu den Jugendwei-hestunden gehörte nämlich auch ein Theaterbesuch. Wir sahen "Ein Sommernachtstraum" in der "Komischen Oper". Der Titel schien mir überaus romantisch, aber ich war vorgewarnt, das Stück wurde in der Komischen Oper aufgeführt. Romantik würde hier also persifliert werden. Ich staunte über die festlich gekleideten Besucher. Nie hatten meine Augen so viel Eleganz er-blickt! Auch meine Klassenkameraden trugen Kleider, die ich nie zuvor an ihnen sah. Bei mir zu Hause hatte vor dem Theaterbesuch ein heilloses Durcheinander geherrscht: "Die Jöre jeht int Tiata! Wat die Schule sich denkt! Woher solln wa denn jetze so schnell n Tiatakleid for die Jöre hernehm?" Ich bekam ein Kleid von Waltraud, aus welchem sie längst herausgewachsen war. Ich war überzeugt davon, daß ich anlaßgerecht gekleidet war und gab mich dem Thea-tererlebnis mit ganzer Seele hin. Ich versuchte krampfhaft, dem Geschehen zu folgen, wußte nicht, welcher handelnden Person ich mehr Sympathie zukommen lassen sollte, für mich war das Ganze ein unerhörtes Vorkommnis, soviel Licht, soviel Schönheit, soviel Musik, soviel Glimmer auf den Kostümen - namentlich Titania hatte sehr viele Straßsteine in ihrem Kleid, bei jeder Bewegung warfen sie feurige vielfarbige Blitze, kein Weihnachtsbaum konnte so schön sein wie dieses Kostüm! - die Darsteller konnten nicht von dieser Welt sein. Wer jemals eine wohlklingende Melodie an mein Ohr brachte, war nach meinem Dafürhalten schon ein besserer Mensch. Wer jedoch so herrlich singen konnte wie die Akteure jener Operette, war zumindest in der Vorstufe zum Engel. Jeden Bühnenkünstler stellte ich in Zukunft den Engeln gleich. Wenn nicht, noch höher. Total verzaubert kehrte ich nach Hause zurück, wo meine Be-geisterung auf taube Ohren stieß.
 
R

robie

Gast
schön eben...wie alle deine Sachen, wollt per mail
antworten..ging leider nicht....aus der Kindheit gibt es noch mehr....nur die Zeit fehlt.....schade
gruß nach Berlin rainer
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
danke, rainer!

du bist der 2., der mir auf meine memoiren antwortet. der 1. sagte nur, es sei keine erzählung . . . ich werde weiterhin kapitel meiner memoiren hier hineinstellen, nicht, weil ich sie als erzählungen ansehe, sondern weil ich eben hier angefangen habe anstatt unter "sonstiges", wo es vielleicht hingehört. danke für dein interesse und versuche, dir die zeit zunehmen. es bringt was, sich zu erinnern!lieben gruß
 



 
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