aus meinen memoiren: nachbarn

flammarion

Foren-Redakteur
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Nachbarn

Das Haus, in welchem ich meine Kindheit verlebte, war ein Eckhaus, eine sogenannte "stumpfe E-cke". Alle Stubenfenster blickten zur Straße hin, alle Küchenfenster zum Hof. Die stumpfe Ecke wurde im Parterre von einem Gartenlokal ausgefüllt. Hier konnten Gäste an mehr als zehn Tischen Platz finden. Die Tische und Stühle konnten zusammengeklappt und nach Bedarf aufgestellt werden, daher habe ich mir die genaue Anzahl nicht gemerkt. Der Boden des Gartens war mit weißem Kies bestreut, am kunst-voll verzierten Metallgitterzaun wuchsen dichte niedrige Sträucher. Außer dem Schankraum gab es noch ein Vereinszimmer und ein Billard-Zimmer. Das Vereinszimmer wurde manchmal für Familienfeiern ge-nutzt (ich erlebte im Vorübergehen, daß dort eine Hochzeitsfeier stattfand und dachte mir: "Das ist sehr praktisch, kostet zwar ein bißchen mehr, aber die eigene Wohnung bleibt unberührt!"); das Billardzimmer wurde, da das öffentliche Spielen in der DDR verboten war, dem Schankraum zugeschlagen.
Der Wirt hieß Karl Rachow. Er war mittelgroß und hatte einen sehr dicken Bauch, den eine breite goldene Uhrkette zierte. Er war ein starker Raucher. In seinem von einem dreifarbigen Bart umgebenen Mund qualmte ständig eine dicke Zigarre. Aus seinem rotwangigen Gesicht musterten kleine blaßgraue Augen die Gäste "von oben herab". Es war für mich jedesmal ein besonderes Schauspiel, wenn ein neuer Gast, der größer als der Wirt war, die Schankstube betrat und sich dann diese Musterung gefallen lassen mußte.
Als ich noch sehr klein war, waren wir häufig zu Gast in diesem Lokal. Ich erinnere mich noch gut daran, daß ich unter einem schweren schwarzen Holztisch auf dem ungestrichenen und schlecht gereinig-ten Fußboden saß und mit Bierdeckeln und Flaschenkorken spielte. Auch durfte ich manchmal bei den Männern, die mit Ida tranken, auf dem Schoß sitzen und aus ihren Gläsern trinken. Ich war ja so niedlich, wenn ich das Gesicht verzog, die Augen verdrehte, mich schüttelte und später lallend durch das Lokal torkelte! Ich erinnere mich an einen Tag, an dem es besonders schlimm war: Der Wirt wurde plötzlich zu einem tapsigen Riesen, die Worte mußten sich einen langen Weg durch Watte bahnen, ehe sie in mein Bewußtsein drangen und im Fußboden waren kleine Hügel. Ich fiel hin, ohne mich wieder erheben zu können. Die Gäste lachten. Ich merkte, daß ich das Gelächter verursacht hatte und war glücklich, die Leute in dieser schweren Zeit zum Lachen gebracht zu haben.
Ida war recht trinkfest. Der Wirt scherzte einmal: "Na, Ida, det beste wär wohl, wenn ick dir ne Bier-leitung nach ohm lejen würde?" Sie antwortete ernst: "Ne Schnapsleitung wär bessa, aber am allaliebstn hätt ick jerne beedet."
Ida war mit dem Wirt und einigen Stammgästen per "du". Wenn ihre Wangen vom Alkohol gerötet waren und ihre Augen funkelten und sie jedem Bonmot Bescheid gab, war sie eine recht ansehnliche alte Dame. Hier in fröhlicher Runde wurde ihr auch der letzte ernstgemeinte Heiratsantrag gemacht. Aber sie lachte über den "Trottel, der sich einbildt, det ick uff meine altn Daare mir noch an n fremm Mann je-wöhn könnte". Sie war damals bereits 80 Jahre alt. Um diesem Mann nicht wieder zu begegnen, ging sie nicht mehr in die Kneipe hinunter. Wenn sie den entsprechenden Durst hatte, schickte sie jemanden mit einer Kanne nach Bier, je nachdem, wer gerade verfügbar war. Oft durfte ich - auf meine nachdrücklichen Bitten (ich wollte keine Gelegenheit, aus der Wohnung zu kommen und die Welt zu sehen, ungenutzt vergehen lassen) - mitgehen, später schickte Ida mich allein hinunter. Die anderen Familienmitglieder durften das Bier in einer Glaskaraffe holen, welche am Bauch mit einem bunten Jagdmotiv und am Rand und Henkel mit Goldauflage verziert war. Mich "Trottel" schickte sie mit einer Blechkanne, meist am Sonntagnachmittag.
Als ich wieder einmal mit meiner Kanne am Tresen stand, saß der Wirt bei einer feiernden Runde an einem der hinteren Tische. Die Gäste sangen, das Radio übertönend: "Heute blau, und morjen blau und üüübermorjen wieder, und wenn wir dann mal nüchtern sind, besaufen wir uns wieder!" Und just, als der Gesang endete, sagte eine helle Kinderstimme aus dem Radio: "Das war der RIAS-Kinderfunk!" Auch ich lachte herzlich über diese ungewollte Komik. Endlich bemerkte mich der Wirt und kam zu mir. Er sagte: "Deine Oma muß sich schon selbst herunterbemühen oder einen Erwachsenen schicken. Jetzt gibt es nämlich ein Jugendschutz-Gesetz, nach dem Alkohol nicht mehr an Kinder ausgegeben werden darf." Ida glaubte mir die Worte des Wirts nicht, packte mich am Arm und ging mit mir, so wie sie war in Schürze und Pantoffeln, in die Kneipe hinunter, wo der Wirt seine Rede wiederholte. Ida sagte: "Aba Karrrl, du kennst mir doch!" - "Ja," entgegnete der Wirt, "wir sind uns einich, aber ick kann nich für je-den meiner Jäste die Hand int Feuer lejen. Vaschteh mir, Ida, ick möchte nich wejen dein Durscht die Konzessjon valiern." Sie verstand und trank in Zukunft nur noch dann Alkohol, wenn ihn jemand zu einer Familienfeier mitgebracht hatte.
Dieses Vorkommnis wurde natürlich mit Grete L. besprochen (von Familie L. ist später noch ausführ-lich die Rede). Grete L. ereiferte sich: "Mannomann, wat is det jetz bloß for n Schdaat! Die beschdimm, wat de mit deine Kinda machn dürfst un wat nich! Ja, sin det denn nu meine Kinda oda nich? Jurend-schutzjesetz! So n Blödsinn! Wenn der Schdaat Kanohnfutta brauch, denn is det allemal hinfällich! Imma detselbe, ejal, wie die Rejierung heißt, der kleene Mann is imma anjeschissn!"
Ich fand es gut, daß es für Kinder und Jugendliche nun nicht mehr ganz so einfach war, an Alkohol heranzukommen. Schlimm genug, daß sich Erwachsene in den würdelosen Zustand der Trunkenheit be-gaben!
Als ich lesen lernte, war jeder Buchstabe für mich hochinteressant und ich las auch den Namen dieser Gaststätte. Da fiel mir so recht das Firmenschild der beliefernden Brauerei "Berliner Kindl" auf. Ich mo-kierte mich darüber, denn "Kindl" ist bayrisch. Trinken die Berliner etwa mit Vorliebe bayrisches Bier? Und warum ist das Kind blond? Die im Süden Deutschlands lebenden Bayern haben doch dunkle Haare? Ich fragte Ida, und sie antwortete: "Det is eehmd so." Ich fragte Grete L., sie antwortete: "Deine Sorjen möcht ick hahm!" Ich fragte Irma, sie erklärte mir, daß das Firmenschild irgendwann einmal so beschlos-sen wurde, daß es gesetzlich geschützt ist und ganz bestimmt nicht geändert wird, nur weil ich mich in meiner Eigenschaft als Kind beleidigt fühlte, aus dem Bierglas blicken zu dürfen. Doris L. meinte zu dem Thema sarkastisch: "Det Schild bedeutt, det man beim Saufn schnella Kinda machn kann."
Zur Gaststätte gehörte auch ein weißer Spitz, Whisky gerufen. Manche Nachbarskinder hielten es für ein Vergnügen, den Hund zu ärgern, wenn das Gartentor geschlossen war. Er kläffte dann in den höch-sten Tönen und sprang wütend gegen das Gitter. Er tat mir leid, und ich sagte zu den Kindern: "Whisky merkt sich euch, und wenn ihr vorbeikommt und det Tor is offen, denn wird a euch beißn!" Dann hatte der Hund seine Ruhe. Das war die einzige Weise, in der ich mich mit ihm abgab. Ihn zu streicheln kam mir nicht in den Sinn, denn er war als Wachhund angeschafft. Und ein Wachhund bleibt nicht scharf, wenn jeder ihn streicheln darf. 1952 wurde im Hauskeller Rattengift ausgelegt. Dummerweise hat Whisky davon gefressen und ist jämmerlich eingegangen.
Einmal in der Woche kam ein Pferdewagen von der Brauerei und lieferte in aller Herrgottsfrühe zwei riesige Eisblöcke für den Eisschrank der Gaststätte (damals gab es noch keine elektrischen Kühlschränke, man mußte in einen mit Metall ausgeschlagenen Schrank Eisstücke hineinlegen, wenn man Verderbliches längere Zeit frisch halten wollte). Die Gespannlenker wechselten häufig, und mancher kannte die genaue Adresse des Wirtschaftsein-gangs nicht. So lag das Eis mitunter vor unserer Haustür. Da suchte der Wirt es nicht und glaubte, es wäre keines geliefert worden. Im Sommer schmolz das Eis nutzlos vor sich hin oder wurde von Straßenpassanten gestohlen, im Winter aber blockierte es die Haustür. Auf diese Weise kam ich an einigen Tage zu spät zur Schule, denn ich konnte das Eis nicht mit der Haustür zur Seite schieben und Ida lachte mich aus ob der Behauptung, daß ich die Tür nicht aufbekomme. Es nutzte mir auch nichts, über den Hof zu laufen und durch die Friesickestraße zur Schule gehen zu wollen, denn ent-weder unsere Hoftür oder die gegenüberliegende waren verschlossen, und wenn nicht, dann war die Haustür in der Friesickestraße verschlossen. - Das stimmt mich jetzt aber sehr nachdenklich. War ich an manchen Wintertagen das einzige Schulkind des Hauses, obwohl so viele Kinder hier wohnten?
Im Parterre rechts wohnten Mutter und Sohn. Den Familienamen weiß ich nicht, denn ihr papiernes Namensschild war völlig unleserlich. Die Mutter konnte kaum älter als 50 Jahre sein, sah aber älter aus als Ida. Sie ging sehr selten aus. Ihr Sohn war ein stiller junger Mann, der sich nur per Rollstuhl fortbe-wegen konnte. Als ich in das "Warum?" Alter kam, fragte ich ihn (im Grunde genommen sehr neidisch): "Onkl, warum sitzt n du im Rollstuhl?" - "Weil ich nicht laufen kann wie du." antwortete er zögernd, aber lächelnd. "Und warum kannste nich laufn?" fragte ich wißbegierig weiter. "Weil meine Beine nicht funktionieren." - "Un warum duhn die det nich?" - "Wenn ich das wüßte, würde ich auch einen Arzt finden, der mir hilft." Von nun an schloß ich ihn in mein Abendgebet ein und betete, daß er einen Arzt finden möge, der ihn aus dem Rollstuhl erlöst und ihm das normale Gehen ermöglicht. Das normale Gehen beinhaltete für mich das normale Leben. Doch Ida bemerkte meine Fürbitte und untersagte mir diese Gebete und gebot mir, mich von dem "licht-scheuen Gesindel aus dem Parterre" fernzuhalten, ich müsse lernen, daß nicht JEDER Gottes Hilfe wert sei. Über diese Worte war ich sehr erschrocken, denn sonst sagte sie doch immer, daß vor Gott alle Men-schen gleich seien.
Bei dieser Parterrewohnung waren tatsächlich fast immer die Jalousien herabgelassen. Weil die Augen des jungen Mannes das Tageslicht nicht vertrugen. Seine Mutter hatte ihn während der Nazi-Herrschaft in einem Schrank eingeschlossen, denn sie fürchtete um das Leben ihres gehbehinderten Sohnes.
Er war der erste Erwachsene, mit dem ich mich normal unterhalten konnte. Oft stand ich neben sei-nem Fenster in der Hoffnung, daß er die Jalousien hochzieht und mit mir redet. Aber meist hörte ich nur sein Radio spielen. Da hörte ich sehr gern zu, obwohl es keine Lieder waren. Ich wußte auch nicht, was die Ansagerin meinte, wenn sie von "Rhapsodie" oder "Köchelverzeichnis" sprach oder "Ouvertüre". Wenn ich zu Hause danach gefragt hätte, wäre es herausgekommen, daß ich da unten gelauscht hatte . . .
Im 1. Stock rechts wohnte eine Witwe mit ihrem Sohn. Er war etwa acht Jahre älter als ich, eventuell ein Spielkamerad von Waltraud. Sie hießen mit Familiennamen Sprung und ich kann mich weder an die Frau noch an den Jungen deutlich erinnern.
Ihnen gegenüber wohnte ein älteres Ehepaar namens Döring. Er war ein knöcherner Beamter mit Backenbart, sie sein molliges Frauchen. Sie hatten die gleiche Zweizimmerwohnung wie wir, aber bei ihnen lagen Teppiche sogar im Korridor, und ihr Bad war nach dem Krieg das erste funktionsfähige im Haus.
Frau Döring sagte einmal bewundernd zu Ida: "Man hört ja gar nicht, daß Sie kleine Kinder haben, wie machen Sie das bloß?" Sie hatte ja keine Ahnung, wie oft wir Laudanum bekamen, wenn wir unruhig waren . . . Daß wir es bekamen, weiß ich durch eine Unterhaltung, die ich auf einer Familienfeier unge-wollt mitanhörte. Ida gab diesen "guten Rat" unserer Nachbarin Grete L., als deren jüngster Sohn unru-hig schlief.
Einige Zeit ließ ich von unserem Balkon ein Körbchen an einer Schnur hinunter. Das war für mich manchmal eine Zugbrücke, manchmal das Seil, an welchem sich ein Prinz die Zitadelle empor arbeitete, oder auch die Eisenkette, an der der Retter mit der Maid - oder auch nur um sein eigenes Leben zu retten - (je nachdem, was ich gerade träumte) hinunterhangelte. Einmal ließ ich das Körbchen dann einfach hän-gen, und Frau Döring legte einen Bonbon hinein. Nun ließ ich das Körbchen öfter hängen, in der Hoff-nung, daß Frau oder Herr Döring mit mir reden. Aber ich erhaschte nur einen Keks oder ein Stück Scho-kolade (Schokolade war damals für mich das Non Plus Ultra aller Leckereien). Über jeden Fund war ich stets sehr glücklich. Wenn ich der Frau Döring auf der Treppe begegnete, trug ich ihr gern und ungebe-ten die Einkaufstasche hoch oder den Mülleimer hinunter, jenachdem.
In der Wohnung uns gegenüber wohnte die Witwe eines Herrn Dr. Heidemann. Als die Familie L. noch nicht in unserem Haus wohnte, war Ida mit dieser Witwe so gut wie befreundet. Wenn sie sie be-suchte, standen beide Wohnungstüren offen. So bin ich oft der Ida nachgekrochen und machte auf diese Weise meine erste Bekanntschaft mit der Treppe, indem ich nämlich kopfüber hinunterfiel und unten schreiend liegenblieb. Wenn es stimmt, daß man sich erst ab dem dritten Lebensjahr an Vorkommnisse erinnert, können Sie sich denken, wie alt ich damals war. Ich erinnere mich deutlich, daß ich auf der Treppe stets getragen wurde und habe sogar noch Idas Klagen über mein Gewicht im Ohr. Ebenso deut-lich erinnere ich mich daran, wie ich zum erstenmal alleine versuchte, die Treppe zu erklimmen. Ich schob zuerst das Knie auf die Stufe, zog mich an der Strebe des Geländers hoch, setzte dann den Fuß auf die Stufe und zog danach das andere Knie auf die nächste Stufe. Die Treppe hinunter ging schneller, beson-ders, wenn ich rückwärts ging oder gar rutschte. Alle lächelten über meine Verfahrensweise, nur Irma zeigte mir endlich, wie es richtig zu machen ist.
Jedenfalls wurde für mich ein Laufgitter angeschafft, als ich die ersten unbeobachteten Gehversuche auf der Treppe unternahm. Ich fühlte mich beengt und eingesperrt und protestierte heftig gegen das Lauf-gitter. Aber es nützte alles nichts, ich mußte mich damit abfinden. Das Laufgitter hatte einen Boden aus dünnem Stoff. Nachdem ich ihn beim Spielen aus Versehen an einer Stelle losgetreten hatte (Ida bemerk-te es nicht gleich), löste ich einen größeren Teil des Bodens ab und konnte nun mitsamt dem Gitter we-nigstens bis zur Tür marschieren. Da die Breitseite des Gitters nicht durch die Tür paßte, drehte ich das Gitter und versuchte, die Spitze hindurchzuschieben. Dabei stellte ich fest, daß ich es anheben konnte! Schnell war ich unter dem Gitter hindurchgeschlüpft und lief zur Wohnungstür. Aber Ida war nicht bei der Nachbarin gegenüber (das merkte ich daran, daß ihre Tür geschlossen war), sondern bei der neuen Bekanntschaft im 3. Stock. Ich erklomm auf meine spezielle Weise die Treppe bis zu jener offenen Woh-nungstür, aus der ich Idas Stimme hörte. Mich sehend, forschte sie sogleich, wer mir herausgeholfen ha-ben könnte und hatte sofort böse Worte für die Nachbarin, denn jemand anderes kam nach ihrer Meinung nicht in Frage. Das gefiel mir ja nun überhaupt nicht, zumal am Vortag Sonntag war, wo der Pfarrer ge-predigt hatte: "Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten." Ich erzählte den Hergang so gut ich konnte. Ida schimpfte: "Also bei die Jöre dürf man übahaupt nich aus de Wohnung jehn! Die dürf man keene fümf Minutn alleene lassn!" Dennoch tat sie es immer wieder. Bevor sie die Wohnung verließ, schilderte sie mir mit großer Deutlichkeit, was mir alles Schlimmes passieren könnte, wenn ich nicht artig bin in ihrer Abwesenheit. Und ich ließ mich einschüchtern und war immer artig.
Einmal ging sie am frühen Nachmittag fort und kam erst nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause. Ich war auf dem Küchenfußboden eingeschlafen. Als ich sie kommen hörte, setzte ich mich auf. Dadurch erweckte ich unbewußt den Eindruck, die ganze Zeit gespielt zu haben. Ida schritt laut schreiend auf den Herd zu, ergriff den Feuerhaken und drosch auf den Herd ein, daß die Funken flogen. Erschrocken rief ich: "Oooma, wat maachst du denn?" Sie sagte: "Ja, siehste denn den Rattnfänga nich? Den Rattnfänga, der die kleen Kinda mitnimmt, wenn a keene Rattn kricht!" Sie machte noch ein paar beschwörende Arm-bewegungen und sagte dann: "So, nu iss a wech." Ich schüttelte innerlich den Kopf. Ich hatte auf dem Herd nichts Verdächtiges gesehen, betrachtete ihn aber in Zukunft mit Argwohn.
Mir wurde untersagt, die Witwe von gegenüber zu grüßen. Es war Grete L. gelungen, Ida davon zu überzeugen, daß Frau Heidemann einen schlechten Charakter habe (genaugenommen hatte sie der Frau all die negativen Attribute angehangen, die ihr selber eigen waren). Als ich ein paar Jahre später durch die Wand hindurch hörte, daß bei der Witwe auf Familienfeiern Volkslieder zur Gitarre gesungen wurden und die Gäste sich verabschiedeten, ohne sich zuvor sturzbetrunken miteinander gezankt zu haben, bilde-te ich mir meine eigene Meinung.
In die Wohnung über uns zog 1951 eine Familie Romianowski ein, nachdem in der bis dahin leerste-henden Wohnung ein Bad installiert und ein paar leichte Kriegsschäden beseitigt worden waren. Herr Romianowski war ein schlanker, ruhiger Mann mit gepflegtem Oberlippenbärtchen und hoher Stirn, seine Frau eine elegante Blondine mit weichen Rundungen. Ihre Tochter hieß Karin, war etwa fünf Jahre älter als ich und ein fröhliches, argloses Mädelchen mit blauen Augen und blonden Locken, die ihr bis auf die Schultern reichten und stets von unterschiedlich breiten farbenfrohen Seidenschleifen gehalten wurden. Sie wurde oft "Püppi" gerufen. Ich erlebte zum erstenmal, daß ein Kind von seinen Eltern geliebt und geachtet wurde. Sie riefen ihre Tochter Püppi und behandelten sie wie einen Menschen, die Kinder der Familie L., Waltraud und ich wurden bei unseren Vornamen gerufen und oft wie Gegenstände behandelt. Besonders verhaßt war mir Grete L.s Art, beim Anblick eines Kleinkindes die Hände zusammenzuschla-gen und in deutlich übertriebener Verzückung - nur um der Mutter zu schmeicheln - piepsig auszurufen: "Achatjeitdomannee, is die/der Kleene süüüüß!"
Die Familie L. hatte seinerzeit beantragt, die Wand zwischen ihrer und der angrenzenden Wohnung durchbrechen zu dürfen, um mehr Wohnraum und somit Platz für die Kinder zu haben. Der Antrag wur-de abgelehnt. Der Familie wurde geraten, sich anderen Orts eine größere Wohnung zu suchen. Aber so ein Umzug kostet Geld, und Geld war bei L.s überaus knapp. Fluchend beugten sie sich der "Behörden-willkür" und schikanierten die neuen Nachbarn. Bei Familie R. wurde die Tür beschmiert, auf Klinke und Klingelknopf kam Schuhcreme, auf den Fußabtreter Asche und Urin, in das Türschloß Streichhölzer und Papier, ihr Keller wurde immer wieder aufgebrochen und alles Brauchbare entwendet. Im Treppenhaus standen Schmierereien wie folgt: "Pollacken raus!" - "Russenknechte nach Sibirien!" - "Haut die Sachsen nach Sachsenhausen!" (Die Familie R. sprach mit sächsischen Dialekt.) Ich konnte die Krakel nicht selber entziffern, Waltraud las sie mir auf meine Bitte vor, man möchte ja wissen, was um einen her vorgeht, auch wenn man nicht alles versteht. Wir wußten nicht, was Sachsenhausen bedeutet und hielten es für ein gelungenes Wortspiel. Ich hatte keine Ahnung, daß das alles Angriffe auf die neuen Nachbarn waren, ich hielt diese Schmierereien für einen Auswuchs der Dummheit fremder Kinder, es konnten nur fremde ge-wesen sein, denn wer beschmiert das Haus, in welchem er wohnt? Romianowskis hielten diesen Terror zwei oder drei Jahre lang aus. Sie konnten die Täter nicht fassen und für die Polizei war es ein Bagatellfall.
Einmal hörte ich, wie Grete L. zu Ida sagte: "Die Sachsnpollackn traun sich wat! Nenn ihre Jöre Ka-rin! So hieß doch die Frau des Füüüras! Die wolltn sich woll damit bei die Behördn einschmeicheln! Aba nich bei mir! Un denn dieset affije Jetue mit die Jöre! Püppi! Wenn ick det schon höre! Die wern schon noch sehn, wat man davon hat, wenn man ne Jöre so vazieht!" Ich war inzwischen sieben Jahre alt und durchaus in der Lage, die Ehe der R.s als harmonisch zu empfinden. Ich beneidete Karin darum, daß ihre Eltern mit ihr spielten und ihr bei den Schulaufgaben mit Rat und Tat zur Seite standen wie in allen ande-ren Lebensdingen. Wenn die Familie am Sonntag spazieren ging, durfte das große Mädchen auf Papas Schultern reiten, das fand ich unaussprechlich toll! Und das war nun die Art, wie man ein Kind verzieht?
Eines Tages saß Waltraud in unserer Küche und weinte zum Steinerbarmen. Sie war völlig untröst-lich, und es dauerte eine Weile, ehe Ida in Erfahrung bringen konnte, was sie bedrückte. Stockend und schluchzend berichtete Waltraud, daß Doris L. sie ein "unehrliches Kind" genannt hatte. Ida empörte sich: "Die soll man bloß die Schnauze haltn, die lüücht ja selba wie jedruckt!" Waltraud erklärte aufheu-lend, daß es nicht so gemeint war, sondern weil ihre Mutter nicht mit ihrem richtigen Vater verheiratet ist, sondern mit einem anderen Mann. Ida ließ pfeifend die Luft entweichen. Einen Moment war sie sprachlos über die einzigartige Frechheit dieser Göre. Aber sie war der Meinung, daß uns kleine Kinder fremde Familienverhältnisse nichts angingen und sagte nur: "Die hahm selba soviel Dreck am Steckn, det se eijentlich jar nich jradeaus kieckn könn! Traute, du mußt dir nischt dadraus machn, wat die Doris saacht. Det hat die bloß jesaacht, um dir zu ärjan. Un du Dussl duhst ihr ooch noch den Jefalln! Du bist jenau so n Kind wie alle andan, det hat seine Jründe, weshalb dein Vata deine Mutta nich heiratn konnte, da wa schließlich Kriech. Außadem vaschteh ick iebahaubt nich, warum du mit die olle Doris schpielst! Schpiel doch mit die Karin von ieba uns!" Nun erzählte Waltraud bedauernd, daß sie mit Doris gemein-sam Karin gehänselt hatte und das Mädchen nun nicht mehr gewillt war, mit einer von ihnen zu spielen. Ida wetterte: "Siehste, det haste nu davon! Schtatt dir n Meechn warm zu haltn, wat dir ne richtje Freun-din hätte sein könn, vascheißaste die un läßt dir mit so ne Kröte ein, die nischt ausläßt, womit se dir ärjan kann! Anscheinnd biste nich ville bessa als Doris. Also jeh hin un vadraach da wieda mit se. Pack schleecht sich un Pack vadreecht sich!" Ein paar Tage später waren Waltraud und Doris tatsächlich wie-der die besten Freundinnen, als wäre nichts geschehen. Waltraud erkundigte sich bei ihrer Mutter nach ihrem leiblichen Vater und verkündete dann mit einigem Stolz ihren Spielkameraden: "Mein Vata is n Italjeena, ätsch!", woraufhin sie von einigen Kindern "Italiernersalat" geschimpft wurde.
An einem hellen Sommertag wurde Karin R. auf dem Heimweg von der Schule abgefangen, ihre Schultasche wurde auf den Boden entleert, die Hefte und Bücher zertreten, ebenso die Federtasche samt Inhalt. Ihre blonden Haare wurden büschelweise ausgerissen, das Kleid mit Tinte bespritzt. Zu diesen Taten hatten die L.-Kinder ein paar andere Schulkinder aufgestachelt, um nicht selbst dafür belangt zu werden. Mit diesem "Intelligenzstreich" hatte Wolfgang L. sich vor seinen Kumpels gebrüstet, als ich rein zufällig in Hörweite war. Nun war das Maß voll. Romianowskis zogen in einen anderen Stadtbezirk.
Als ich Tage nach ihrem Wegzug etwas Ausgeborgtes zu L.s nach oben bringen mußte, sah ich, daß die Tür der leerstehenden Wohnung schief in den Angeln hing. Neugierig schlüpfte ich durch den Spalt und erschrak. Sämtliche Türen und Fenster der Wohnung waren zerstört, aus jedem Zimmer einige Die-len entfernt. Heute kann ich mir vorstellen, wer das getan hat und aus welchem Grund. Damals wäre ich im Traum nicht darauf gekommen. Die Wohnung stand dann lange Zeit leer. Die nächsten Mieter habe ich mir nicht gemerkt, sie zogen erst ein, als ich schon lange tief in meiner Traumwelt lebte und die reale Welt nur zur Kenntnis nahm, wenn es unumgänglich war.
Die vierte Etage war der Hausboden. Er war sehr ge-räumig. Als ich ihn - vierjährig - erstmalig betrat, erschien er mir endlos. Grete L. hatte unsere Wäsche gewaschen und ich hatte solange gebettelt, bis sie mich mit nach oben nahm zum Wäscheaufhängen. Zu-erst war ich bemüht, ihr zuzureichen, aber die Handtücher waren zu lang, ihre Zipfel wischten den Fuß-boden; und die Bettwäsche war zu schwer. So konnte ich ihr nicht behilflich sein und sie gestatte mir, mich auf dem Hausboden umzusehen. Da hatte ich dann auch prompt viele Fragen: "Warum is der Bodn so jroß?" Darauf antwortete sie noch freundlich: "Weil a zu zwee Häusa jehört." Als ich dann wissen wollte, wieviele Menschen in unserem Haus wohnen und warum soviele Leinen leer sind und warum an manchen Stellen gar keine Leinen hängen, antwortete sie ausweichend oder gar nicht. Ich ging ihr mit meinen Fragen auf die Nerven. Ich dachte nicht daran, daß sie die tausend Fragen ihrer eigenen Kinder zu beantworten hatte. Ich wollte auch etwas lernen. Sie schickte mich fort: "Kiek dir um, denn siehste wat!" Ich kroch in alle Ecken des Hausbodens und war dann höchstwahrscheinlich reif für ein Bad. Jedenfalls ist mir dieser Hausboden noch sehr deutlich im Gedächtnis mit seinem unwegsamen Fußboden (statt der Dielen sah man stellenweise Steinchen und Stroh), mit den sauber gemauerten Schornsteinen, die Wän-den glichen, mit den überall herumstehenden Eimern und Wannen (hier wurde das durch das undichte Dach tropfende Regenwasser aufgefangen) und den geteerten Dachbalken, die lange Teerfäden hernie-derließen. Ich wollte mit dem weichen Teer spielen, aber Grete L. sah das und sagte: "Die Teerfleckn kricht man nie wieda raus, laß die Finga davon!" und ich ließ die Finger davon. Aber es gab sonst nichts zum Spielen, so wurde mir langweilig. Ich wusch meine Finger in einem der Eimer und steckte dann den Daumen in den Mund.
Der Boden verband zwei Häuser miteinander, also nutzten die L.-Kinder im Notfall diesen Weg, um der väterlichen Strafe zu entrinnen. Aber der hatte das bald spitz und fing die Ausreißer am anderen Hauseingang ab. Wenn ich heute in meinen Angstträumen über den Hausboden fliehe, erwischt mich kei-ner. Ich wunderte mich damals darüber, daß die L.-Kinder beide Bodenschlösser gebrauchsunfähig m-achten, um entwischen zu können, wo doch der Hof ebenfalls eine Möglichkeit bot. Täglich sah ich die gegenüberliegende Hoftür einladend offenstehen. Man konnte bequem über den Hof zur anderen Straße gelangen. Ja, aber die Hoftür wurde von einem gewissenhaften Menschen regelmäßig verschlossen, für ihn war es nur der Zugang zur Mülltonne; und Fremde hatten auf unserem Hof nichts zu suchen. Dieser Mensch - sein Name ist mir unbekannt - erneuerte das Schloß, so oft es auch zerstört wurde. Und wenn ich in meinen Angstträumen den Weg zur Bodentreppe versperrt sehe und über den Hof flüchte, erwischt mich "das Böse".
Die Familie L. ist eigentlich ein Kapitel für sich. Nachdem Ida sich auf Grete L.s Betreiben mit der Witwe von gegenüber verkracht hatte, wuchs sich die Bekanntschaft mit Grete L. direkt zu einem Mutter-Tochter-Verhältnis aus. Grete L. wußte bald in unserem Haushalt genauso gut Bescheid wie in ihrem. Und wenn Ida für uns Eintopf kochte, blieb in der Regel etwas für die L.-Kinder übrig. Oft schmeichelte Grete L.: "Du hast dein Naam zu Recht, Ida Seele, du bist ja so eene jute Seele!" und ich war dann sehr glücklich, bei dieser "guten Seele" leben zu dürfen.
Grete L. hatte zehn Kindern das Leben geschenkt (auf sie traf diese Formulierung voll-inhaltlich zu). Zuerst einer Tochter, die sie Brigitte nannte. Bei ihrer Geburt war Grete 15 Jahre alt, so wuchs das Mäd-chen bei seiner Großmutter auf. Ich lernte sie 1949 kennen, als Grete L. ihre jüngste Tochter Doris zu ihr schickte, um Eier und Gemüse zu erbitten. Brigitte lebte nämlich mit ihrem Mann in einer Stadtrandsied-lung und zog im Garten Gemüse für den eigenen Bedarf und hielt auch Hühner und Kaninchen. Doris konnte damals schlecht ohne Waltraud sein und Waltraud durfte selten ohne mich spazieren gehen, so gingen wir zu dritt los. Ja, wir gingen, denn die Mädchen wollten das Fahrgeld für einen Kinobesuch auf-heben. Natürlich kamen wir spät bei Brigitte an. Natürlich waren wir hungrig und durstig. Die rundliche rothaarige Frau mit dem ernsten sommersprossigen Gesicht gab uns, was sie entbehren konnte unter dem Hinweis, daß ihr derartiges nicht alle zwei Wochen möglich sei. Rasch wurden die Liebesgaben verstaut und Doris bat ihre Schwester um Fahrgeld für uns drei. Ich sah, daß Brigitte durchaus nicht die Reichste war und eigentlich nichts zu verschenken hatte. So sagte ich, daß ich erst fünf Jahre alt bin und kein Fahr-geld brauche. Waltraud und Doris waren nun böse auf mich und ließen mich die schwere Tasche tragen zur Strafe dafür, daß das Geld nun nicht für den geplanten Kinobesuch reichte, zu welchem sie mich oh-nehin nicht mitgenommen hätten, aber das war nicht mein Motiv, obwohl sie es mir unterstellten. Da wir damals alle drei regelmäßig zur Sonntagsschule gingen, rief ich ihnen die Worte des Pfarrers ins Gedächt-nis: "Du sollst nicht lügen". Sie klärten mich dahingehend auf, daß das Verschweigen einer Tatsache kei-ne Lüge ist. Ich war anderer Meinung, kam aber gegen die beiden Großen nicht an. Zu Hause angekom-men - wir waren wieder den ganzen Weg gelaufen - wurden wir gefragt, wo wir uns denn um alles in der Welt solange herumgetrieben hätten. Doris sagte weinerlich: "Gitti hat uns kein Fahrgeld gegeben!" Ich hütete mich, ihr zu widersprechen, denn ich kannte ihren Jähzorn und vermutete auch, daß sie geschlagen werden würde, wenn die Wahrheit ans Licht kam. Sie hatte uns einmal ihre Striemen gezeigt. Ich wollte nicht, daß sie meinetwegen zu leiden haben würde.
Mit 16 bekam Grete L. das zweite Kind. Es starb wenige Monate nach der Geburt und ich weiß nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. Mit 17 bekam sie wieder eine Tochter, die sie Gitta nannte. Gitta war, als ich sie kennenlernte, eine hübsche, rundliche Brünette mit großen braunen Augen; offensichtlich keine Tochter von Walter L. Er mochte das Mädchen nicht und schlug es, so oft es ihm vertretbar schien. Gitta trug ständig die Verantwortung für die jüngeren Geschwister, die sich allesamt nicht das Geringste von ihr sagen ließen. Sie hat sehr jung geheiratet - einen amerikanischen Besatzungssoldaten, wenn ich mich recht erinnere - und sich danach sehr selten bei den Eltern blicken lassen.
Im darauffolgenden Jahr bekam Grete einen Sohn, den sie Horst nannte und gleich nach der Geburt zur Adoption freigab. Über sein Schicksal ist mir nichts weiter bekannt.
1936 wurde Sohn Fritz geboren. Weil Grete nicht genau wußte, ob der Kindesvater, Walter L., sie heiraten wird oder nicht, gab sie auch diesen Jungen zur Adoption frei. Das er-fuhr ich erst, als ich schon 17 Jahre alt war. Kurioserweise lebte Fritz mit seinen Pflegeeltern in genau dem Haus, wo auch meine Eltern wohnten. So wurde Fritz der engste Freund meiner Brüder. Er war hochintelligent und mitunter auch sehr fleißig. Meine Brüder hatten ihn sehr gern, so mochte auch ich ihn (er war später der Erzeuger der Tochter meines Bruders Paul, näheres dazu in dem Kapitel "Meine Brüder").
1937 kam kurz nach der Eheschließung mit Walter L.die Frucht eines Fehltritts, Karl-Heinz, zur Welt. Er hatte dichte schwarze Locken, nahezu schwarze Augen und war von kleiner, gedrungener Statur. Er war das Wunderkind der Familie. Seine überdurchschnittliche Intelligenz befähigte ihn, in der Unterstufe eine Klasse zu überspringen. Er war ein sehr ruhiger, besonnener und friedfertiger Knabe. Ich fand ihn hübsch und liebenswert. Doris fand ihn doof. Daraufhin versuchte Waltraud, ihn zu necken: "Karl-Heinz, warum heißt n du nich Heinzkarl?" Er antwortete ohne lange nachzudenken: "Damit man zu dir nich Traudwal sagen muß!" Ich war die einzige, die darüber lachte.
Wie jeder richtige Junge ging auch Karl-Heinz Mutproben nicht aus dem Weg. Es begann damit, die Treppe außen hoch zu steigen, also auf der 4cm schmalen Kante hinter dem Geländer (was wir alle nach-machten, um unseren Mut zu beweisen) und setzte sich damit fort, die "Millionenbrücke" auf ihrem Ge-länder zu überqueren. Dieses Geländer war in der Brückenmitte 20m hoch. Wer abstürzte, fiel auf die Brücke, oder - im ungünstigeren Fall - auf die Eisenbahngeleise in mindestens 60m Tiefe. Bei dieser ge-wagten Unternehmung waren wir Mädchen niemals dabei. Und ich wäre auch nicht mitgegangen, nach-dem die Presse berichtete, daß ein Kind abgestürtzt war.
Wenn Karl-Heinz im Winter Kohlen aus dem Keller holte (damals hatten wir noch kein elektrisches Licht im Keller, es mußte eine Kerze mitgenommen werden - das war billiger als eine Taschenlampe), schrieb er mit Kerzenruß an die Decke der Kellertreppe: "Nur die Ruhe kann es tun!" Auf diese Weise machte er sich Luft über seine Familienverhältnisse. Er hielt jedoch stets fest zu seinen Geschwistern. Als ich mich einmal bei ihm über Wolfgang beschweren wollte, antwortete er auf meinen Zorn: "Es gibt n schönet Wort auf Erden: Du mußt bedeutend ruhija werden!"
Er war es auch, der der Polizei seinerzeit einen wichtigen Hinweis zur Ergreifung der Gladow-Bande gab. Dafür überreichte ihm der Polizeipräsident eine Armbanduhr. Solange tolerierte Walter L. den Bastard, aber jetzt hatte er ihn satt. Ein Wunderkind in der Familie, das konnte jedem mal passieren ("det kommt in die besten Familien vor!"), aber ein Polizistenknecht? Er suchte solange Streit mit Karl-Heinz, bis dieser im Zorn das Elternhaus verließ - er war damals 17 Jahre alt - und niemals zurückkehrte.
Das nächstfolgende Geschwister war Ingeborg, geboren 1938. Sie mochte es nicht, wenn man sie In-geborg rief, Inge genügte. Die Geschwister und andere Kinder hänselten sie oft: "Inge, borg mir was!" Sie war eine dürre, grobknochige Blondine mit den wässrigen graublauen Augen ihrer Mutter. Ihre Fin-gernägel waren stets abgekaut. Sie war sehr nervös und unberechenbar. Keine Beziehung, die sie als Er-wachsene knüpfte, hielt längere Zeit, auch weil sie dem Alkohol zusprach und in angetrunkenem Zustand gegen jedermann ausfällig wurde.
Nachdem Grete L. gelernt hatte, bei sich selber Abtreibungen vorzunehmen, tat sie es auch bei ihren Töchtern. Bei Inge unterlief ihr ein Fehler und die 21jährige gebar ein blindes Mädchen. Ihr einziges Kind, soviel ich weiß. Sie blieb mit dem Kind allein und fühlte sich wie eine Bettlerin. Ich wußte, daß es die Blindenschrift gibt und ich dachte, daß im Sozialismus jeder seinen Weg findet. Ich machte mir keine Sorgen um Inges Tochter, ehe um Inge. Jedoch besuchte ich sie nie. Ich wußte nicht, wie ich ihr hätte beistehen können, denn ich war ja für sie nur die "kleene doofe Krille".
Jedenfalls verknickte Grete L. nach diesem Mißgeschick bei ihrer jüngsten Tochter den Gebärmut-terhals, um wenigstens hier allen Eventualitäten einfürallemal vorzubeu-gen. Das erfuhr ich alles erst, als ich erwachsen war. Grete L. sagte stets im Brustton der Überzeugung: "Lieber zehn Kinder auf dem Kis-sen als eins auf dem Gewissen!" Ich möchte nicht zählen müssen, wie viele Abtreibungen sie vorgenom-men hatte! Es wurde zu einer lukrativen Einnahme-quelle für sie. Es wurde scherzhaft "Haarewaschen" genannt, und sie verlangte 300,- Mark dafür. Das war 1966 mehr als die Hälfte des Monatsverdienstes einer Produktionsarbeiterin.
Wolfgang wurde 1939 geboren und war das genaue Ebenbild seines Vaters. Dunkelblond, graue Au-gen, schlaksig, frech, verschlagen, hinterhältig, gemein und verlogen war er der Tyrann der gesamten Fa-milie. Von den Geschwistern konnte einzig Karl-Heinz ihn ein wenig im Zaume halten. Obwohl - oder weil? - er seinem Vater so ähnlich war, bekam er die meisten Schläge von ihm.
Damals erfreute sich das Spiel mit Murmeln größter Beliebtheit. Ich bettelte bei Gerda solange, bis sie mir ein Beutelchen glänzender Murmeln aus Westberlin mitbrachte. Stolz ging ich mit meinen Murmeln zum Spielen auf die Straße, wo ich mir mit aller Sorgfalt ein eigenes Murmelloch schaufelte, und begann das Spiel probehalber. Da kam Wolfgang des Wegs, sah meine schönen Murmeln und wollte mit mir spielen. Ich fühlte mich sehr geschmeichelt, daß ein großer Junge mit mir spielen wollte, aber ich wußte, daß er ein guter und gewitzter Spieler war und ich ja eben erst beginnen wollte, mir das Spiel anzutrainie-ren. Ich lehnte sein Anerbieten lächelnd ab. Mir war völlig klar, daß ich meine Murmeln an ihn verlieren würde. Da drohte er, mich von Whisky kaputtbeißen zu lassen (er durfte damals oft den Hund des Gast-wirts "Gassi" führen, und ich hatte beobachtet, daß Wolfgang den Hund auf Kinder hetzte, so ließ ich mich erpressen). Es kam, wie ich vorausgesehen hatte - Wolfgang gewann mir alle Murmeln ab. Es dau-erte nur wenige Minuten, so rigoros ging er vor. Heulend ging ich nach Hause. Ida sagte: "Wat läßt du dir ooch mit den jroßn Bengel ein! Det haste nu davon, du Dusseltier! Un iebahaupt, wat brauchst du Jungsschpielzeuch!" Zufällig kam Grete L. in dem Moment zu uns, um Zucker zu borgen. Sie wollte für ihre Kinder auf der Bratpfanne Karamel-Bonbons fertigen aus Milch und Zucker, und ihr Zucker reichte nicht. "Warum heult denn die Christa?" erkundigte sie sich. Ich jammerte: "Der Wolfjang hat mit mir Murmeln jeschpielt un er hat imma jewonn, imma jewonn!" Sie lächelte: "Wenn Wolfjang jewonn hat, denn kannste nich heuln, denn war det n Schpiel und damit Schluß!" Sie war sehr stolz darauf, wenn ihre Kinder anderen überlegen waren. Wenn ich in der nächsten Zeit dem Wolfgang auf der Treppe begegne-te, schlug er mir auf den Kopf und streckte mir die Zunge heraus. Ich trug noch lange Zeit die damalige Kinderfrisur, den "Hahnekamm", so taten diese Hiebe sehr weh. Es war nutzlos, Klage gegen ihn zu führen. Seiner Mutter gegenüber bestritt er die Hiebe. Ida riet: "Jeh ihm aus m Weech!" Nun geh mal auf der Treppe jemandem aus dem Weg, der so lange Arme und Beine hat!
Wolfgang hielt sich übrigens für einen großen Tierfreund. Er ging nämlich oft an den Weißen See, um dort Kaulquappen zu fangen und mit ihnen zu spielen, bis sie krepierten.
Dann fand ich ein Taschenmesser auf der Straße. Stolz ging ich nach Hause und wollte der Ida mei-nen Fund zeigen. Sie war oben bei L.s. Kaum, daß ich das Messer hervorgeholt hatte, behauptete Wolf-gang, daß es sein Messer sei. Ich mußte es ihm geben. Ich wunderte mich sehr darüber, daß die Erwach-senen nicht merkten, daß Wolfgang log.
Nach langem Bitten und Betteln bekam ich zu meinem zehnten Geburtstag einen bunten Ball (Bälle sind Jungsspielzeug, sowas braucht ein Mädchen nicht, meinte Ida). In der Wohnung durfte ich nicht ballspielen, also erwirkte ich die Erlaubnis, auf die Straße zu gehen. Nach einer halben Stunde kam Wolf-gang des Wegs, den Schulranzen hinter sich herschleifend. Den Ball kaum erblickt, schoß er ihn schon mit einem gut gezielten Schuß über die gegenüberliegende Friedhofsmauer. Wieder kam ich heulend nach Hause. Ida fragte sofort: "Wo haste denn den Ball?" Ich schilderte den Vorfall. Diesmal hatte ich Glück. Ida war gerade ein wenig uneins mit Grete L. Sie ging mit mir zu "Tante Grete" nach oben. Sie wollte meinen Worten nicht glauben. Wir gingen auf den Balkon, von wo man den Friedhof gut einsehen konnte. Da lagen mindestens zehn Bälle zwischen den Gräbern, nicht nur meiner! Endlich wurde auch mein Bericht über die Kopfnüsse geglaubt. Inge wurde losgeschickt, meinen Ball zu holen. Da sie nicht wußte, wie mein Ball aussah, brachte sie in ihrer Schürze alle Bälle mit, die dort lagen.
Waltraud erzählte mir, daß Wolfgang dafür eine fürchterliche Tracht Prügel von seinem Vater bekam. Wahrscheinlich habe ich damals geantwortet: "Det jönn ick ihm!" Es konnte kein Zufall sein, daß so viele Bälle genau gegenüber unserem Haus zwischen den Gräbern lagen. Wolfgang wird mehrere Kinder beraubt haben. Er konnte die Bälle nicht mit in die Wohnung bringen; die Eltern hätten nach ihrer Herkunft geforscht. Wenn er einen Ball benötigte, brauchte er nur über die Friedhofsmauer zu klettern. Er hat scheinbar nur selten einen Ball benutzen wollen, denn unter den aufgelesenen Bällen gab es wel-che, die nicht nur ihre Farbe, sondern auch ihre Luft verloren hatten. Mein Ball gehörte nun wieder mir, die restlichen gehörten als "Gefundenes" den L.-Kindern, die sich sofort um den neuen Besitz stritten.
Auf dem Weg zum Balkon kamen wir an einem Schrank vorbei, dessen Türen bei einem Streit der L. Kinder zertrümmert wurden. Grete funktionierte das gute Stück zum Spielzeugschrank um. Mit einem Blick konnte ich das gesamte Spielzeug durchzählen: drei nackte Puppen mit zerzausten Haaren (einer fehlte ein Arm, einer ein Bein und der dritten gar der Kopf), vier zerbrochene Autos, zwei unvollständige Baukästen und eine geringe Menge von undefinierbarem Papierspielzeug. Ida sagte immer, daß wir arm seien. Nach diesem Anblick empfand ich mich als reich. Ich besaß zwar kein Jungsspielzeug, aber meine Puppen waren sauber und heil und gut gekleidet.
Bevor ich die beiden jüngsten L.-Kinder vorstelle, möchte ich ein paar Worte über den Familienvater verlieren. Er war Handlanger auf dem Bau. Seine Hände und Füße waren kalkzerfressen, er konnte keine festen Schuhe tragen, sondern nur Fußlappen und Holzpantinen. In seinem wettergegerbten Gesicht be-fand sich unter borstigen dunkelblonden Haaren eine niedrige Stirn, unter der die Augen so stechend her-vorblickten, daß ich mir ihre Farbe nicht merken konnte. In den ersten Ehejahren war er außerhalb von Berlin beschäftigt und kam nur an den Wochenenden nach Hause.
Einmal kam er außer der Reihe zu Besuch. Grete L. war gerade bei Ida zum Gardinenwaschen. Wal-ter L. kam persönlich, um seine Frau zu holen (später schickte er gegebenenfalls ein Kinder nach ihr). Er stand in seiner schmutzigen, löchrigen Maurerkluft in unserer Küche und sagte herrisch: "Beeil dir, Jrete!" Sie hatte aber versprochen, die Gardinen nach dem Waschen gleich wieder anzubringen, weil man so das Bügeln spart. Eher ließ Ida sie nicht gehen. Walter L. stand wie ein Bock in unserer Küche. Er nahm weder den angebotenen Sitzplatz noch die Tasse Kaffee an. Er tat mir leid und ich wollte etwas Nettes zu ihm sagen: "Na, da sin wa ja man alle froh, det du mal außa de Reihe zu Besuch kommst, Onkl Walta!" Er richtete seine stechenden Augen von hoch oben auf mich und zischte: "Wenn ick dein Onkl wär, wärst du janz andas azooren, du Kröte!" Kalten Schweiß auf dem Rücken wich ich vor ihm zurück. Ich wußte, daß er seine Kinder mit der Peitsche erzog. Die Jungen wurden mit einer langen geflochtenen Peitsche gezüchtigt, die Mädchen mit einem "weichen" Siebenstriemen, von dem durch den häufigen Ge-brauch schon zwei Striemen fehlten.
Walter L. ging ebenso gern zum Pferderennen wie in die Kneipe. Das Geld, welches vom Saufen übrig-blieb, wurde auf dem Rennplatz verwettet. Manchmal gewann er sogar etwas. Dann kaufte er für die ge-samte Familie Geschenke: Papiertuten, aus denen beim Hineinblasen Papierfransen wedelten und Neck-bälle für die Kinder und billigen Schmuck für seine Frau, die über all diese Dinge sehr glücklich war: "Er war besoffen und hat doch an uns jedacht! Wat ham wa doch für n lieben Papa!" Übrigens - dieselbe Be-geisterung, die er für Pferderennen hegte, ließ ihn auch das Fleisch dieser edlen Tiere verspeisen.
Wenn seine Frau nach dem Wirtschaftsgeld fragte, sagte er: "Vadien dir wat!" Anfangs verdiente sie sich Geld mit Wäschewaschen und Treppenreinigung, später durch Kartenlegen und Abtreibungen. Auch ich habe 1965 ihre Hilfe nach einer Unvorsichtigkeit in Anspruch genommen, daher kenne ich den Preis.
Grete L. war ihrem Mann sehr ergeben. Sie ließ sich nicht scheiden, als er sich eine Freundin nahm, nein, die Freundin schlief mit ihm in den Ehebetten und Grete im Wohnzimmer auf dem Sofa. Als er dann zu dieser Freundin zog, ergab Grete sich dem Trunke.
Dieser Mensch war mir nur dann sympathisch, wenn er mit seiner angenehmen Stimme bei unseren Familienfeiern sang oder heitere Weisen auf der Mundharmonika spielte. Ansonsten bestaunte ich ihn als "Mann". Es gab 1949 nicht viele. Genaugenommen war Walter L. der erste Mann, den ich sah.
Nun kommen wir zu Doris L. Sie wurde 1940 geboren, war dunkelblond und blauäugig, sehr lebhaft und einfallsreich und sehr lebensdurstig. Sie war sehr zäh, ausdauernd und unerbittlich. Wenn sie sich etwas in den Kopf setzte, erreichte sie es auch. Während ihre Geschwister häufig für Fehler gestraft wur-den, die sie nicht begangen hatten, ging sie oft trotz schlimmster Vergehen straffrei aus. Sie konnte ihre Eltern um den Finger wickeln und gegeneinander ausspielen. Sie war die gewitzteste von allen; stets auf ihren Vorteil bedacht, setzte sie sich über alle gesellschaftlichen Normen hinweg.
Kurze Zeit nach Doris' Geburt war Grete L. wieder schwanger. Das wäre ihr zehntes Kind geworden. Stolz ging Herr L. zum Amt, um für seine Frau das Mutterverdienstkreuz zu beantragen. Der Beamte nahm getreulich alle Fakten auf und sagte dann: „Es stimmt schon, daß eine Mutter von zehn Kindern das Mutterverdienstkreuz bekommt, aber nur, wenn sie die Kinder auch selbst erzieht. Eine Frau, die ihre Kinder weggibt, hat keinen Anspruch auf diese Ehrung." Nun wurde schnell abgetrieben. Und man hatte schon im Geiste das mit der Ehrung verbundene Geld ausgegeben!
Grete L. erzählte auf einer Familienfeier, daß Doris sich sehr vor Waltrauds Teddy gefürchtet habe. Dieser Teddy war ca. 60 cm groß und so dick, wie es sich für einen Teddy gehört. Die dreijährige Doris hatte das Spieltier versehentlich angestoßen, es fiel vom Stuhl und gab dabei sein tiefes Teddygebrumm von sich. Wer erschrickt da nicht, wenn ihm plötzlich ein brummendes Ungeheuer in den Rücken fällt? Doris betrat in Zukunft unsere Wohnung nur mit Heulen und Zähneklappern. Grete L. sagte zu Ida: "Wenn de det Viech nich abschaffst, kann ick nich mehr mit Doris runtakomm. Du weeßt, det ick die Jö-re ooch nich oohm alleene lassn kann." Der Teddy war so schwer, daß Waltraud ihn nicht tragen konnte. Es war aber ihr Lieblingsspielzeug, deshalb pflegte sie ihn an einem Ohr hinter sich herzuziehen. Natür-lich löste sich das Ohr eines Tages. Zufällig hatte gerade die Heizperiode eingesetzt und Ida verbrannte den Teddy vor den Augen des Kindes, ohne sich um das Entsetzen zu kümmern. Waltraud erfuhr nie, daß nicht das abgerissene Ohr Schuld an der Hinrichtung war. Die Trauer um das geliebte Spielzeug hielt jahrzehntelang an.
Im schneereichen Winter des Jahres 1949 gingen Waltraud und Doris mit mir zum Schlittenfahren in den Friedrichshain. Dort war ich nie zuvor. Zuerst hatte ich Angst vor der hohen Schlittenbahn, aber dann jauchzte ich bei der Abfahrt. Hei, war das ein Abenteuer, den Berg so schnell hinunterzusausen! Unten angekommen, fragte ich aufgeregt: "Dürf ick noch ma?" Doris erwiderte generös: "Ja, wenn de den Schlittn ruffziehst!" So zog ich den Schlitten für den Rest des Tages den Berg hinauf. Bei schwieri-gen Stellen halfen mir die beiden Großen.
Wir merkten nicht, wie schnell die Zeit verging. Es war so spät geworden, daß wir auch mit höchster Laufgeschwindigkeit nicht zum Glockenläuten zu Hause sein konnten. Ich wurde auf den Schlitten ge-setzt und ab ging es im "Schweinsgalopp". Unsere Kleidung war voller Schnee, denn wir hatten das Win-tervergnügen nach allen Regeln der Kunst genossen: Uns im Schnee gewälzt, uns gegenseitig eingeseift (was ich durchaus nicht für ein Vergnügen, sondern eher für eine Feindseligkeit halte), Schneeball-schlacht geschlagen und waren durch die höchsten Schneewehen gestapft. Nun begann der Schnee in meinen Schuhen zu schmelzen. Die Füße wurden entsetzlich kalt und ich begann zu jammern: "Mir friat! Mir friat!" Ich hatte mit Doris meine Mütze gegen ihren Schal getauscht. Sie sagte, er sei ihr beim schnellen Laufen hinderlich. Ich wollte, daß wir schnell nach Hause kommen. Sie band ihn um meinen Mantelkragen, damit meine Ohren geschützt sind. Es erhob sich ein kalter Abendwind, der am Mantel-kragen vorbei mit aller Schärfe in meine Ohren fuhr. Ich wimmerte leise, denn die Großen hatten gesagt, daß ich alte Zimperliese endlich die Schnauze halten sollte.
Bald spürte ich meine Füße nicht mehr. Mir war alles ganz egal, auch das Donner-wetter, welches uns zu Hause erwartete ob unserer späten Heimkehr. Wir waren vier, neun und zehn Jahre alt und man hatte sich bereits Sorgen gemacht. Die Dunkelheit war längst hereingebrochen und man befürchtete das Schlimmste. Das vernahm ich alles kaum. Ich hatte Schüttelfrost, es tat entsetzlich weh, die Schuhe aus-zuziehen und meine Ohren glühten wie Feuer. Ich konnte mich nicht mehr aufrecht halten und fiel vom Stuhl. Ida hüllte mich sofort in sämtliche verfügbaren Decken, flößte mir ein Hausmittelchen ein und steckte meine Füße in warmes Wasser. Sie schimpfte: "Ihr vaflixtn Jörn habt eian Schpaß bis a nich mehr weeßt wo a wohnt un wenn a zu Hause ze komm habt un ick hab denn die Plaare mit die Jöre! Un warum habt a ihr nich die Mitze uffjelassn? So n Schall is doch for umsonst, so n Schall wärmt doch die Ohrn nich!“ Am anderen Tag hatte ich hohes Fieber. Der etwa 70 Jahre alte Hausarzt wurde geholt. Er diagno-stizierte eine Lungenentzündung. Ich mußte lange Zeit das Bett hüten. Jede Woche sah der "Onkel Dok-tor" nach mir und scherzte: "Machen wir s wie in jenen Jahren, als wir kleine Kinder waren, Höschen runter, Hemdchen hoch . . ." Ida kicherte wie gekitzelt. Ich lachte mit, doch ich spürte, daß der Arzt Ida hoffierte. Er horchte mich ab und vergaß, in die Ohren zu schauen. So wurde die Mit-telohrentzündung nicht behandelt, als deren Spätfolge ich, sobald die kalten Winde wehen, ein dickes Kopftuch tragen muß, weil die Ohrenschmerzen sonst unerträglich werden. Zum Schlittenfahren durfte ich jedenfalls nie wieder.
Im Sommer gingen wir zur "Planschwiese" an den Weißen See. Das war für mich stets ein besonderes Erlebnis. Ich freute mich unbändig auf den weiten Weg zum See. Wir gingen dorthin ohne die Begleitung durch Erwachsene, so konnte ich, sobald wir außer Sichtweite von zu Hause waren, rennen und springen und kreischen und tanzen und hinfallen, ohne dafür gemaßregelt zu werden. Je näher wir dem See kamen, desto ausgelassener wurde ich.
Auf dem Wege zum See gab es mehrere Blumenwiesen. Ich liebte jede Blüte, und war sie auch noch so klein. Für mich war jede ein Wunderwerk, ein echtes Geschenk Gottes. Beim Betrachten der Blumen entdeckte ich auch Käfer und andere kleine Tierchen. Ich beobachtete sie und freute mich an ihrer Ge-schicklichkeit, am zierlichen Bau ihrer Leiber, am Glanz ihrer Flügeldecken und an der zauberhaften Durchsichtigkeit ihrer Tragflügel. Stundenlang hätte ich so in der Wiese liegen können, um den Tierchen zuzuschauen. Aber Traute und Doris sagten: "Die wern dir noch in n Hintan krauchn oda inne Ohrn, un denn fressn se dir von innn her uff. Du weeßt doch, det die Dootn ooch von ne Keefa uffjefressn wern!"
Bei der Planschwiese angekommen, stellte es sich heraus, daß Doris keinen Badeanzug besaß. Sie zog meinen an. Ich badete nackt. Was war denn schon dabei? Bis zu meinem achten Lebensjahr ging das so, dann sprach uns eine Frau an und sagte, daß es besser wäre, wenn ich wenigstens eine Hose anhätte. Ich verstand das nicht. Wieso ist ein achtjähriges nacktes Mädchen in einer Kinderbadeanstalt unschicklich? Eine nasse Hose ist so überaus unangenehm! Just an jenem Tag hatte aber die inzwischen stark gewach-sene Doris ein Loch in meinen Badeanzug gewetzt. So kam alles ans Licht. Waltraud wurde von Ida hef-tig gescholten, daß sie meine Sachen verborgt hatte. Doris aber setzte bei ihrer Mutter durch, daß sie ei-nen eigenen Badeanzug bekam, einen neuen und nicht einen von ihren Schwestern bereits getragenen!
Ich galt als wasserscheu, weil ich es nicht mochte, naßgespritzt zu werden. Ich ging langsam ins Was-ser hinein, jede Welle einzeln begrüßend. Aber da waren zuviele Kinder, die mit großem Geschrei in Ufernähe entlangliefen und sich freuten, wenn ihre Füße recht große Wasserfontänen lostraten. Vor ihnen und den kalten Spritzern suchte ich mich schnellstens in Sicherheit zu bringen. So nahm ich immer wieder neuen Anlauf zu einer Bekanntschaft mit dem Wasser. Wenn ich erst einmal richtig drin war, konnte es mir gern bis zum Hals reichen, es durfte nur nicht in die Ohren kommen, da saß noch der Frost von jenem Winter drin.
Die Rutschbahn in der Mitte des Planschbeckens erschien mir sehr aufregend. Ich versuchte mehr-mals, die Treppe zu erklimmen, wurde aber stets von größeren Kindern verdrängt. Ich bettelte Walt-raud, mich rutschen zu lassen und hatte nach Stunden Erfolg. Ich sauste die Bahn hinunter. Im Vorjahr fing Waltraud mich auf, diesmal schluckte ich eine eklige Menge Wasser, ehe ich festen Fuß fassen konn-te. Damals ermutigte Waltraud mich, die Rutschbahn zu benutzen. Doch die Bahn erschien mir suspekt und es kam so, wie ich befürchtete: Mein Hinterteil wurde stark gerieben und ich geriet unter Wasser. Da spielte ich dann doch lieber im Buddelkasten! Die Kinder dort waren in der Regel viel jünger als ich, und ich half ihnen beim "Kuchenbacken", beim Bau von Burgen und Autobahnen, trug ihnen vergessenes Spielzeug nach und freute mich, so viele Stunden ohne Zank und Streit zu erleben.
Manchmal fuhren wir auch zum Baden an den Oranke-See. Dort gab es einen breiten Strand und man konnte etliche Meter in den See hineinlaufen. Hier hatte ich Ruhe, einen See kennenzulernen. Ich beging ihn in allen Richtungen, begrüßte die Schlingpflanzen an den Begrenzungen des Badebereichs und kehrte brav ans Ufer zurück, denn ich konnte nicht schwimmen, was ich zutiefst bedauerte. Am Strand zu bud-deln war mir kein Vergnügen, denn nach dem vierten Schippenstich begann das zu Tage Geförderte zu stinken und die "Baugrube" lief voll Wasser. Es kam einfach aus dem Boden. Ich gab das Spielen auf und sah den Menschen zu. Auf dem Heimweg - die beiden "großen" hatten das Geld für Eis ausgegeben (meist fragten sie mich sogar, ob es mir recht ist, mit ihnen nach Hause zu laufen) - machten sie sich das Vergnügen, "Klingelstreiche" auszuführen. Sie drückten an zwei bis fünf Häusern sämtliche Klingelknöp-fe gleichzeitig und rannten eilends davon. Ich behielt mein Schrittempo bei. Einmal kam ein Mann aus einer Haustür und fragte mich, ob ich wohl wüßte, wer alle Klingeln in Gang gesetzt hatte? Ich sagte: "Wahrscheinlich die, die da vorne rennen." Ich hatte sie davon abhalten wollen - in meinen Augen waren diese Klingelstreiche keine Kinderei, sondern bösartige Dumm-heiten, aber ich war ja für sie nur "die doo-fe". (Als ich Waltraud viele Jahre später rein zufällig wiedersah, waren ihre Töchter neun und sieben Jah-re alt. Ich fragte, womit sich die Mädchen beschäftigen, wenn sie den ganzen Tag allein sind - Waltraud ließ sie nicht in den Schulhort gehen - und sie sagte: "Die schpieln mit n Telefon." Ich glaubte, es handel-te sich um ein Spielzeugtelefon, aber Waltraud erklärte weiter: "Die suchn sich irrjend eene Numma aus t Telefonbuch aus, un da rufn se denn an." Ich gab zu bedenken, daß sie einen Menschen bei einer wichti-gen Arbeit stören könnten oder aus der Badewanne holen oder eine Stillende ihr Kind ablegen müßte, um ans Telefon zu gehen. Waltraud erblaßte: "So weit hab ick nich jedacht, aba du hast ja recht, Mensch! Ick werde die Jörn det vabietn.")
Wie alle richtigen Mädchen besaß auch Traute Lackbilder. Es gab solche, bei denen nur die Bildseite glänzte und solche, bei denen auch die Rückseite glänzte. Letztere nannte man "Echte Lackbilder". Von jeder Sorte gab es auch welche, die mit Glitzerstaub noch "schöner" gemacht worden waren. Ich Acht-jährige betrachtete den Kitsch sehr gern, dachte mir mitunter ganze Geschichten zu den Bildern aus und wollte gern eine komplette Kollektion haben. Aber diese "Lackies" gab es nur "drüben", und Westgeld besaß Ida nicht. In der DDR gab es zwar auch Lackbilder, aber da waren Tiere und Pflanzen abgebildet, auf der Rückseite waren die Namen der Tier- und Pflanzenarten aufgedruckt. Ich fand das alles recht lehrreich und nützlich, aber nicht so phantastisch wie die "von drüüüüm", nicht einmal diejenigen, welche Märchenthemen aufgriffen. So bettelte ich bei Gerda solange, bis sie mir einen Satz "Lackies" mitbrachte. Das Geld bekam sie wahrscheinlich von den westberliner Verwandten ihres Mannes. Traute half mir beim Ausschneiden. Dafür mußte ich ihr von jedem der drei Blätter das nach ihrem Geschmack schönste Bild überlassen und bekam als Ausgleich dafür aus ihrer Sammlung pro Bild zwei, die ihr weniger gefielen ("du kannst sie bei deinen Spielkameraden eintauschen" sagte sie. Sie lebte nur ihr Leben und wußte nicht, daß ich gar keine Spielkameraden hatte). Sie gab mir auch ein altes Schulheft, damit ich ein ordent-liches Steckheft habe. Ich war mächtig stolz auf meinen neuen Besitz!
Doris hätte auch gern Lackbilder besessen, aber ihre Eltern hatten kein Geld für solche "Kinkerlitz-chen" und auch kein Verständnis für dies "absolut wertlose Zeug". So schnitt sie aus Illustrierten, Bon-bonpapier und Zigarettenschachteln Lackbildähnliches aus und versuchte, damit bei anderen Kindern ech-te Lackbilder einzutauschen. Das war mit Hilfe des Steckheftes ganz einfach. Man hielt sein Steckheft hin, der Tauschpartner steckte das Bild, das er tauschen wollte, zwischen eine beliebige Seite, man fragte nach rechts oder links und gab das versteckte Bild heraus und sortierte das gewonnene ein. Dann nahm man selbst ein Bild, das man tauschen wollte, zielte auf eine Seite des Tauschpartnersteckheftes und ge-wann irgendein anderes Lackbild. Aber man konnte auch Pech haben, denn so ein Steckheft enthielt min-destens vier leere Seiten, da war dann das eingesetzte Bild verloren und man mußte ein neues riskieren, wenn man etwas gewinnen wollte. Vor Beginn des Spieles hatte jeder den vollständigen Besitz des Geg-ners gesehen, nun kam es darauf an, die begehrten Stücke in ihren Verstecken zu erahnen.
Ich hätte lieber offen getauscht: "Dieses Bild entspricht nicht meinen Vorstellungen, das würde ich gern gegen ein anderes tauschen. Das Bild, welches du in 12. Position einsortiert hast, gefällt mir, das hätte ich gern, wenn du damit einverstanden bist." Aber so ging das Spiel leider nicht. Es ging so, daß ich meine Lackies im Handumdrehen los war, weil Doris` Steckheft viele leere Seiten hatte und weil sie die gewonnenen Bilder geschickt aus dem Heft auf ihren Schoß gleiten ließ. Als ich es bemerkte, sagte sie: "Die sind ehmd erst rausjefalln, den Moment!" Ich sah, daß sie das nächste gewonnene Bild ebenfalls auf ihren Schoß gleiten ließ, doch sie grinste: „Beweise, beweise!“ Wie sollte ich beweisen, daß ich es gesehen hatte? Waltraud hatte es nicht gesehen und stand mir nicht bei. Ich bekam keine neuen Lackbilder, weil ich mich hatte übertölpeln lassen. Waltraud hatte mir das Spiel erklärt und mich überredet, es mit Doris zu spielen.Sie
Als ich 1991 ein westberliner Kaufhaus betrat und in die Schreibwarenabteilung geriet, staunte ich sehr darüber, daß es dort genau die gleichen Lackbilder zu kaufen gab, um welche ich damals so geweint hatte. Mir fielen all die Geschichten wieder ein, die ich damals spann, und ich betrachtete mit großer Ehr-furcht nagelneue Exemplare jener auf alt getrimmten Lackbilder, die Gerda als ihren unveräußerlichen Besitz nie ihrer Tochter Waltraud überließ.
Manfred Seeger - der Sohn von Bruno Seeger (mein Großcousin) - war Idas Lieblingsneffe. Wie vie-le andere Jungen in seinem Alter vergnügte auch er sich manchmal damit, auf der hinteren Bordwand der damals noch offenen Lastkraftwagen ohne Wissen des Fahrers mitzufahren. Dabei löste sich eines Tages die Halterung der Bordwand und die Jungen knallten auf das Pflaster. Die Spielgefährten kamen mit ein paar Prellungen davon, Manfred aber hatte sich das Genick gebrochen. Ida weinte bitterlich um den so lieben und klugen Jungen. Erstmalig sah ich sie weinen. Grete L. kam dazu und fragte mitleidig: "Wat duht dir denn weh, Oma? Sinds wieder die Beene?" Ida machte eine abwinkende Handbewegung, wischte die Tränen fort und schilderte stockend die Sachlage. Grete L. blickte ungläubig drein: Ida weint um ei-nen Neffen? Es gibt doch noch mehr Bengels auf der Welt! Ida quollen abermals die Tränen aus den Au-gen. Nun wußte Grete, daß die Trauer echt war. Sie stellte sich flugs auf die Situation ein und heuchelte Mitgefühl: "Ja, ja, Oma, so is det, die Besten sterhm imma zuerst!" Ida nickte kummervoll und bestätigte: "Jaaa, so is det!" Verblüfft sah ich die beiden an und überlegte: Stimmte das wirklich? Die Oma ist doch schon sooo alt, ist sie etwa kein guter Mensch? Rasch schüttelte ich diesen Gedanken weit von mir.
Ein paar Tage später durfte ich mit Grete L. einkaufen gehen. Leider machte sie so große Schritte, daß ich an diesem Tage nicht dazu kam, irgendetwas auf der Straße zu bemerken. Ich hatte so sehr damit zu tun, mit ihr Schritt zu halten, daß mir nicht einmal bewußt wurde, wohin wir gingen! Ich fragte nie wieder, ob sie mich zum Marktgang mitnimmt!
Im Sommer 1950 war Herr L. für längere Zeit nicht zu Hause; sei es, daß seine Baustelle in einer weit entfernten Stadt lag oder er einsitzen durfte - er war nicht da und Grete L. mußte aus irgendeinem mir unbekannt gebliebenen Grund ins Krankenhaus, so waren die L.-Kinder mehrere Tage allein. Das Geld reichte nicht, um jeden Tag Mittagessen zu haben. Ida konnte die vielen hungrigen Mäuler auch nicht stopfen. Da hatten die L.-Kinder eine tolle Idee: Sie studierten ein Theaterstück ein! Ein paar Tage lang zogen sie mit Plakaten um den Hals durch die Stadt, auf denen der reißerische Titel sowie Ort und Zeit-punkt des Geschehens geschrieben stand. Mitwirkende waren die L.-Kinder und zwei Freunde von Gitta und Karl-Heinz. Die Aufführung fand in der L.schen Wohnung statt. Zu diesem Zwecke wurde das eine Zimmer gänzlich ausgeräumt. Doris und Waltraud kassierten das Eintrittsgeld. Es kamen so viele Leute, daß Traute und Doris Stühle aus der Nachbarschaft zusammenborgen mußten. Währenddessen soll-te ich die Kasse übernehmen. Ich kannte zwar das Geld und auch die Zahlen darauf, aber ich ging noch nicht lange genug zur Schule, um schnell rechnen zu können. Ich verließ mich auf die Ehrlichkeit der Leute. Plötzlich kam Wolfgang aus der Tür geschossen, ergriff fast das gesamte Geld und ging in die Wohnung zurück. Karl-Heinz und Gitta wunderten sich später, daß so wenig Geld eingekommen war, obwohl das "Theater" berstend voll war. Nun hieß es, daß die doofe Christa nicht richtig aufgepaßt hätte, denn Wolfgang bestritt, Geld an sich genommen zu haben. Er sagte mit treuem Augenaufschlag: "Sowat würde ick doch nie tuhn, ick weeß doch, det davon Essen jekooft weern soll!"
Was es für ein Theaterstück war, weiß ich nicht. Es wurde mir gegenüber ein großes Geheimnis daraus gemacht. Es war für Kinder und Jugendliche nicht zugelassen, obwohl von Kindern gespielt. Ich weiß nur, daß Gitta und Inge sich für eine Szene nackt ausziehen mußten. Während das Stück in der Wohnung seinen Fortgang nahm, sollte ich die Leute abwimmeln, die keinen Sitzplatz mehr bekommen konnten. Wer läßt sich von einer Sechsjährigen abweisen, nachdem er in den 3. Stock geklettert war, um etwas als "einmalig" und "unwiederholbar" angekündigtes zu sehen? Die Leute standen bis zu den nächsten Treppenpodesten. Erst, als einige Besucher fluchend das "Theater" verließen (so n Quatsch, blöde Jörn und weiter nischt!) leerte sich das Treppenhaus.
Grete und Walter lobten ihre Kinder für diese Initiative. Auch dafür, daß sie in der na-hegelegenen Gartenkolonie alle aus den Zäunen herausragenden Beeren und anderes Obst geerntet hatten, um davon zu leben. Bei derartigen Unternehmungen durfte auch ich manchmal mittun. Eben, weil Waltraud Doris' beste Freundin war und Waltraud selten ohne mich aus dem Haus durfte. Als sie die ersten Früchte pflückten, sagte ich: "Du sollst nicht stehlen! Det wißt ihr doch!" Sie beruhigten mich: "Det is nur Mundraub! Sowat is alaubt! Un wenn die Jaatnbesitza da wärn, würn se uns det Obst wahscheinlich schenkn." Nun wunderte es mich nur noch, warum wir dann so schlichen? Die Antwort darauf erfreute mich: "Wir sin jetz Injana." Rasch erfand ich für uns indianische Krieger-namen, die aber von den beiden Großen nicht anerkannt wurden. Zuletzt hieß Waltraud "Weiße Taube" und Doris "Rote Blume", das waren indianische Frauennamen, ich aber war der junge Krieger "Kleiner Hund" und trug diesen Namen mit Stolz, denn ich wußte, daß indianische Namen stets nur bezeichnend, nie aber kränkend waren.
Wenn Wolfgang mit uns war, war es kaum möglich, mich von der Richtigkeit unseres Tuns zu überzeugen, denn er kletterte über die Zäune und stahl alles, was ihm gefiel. Darum schickten sie mich voraus, damit ich im Falle eines Falles die Flucht nicht behindere. Wenn unser Raubzug ohne Zwischenfälle verlief und unsere Taschen gefüllt waren - wir füllten in der Regel nur unsere Jackentaschen und die Handtäschchen der beiden jungen Damen - nannte Waltraud uns die Namen all der schönen Blumen, die wir in den Gärten erblickten. Ich war hell begeistert darüber, meine Freunde, die Blumen, nunmehr mit ihren Namen anreden zu können.
In dieser Laubenkolonie gab es auch einen freien Platz mit einer Bühne. Häufig produzierten wir uns darauf, namentlich Doris und Waltraud. Was ich darbot, war für sie nicht akzeptabel. Von Jahr zu Jahr wurde die Bühne unansehnlicher. Doch einmal - wenn ich mich recht erinnere 1952 - gab es ein großes Sommerfest, welches wir nicht versäumen wollten. Die Bühne war neu hergerichtet worden, ein wahrer Augenschmaus. Aber das Programm ließ auf sich warten. So gingen wir um die Bühne herum. An ihrer Rückseite waren mehrere Zelte für die Darsteller errichtet worden. An einem dieser Zelte war deutlich der Abdruck eines Menschenrückens zu erkennen. Wolfgang stieß sein Taschenmesser in diesen Rücken, freute sich über den Aufschrei aus einer weiblichen Kehle und sagte: "Wir vahaltn uns janz ruhich, denn merkt keena, det wir det warn." Gleichzeitig stürzte eine schreiende junge Frau aus dem Zelt mit einem Säugling auf dem Arm. Ob ihrer Stichwunde hatte sie vergessen, ihren Busen zu bedecken. Auf dem Heimweg fragte Wolfgang euphorisch: "Habt ihr die Titten jesehn?" Worauf Doris nur erwiderte: "Na, du hast Sorjen!"
Grete L. glaubte übrigens auch, schauspielerisch begabt zu sein. Wenn es nach ihr gegangen wäre, müßte man sie ohnehin Greta (Garbo) nennen. Eines Tages bat sie Traute, Idas Brille zu verstecken. Waltraud tat es und schärfte mir ein, absolut die Schnauze zu halten, weil sonst alles verdorben wäre. Als es klingelte, ging ich wie gewohnt, die Tür zu öffnen und erblickte ein sonderbares Geschöpf, offensichtlich eine Ausländerin, denn ihr Gesicht war dunkel und irgendwie künstlich, da war nicht nur Schminke, sondern auch etwas maskenähnliches. Mit unnatürlich hoher Stimme bat die Bettlerin (es war damals durchaus nicht ungewöhnlich, daß Bettler in die zweite Etage gingen) um ein Stück altes, hartes Brot. Wahrheitsgemäß antwortete ich ihr, daß ich nicht weiß, ob derartiges im Hause ist und rief nach Ida. Sie kam mürrisch angeschlurft: "Wat is denn?" Nun erklärte die Bettlerin ihre mißliche Lage und bat um ein Stücklein Brot für ihre armen kleinen Kinder. Ida kam die ganze Sache mehr als spanisch vor und sie suchte nach ihrer Brille, um die sonderbare Bittstellerin in näheren Augenschein nehmen zu können. Aber die Brille war unauffindbar. Inzwischen wurden die Bitten der "Zigeunerin" immer massiver. Waltraud krümmte sich hinter der Stubentür vor verhaltenem Lachen und erklärte mir im Flüsterton: "Det is Tante Jrete!" Ich begriff, daß mit unserer Oma Scherz getrieben wurde und hoffte inständig, daß die Sache nicht noch ein böses Ende nimmt. Ida suchte letztendlich ein paar alte Brotkrumen zusammen und gab sie der Bettlerin, nachdem sie ihr mehrere Ratschläge erteilt hatte, wie man sonst noch auf halbwegs ehrliche Weise zu Geld kommt. Als die Bettlerin die Gnadengaben in Händen hielt, streifte sie den Hut und den das Gesicht entstellenden Nylonstrumpf ab, machte den Rücken gerade, schob die schiefe Schulter in die gesunde Position zurück und präsentierte sich als die gute alte Nachbarin Grete L. Ida war schockiert. Sie sank auf ihren Küchenstuhl, griff sich ans Herz und sagte kopfschüttelnd: "Wie kannste nur so n Quatsch machen, du deemlijet Kamel! Ick denke Wunda, wat da for ne iebrichjebliehmne Zijeunerin vor de Düre schteht un dabei bist du det nur!" Ich wußte nicht, wie ich diese Art von Humor einordnen sollte. Ist es wirklich lustig, einen arglosen hilfsbereiten Menschen in die Irre zu führen?
Irgendwann brachten die L.-Kinder eine schwarz-weiß gefleckte Katze mit nach Hause. Grete erlaubte, daß das Tier in der Wohnung bleibt. Als der Vater am Wochenende nach Hause kam, beförderte er es mit einem Fußtritt ins Treppenhaus. Seitdem versteckten die Kinder die Katze vor der Heimkunft des Vaters im Keller oder auf dem Hausboden. So wurde sie ein Streuner. Zweimal im Jahr warf sie Junge, stets im Beisein von Grete L. Die Katze zupfte Grete solange an der Schürze, bis sie ihr in die Küche zu dem Platz folgte, den die Katze sich als Nest für ihre Jungen ausgesucht hatte, erst dann brachte sie sie zur Welt. In den ersten zwei Jahren waren die L.-Kinder bemüht, liebe Katzeneltern für die Jungen zu finden. Bald war der Markt restlos gesättigt. Nun mußten die überzähligen Jungen getötet werden, um nicht eine Katzenplage hervorzurufen. Grete L. wollte nicht, daß ihre Kinder das tun, so stellte sie meinen Bruder Manfred an, damit er für ein paar Mark die Katzenjungen in einem Eimer ertränkt. Daraufhin warf mir Waltraud eines Tages an den Kopf, daß mein Bruder ein Mörder sei.
Streunende Katzen wurden übrigens von den L.-Kindern mit Baldrian "verwöhnt". Sie waren sehr erheitert, wenn die Tiere sich nach dem Genuß unnormal verhielten.
Auch wir hatten ein Katzenkind abbekommen, d.h. Gerda hatte sich eins gewünscht. Aber es dauerte eine Weile, ehe sie ihren Mann dazu überreden konnte, die Katze in der Wohnung aufzunehmen. So hatte ich einen Spielkameraden. Es machte mir nichts aus, wenn er mir Schrammen in die Arme kratzte. Dafür bekam er von mir kleine Ohrfeigen. Es ging darum, wer schneller war. Schaffte ich es, ihn zu ohrfeigen, hatte er den Schaden, schaffte ich es nicht, hatte ich den Schaden. Wenn ich genug Schrammen hatte, nahm ich den Kater auf den Schoß und streichelte ihn, denn er hatte so ein schönes weiches Fell. Ein Fell zum Endlosschmusen. Ich träumte ihn zum Löwen oder Tiger und erzählte ihm die tollsten Geschichten von unseren gemeinsam erlebten Abenteuern und freute mich, daß er schnurrend zuhörte.
Der Kater bekam unsere Essenreste und Ida wurde wütend, wenn ich ihm einen Wurstzipfel gab. Aber er fraß nun mal nicht gern Erbsen und Mohrrüben oder gar Kohlsuppe.
Da er ein schwarzes Fell hatte, wurde er "Mohrchen" gerufen. Er hatte am Hals einen kleinen weißen Fleck, den wir scherzhaft "Sabberlatz" nannten. Er durfte nicht in die Wohnstube. Aber an Wintertagen war es ihm wohl zu kalt oder zu einsam in der Küche. So sprang er gegen die Klinke, hielt sich mit den Krallen an ihr fest und fuhr - an der Türklinke hängend - in die Stube hinein. Als Belohnung für diese Intelligenztat durfte er dann in der Stube bleiben.
Als Grete L. noch nicht so genau wußte, wie sie sich am ehesten bei Ida einschmeicheln könnte, sagte sie (ich war gerade vier Jahre alt): "Ick jloobe, die Christa wird mal hübsch!" Ida sah mein glückliches Lächeln und antwortete von oben herab: "Ja, hübsch deemlich!"
Ein paar Tage später kam Grete L. mit mehreren schweren Taschen vom Einkaufen nach Hause und machte bei uns Station, weil sie auch für uns einiges eingekauft hatte. Plötzlich fragte sie: "Oma, wo haste denn det jroße Messa zu liejen?" Ida gab ihr unser Brotmesser: "Wat willste denn damit?" - "Det siehste jleich." Grete L. führte mich in die Stube und sagte: "Setz dir uff dein Bett und heb den Rock." Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was das werden sollte und lachte, um der Situation die Schärfe zu nehmen. Grete L. ließ das Messer in der Hand wippen und fragte: "So, Oma, du weeßt doch Bescheid, wo is denn nun die Schdelle, wo man so n Been abschnein kann? Mir duhn meine Beene so weh, ick nehm mir jetz die von Christa." Ich sehe das Messer heute noch vor meinen Augen blitzen, obwohl Ida den Kopf schüttelte.
Grete L. erzählte gern Horrorstorys, z.B. die von der jungen Witwe, die 1947 Fünflinge bekam, die alle tot geboren wurden, weil sie blind waren, Hundeköpfe und lange Schwänze hatten und Fell an den Bäuchen. Ich war überzeugt, daß das genau so ein Unsinn ist wie das Gerede, daß der schwarze Mann die Kinder holt, wenn sie nach dem Abendgebet nicht gleich einschlafen; doch sie hatte Wahres berichtet, wie ich acht Jahre später durch die Freundin meiner Mutter erfuhr. Ich erwischte Grete L. so oft beim Lügen, daß ich ihr so gut wie gar nichts mehr glaubte.
Einmal hatte Grete L. von einer Bekannten Geld geborgt und war außerstande, es zu-rückzuzahlen. Als der Termin der Rückgabe kam, flüchtete Grete zu uns und sagte: "Wenn det klingelt, machste uff, un wenn denn ne Frau X vor de Düre schdeht, denn saachste, det ick nich da bin." Ich war fünf Jahre alt. Als es klingelte, vergewisserte ich mich: "Sind Sie Frau X? Denn is Tante Grete nich hier." Und schloß sofort die Tür. Grete wollte sich ausschütten vor Lachen und dachte nicht daran, daß man das durch die dünne Wand hört, sie saß ja in der Küche fast neben der Wohnungstür. Nun ließ die Frau sich nicht abwimmeln, sondern klingelte wieder. Ich wurde zur Tür geschickt, um zu erklären, daß ich ganz allein in der Wohnung sei und unser Kakadu gelacht habe und ich sollte, bevor ich die Tür öffne, die Kette vorlegen. Die Frau glaubte mir nicht und klingelte und klopfte, holte einen Nachbarn zur Verstärkung. Der gab bald auf, denn ich sollte die Tür nicht mehr öffnen. Wäre die Frau von Gretes Kaliber, hätte sie einen Fuß in die Tür gestellt und sich vergewissert, ob ich wirklich allein in der Wohnung bin!
Die L.-Kinder wurden mit der Zeit auffällig. Mehrere Nachbarn hatten schon Anzeige er-stattet wegen kleiner Diebstähle, Beleidigung, Rowdytum und Ruhestörung. So kam eine Frau von der Jugendfürsorge, um sich die Familienverhältnisse näher anzusehen. Den Kindern wurde eingeschärft, nicht zuzugeben, daß sie mit Peitschen geschlagen wurden, denn dann würden sie in Heime kommen - jeder in ein anderes! - und da hätten sie es bei weitem nicht so gut wie zu Hause. Die Amtsperson sagte, daß die Mieter vom Hause gegenüber gesehen haben, wie der Vater die Peitsche schwang. Grete L. antwortete: "Er schlägt die Kinder nicht, er droht ihnen nur." So verlief die Untersuchung im Sande. Die L.-Kinder nahmen sich für einige Zeit zusammen und trieben ihren Blödsinn dann in Gegenden, die weit von ihrer Wohnung entfernt lagen. Sie entfernten vom "Stillen Portier" das Namensschild ihrer Familie in der Hoffnung, daß es so etwas schwieriger sei, sie zu finden.
Im Juni 1995 besuchte ich das Haus meiner Kindheit zum erstenmal nach 30 Jahren wieder und sah, daß der "Stille Portier" all die Zeit nicht erneuert worden war. Es standen die Namen Seele, Selling und Romianowski immer noch darauf sowie ein verkrakeltes "Nitz" und sonst nichts weiter (der Name Döring war 1955 abgenommen worden, als das Ehepaar kurz nacheinander starb).
Herr L. war recht musikalisch. Wenn er zu Familienfeiern in unserer Wohnung war, sang er die Trinklieder mit angenehmer Stimme. Aber gewöhnt, aus allem, was er hatte oder konnte, Kapital zu schlagen, schlug er den Anwesenden eine Wette vor, daß er ein Lied kennt, das Striche aufs Papier zaubert. Nachdem jeder seinen Einsatz entrichtet hatte, führte er uns das Wunder vor. Es bestand darin, daß er an den Stellen, wo der Ton über zwei Takte gehalten wurde, für jeden Takt einen Strich aufs Papier malte, sodaß am Ende mehr Striche auf dem Papier waren als das Lied Töne bzw. Wortsilben hatte.
Grete L. hatte auch "Humor". Einmal fragte sie mich, mit welcher Hand ich mir den Hintern wische? Mir war beigebracht worden, daß alle wichtigen Verrichtungen von der rechten Hand ausgeführt werden. Ich hielt es für wichtig, ein sauberes Höschen zu tragen und antwortete spontan: "Mit der rechten." - "Pfui, du Ferkel," höhnte sie, "dazu nimmt man doch Papier!" Ein paar Tage später fragte sie Waltraud, ob sie den Unterschied zwischen Kochtopf und Nachttopf kennt? Waltraud vermutete, einen guten Witz vorgesetzt zu bekommen und lachte: "Nee, azeel ma!" Grete rümpfte die Nase: "Wat, du kennst den Untaschied nich? Na, denn möcht ick ja schpeeta nich mal deine Wirtschaft sehn!"
Mitunter versuchte sie, uns ein wenig Allgemeinbildung beizubringen. Dann hörten wir Sätze wie: "N Kind ohne Kopp bleibt n Krüppel sein Leehm lang." oder "Die Menschn wolln beschissn weern!" oder "Jekochte Milch is jesünder wie rohe, jekochte Milch neehrt, rohe Milch zeehrt!" oder: "Rote Haare, Sommaschprossn, sind des Teufels Eidjenossn!" oder: "Hüte dir vor die, die Jott jezeichnet hat!" (wenn jemand einen Körperfehler hatte oder auch nur eine Warze im Gesicht, war er von Gott gezeichnet und also gefährlich!) oder: "Märznschnee tut die Saatn weh!" Mir tat ihr schlechtes Deutsch weh, aber das finde ich bezeichnend: Sich in der eigenen Muttersprache nicht richtig auskennen, aber ausländerfeindlich sein!
An einem kalten Wintertag im Jahre 1955 war ich zufällig bei L.s oben, als sie Besuch bekamen. Es war eine hagere Frau unbestimmbaren Alters mit langen schwarzen Zottelhaaren, die unter einem rotbunten Kopftuch hervorlugten. Sie war stark geschminkt und trug einen schweren Pelzmantel, darunter ein schwarzes Samtkleid, um den Hals mehrere Goldketten von unterschiedlicher Stärke. Mit ihr kam ein etwa zwölfjähriges Mädchen in einem dünnen Mäntelchen, darunter ein kurzes, arg verwaschenes Sommerkleid. Sie hielt den Kopf gesenkt und richtete die Augen nur ganz kurz auf jede zu begrüßende Person, die sie jeweils mit einem stummen Kopfnicken bedachte. Grete L. fragte: "Warum haste denn det Kind so dünne anjezooren? Die wird sich noch wat wegholn!" Die Besucherin antwortete von oben herab: "Die hat det nich anders verdient. Im übrijen mach ick mit die Jöre, wat ick will. Det is neemlich meine!" Mir tat das Mädchen in der Seele leid. Grete L. sagte nun: "Wir jehn inne Schtube, da wolln wa ne Weile unse Ruhe haam, wir haam wat wichtjet zu beredn. Bleibt ma alle hier inne Küche, untahaltet euch und seid aatich!" Ich blickte auf Doris. Sie hatte den Kopf zum Fenster gewandt und sagte nichts. Da ergriff ich die Initiative: "Du meine Jüte, deine Mutta is aba schtreng mit dir!" Das Mädchen hob den Kopf, richtete ihre schwarzfunkelnden Augen auf mich und zischte: "Halt die Schnauze, du blöde Kuh!" und senkte wieder den Kopf. Doris lachte schallend, kletterte auf das Fensterbrett und sagte zu dem Mädchen: "Komm ruff hier, ick zeich dir wat intressantet!" Die Aufforderung wurde befolgt und ich ging hinunter zu Ida. Ich war drei Jahre jünger als die beiden, also wohl als Spielkameradin ungeeignet. Ich war es derart gewöhnt, beschimpft zu werden, daß ich nicht fragte: "Wie kommt dieses Mädchen, das doch nichts von mir weiß, dazu, mich eine "blöde Kuh" zu nennen?" Ich hatte akzeptiert, eine blöde Kuh zu sein.
Kommen wir nun zu dem jüngsten L.-Kind, Maximilian, 1948 geboren und Mäcky gerufen. Grete L. war der ständigen Abtreibungen überdrüssig und wollte ihrem Mann klarmachen, daß er auch einen Teil Verantwortung für die Entstehung eines Kindes trägt und gefälligst auch einen Teil (den obendrein leichteren!) der Schwangerschaftsverhütung übernehmen könnte. Walter L. antwortete: "Wenn de jetz zum Blauschtrump wirscht, denn sin wa jeschiedne Leute!" Als Mäcky geboren war, sagte Wolfgang aufsässig: "Denk ja nich, det ick mit deen in een Bette schlafe!" Und Doris legte ebenfalls Protest ein: "Speckelier nich dadruff, det de mir det Jör uffhäng kannst!" So genoß Mäcky den Luxus, in einem eigenen Bettchen schlafen zu können. Er war ein zartes Knäblein mit blauen Augen und blonden Haaren, der absolute Liebling seiner Mutter. Sie ließ ihm alles durchgehen und hielt jederzeit die Hände schützend über ihn, wenn eine Tracht Prügel fällig war.
Er wurde mein Spielkamerad. Mir wurde befohlen, wie eine Schwester für ihn zu sein. Ich durfte häufig auf ihn aufpassen, wenn Grete L. irgendwelche Besorgungen zu machen hatte. Zu Anfang gefiel ihm meine Gesellschaft auch recht gut und wir spielten artig miteinander. Aber dann begann er, Unfug zu treiben und ließ sich von mir nichts mehr sagen. Er liebte es z.B. von unserem Balkon den Gästen im Gartenlokal Sand und Steinchen aus unseren Blumenkästen in ihre Gläser zu werfen, wofür ich dann zur Rechenschaft gezogen wurde. Ich konnte seiner nicht Herr werden. Er hatte sich täglich gegen seine älteren Geschwister zur Wehr zu setzen, die wesentlich größer als ich waren. Wenn ich drohte, ihm eine runterzuhauen, stieß er mir seine kleine Faust so geschickt gegen die Nase, daß sie blutete. Davon ist meine Nase ein klein wenig schief gewachsen.
1951 richtete das "Evangelische Kinderhilfswerk" eine Adventsfeier für bedürftige Kinder aus. Mäcky und ich waren auch eingeladen und wir gingen zusammen dorthin. Die Feier war erst nach Einbruch der Dunkelheit zu Ende. Auf dem Heimweg machte sich Mäcky den Spaß, mitten auf dem vereisten Fahrdamm zu laufen. All meine Vernunftsappellationen nutzten nichts. Er begann obendrein, lautstark um Hilfe zu rufen. Aus einem der Häuser kam ein junger Mann und fragte, was los sei. Ich sagte: "Der Bengel hat n Knall, der schreit nur so aus Schpaß!" Der junge Mann sah mich giftig an und ging. Minuten später rief Mäcky wieder in den klagendsten Tönen um Hilfe. Wieder kam ein Mann aus einem der Häuser, der Vorgang wiederholte sich. Mäcky bläkte weiter. Doch nun kam ein Mann, der nicht mit sich spaßen ließ. Er verpaßte Mäcky eine saftige Maulschelle. Ungerührt sagte ich: "Siehste, Mäcky, so is det, hättste jleich uff mir jehört, hättste keene Maulschelle jekricht." Nun wurde er wütend, warf sein Weihnachtsgeschenk auf den Boden und zertrat es. Er heulte, bis wir zu Hause waren und erzählte seiner Mutter, daß ich das Geschenk kaputt gemacht hätte. Aber das war nun wirklich lächerlich. Es war allgemein bekannt, daß ich zum Lügen viel zu dämlich war und sich die Sache also genau so abgespielt hatte, wie ich sie schilderte.
Zu erzählen, was er mir sonst noch antat, würde mehrere Seiten füllen, also gehen wir lieber zu einem anderen Thema über.
Auf dem Nachbarhof links von unserem Haus stand ein großer Walnußbaum. Der Hof war gut verschlossen, es war nicht leicht, an den Nußbaum heranzukommen. Ida sagte in ihrer unerhört autoritären Art: "Jnade dir Jott, wenn ick dir dabei awische, det du über den Zaun klettast wie die L.-Jörn un von den Nußbaum klaust! Die Nüsse sin erst reif, wenn se runtafalln, un denn jehörn se den, den der Nußbaum jehört, merk dir det, do!" Es wäre mir im Traum nicht eingefallen, über den hohen Bretterzaun zu klettern, schon weil er oben mit Stacheldraht versehen war und auf dem Hof ein großer Schäferhund frei herumlief. Man wußte nie, ob der Hund im Hof war oder nicht, seine Hütte stand so, daß man nicht in sie hineinsehen konnte. Der Hund ging erst auf die Eindringlinge los, wenn sie sich bereits im Hof befanden. Das beobachtete ich, als Wolfgang L. über den Zaun kletterte. Er wollte sich gerade nach den Nüssen bücken, als plötzlich der Hund laut kläffend aus seiner Hütte schoß. Hui, wie schnell war Wolfgang wieder auf unserer Seite des Zaunes! Bei seinem nächsten Versuch, an die Nüsse zu gelangen, hatte er ein Stück Wurst bei sich. Nun konnte Wolfgang in Ruhe Nüsse sammeln, solange der Hund fraß.
Als ich acht Jahre alt war, fand Ida es an der Zeit, daß ich endlich Handarbeiten lerne. Waltraud war gerade mal wieder mit Doris zerstritten, so setzten wir uns auf den Hof (wir besaßen damals rosafarbene Kinderstühle und einen dazu passenden Tisch). Waltraud lehrte mich das Häkeln und ich begann einen Rock für meine Puppe. Waltraud stickte an einem Zierdeckchen, das sie ihrer Mutter zu Weihnachten schenken wollte. Wir saßen da im Sonnenschein, freuten uns des Lebens, sangen Volks- und Küchenlieder und waren felsenfest überzeugt davon, daß wir in diesen Stunden zu den artigsten Mädchen der Stadt gezählt werden konnten. Nachdem wir das drei Tage lang getan hatten, kam Grete L. und fauchte die Ida an: "Saach ma, wat denkst de dir eijentlich dabei, die beedn Jörn da unten sitzn zu lassn? Det sieht ja aus wie uff n Nuttenmarcht! Wat meinst de woll, wie die Leute sich üba die beedn Weibschtückn die Mäula zareißn?" Ida verbot uns nun, auf dem Hof zu sitzen, wir mußten unsere Handarbeiten in der Stube vollenden.
Manchmal langweilte ich mich entsetzlich in unseren vier Wänden. Da kam mir einmal die Idee, einen Spiegel auf das gegenüberliegende Haus zu richten und zuzusehen, wie der Sonnenfleck wandert. Dabei fiel der Spiegelreflex auch in die Fenster. Einem Fenster gegenüber hing ein großer Spiegel an der Wand, der den Reflex zu mir zurücksandte. Das fand ich sehr lustig. Ich hatte keine Ahnung, daß ich die Leute in der Wohnung nun doppelt blendete.
Ungefähr zu jener Zeit begann Grete L., sich auf das Kartenlegen zu spezialisieren. Doris hatte die Bedeutung der einzelnen Karten abgelauscht und vermittelte uns diese Kenntnisse. Nun saßen wir tagelang da, legten uns gegenseitig die Karten und stellten tausend Fragen, was uns die Zukunft wohl bringen werde. Treu nach dem Vorbild ihrer Mutter (man prophezeit nach Möglichkeit Positives!) sollte die Zukunft für uns alle reiche Männer, zwei liebe Kinder und ein freudvolles Leben bereithalten. Die Einzige, auf welche das später einigermaßen zutraf, war Waltraud. Ihr Mann hatte ein gutes Einkommen und sie haben zwei wohlgeratenen Töchter. Doris hat vielleicht reiche Männer gehabt (sie ließ sich dreimal scheiden), war aber gebärunfähig. Ich fiel völlig aus dem Rahmen, denn meine "Männer" waren meistenst nicht einmal reich an Emotionen; und ich habe vier Kinder geboren.
Eine Nachbarin, deren Namen ich mir nicht gemerkt habe, war als Folge eines Unfalls auf einem Auge blind geworden. Alle bemitleideten die hübsche junge Frau. Grete L. sagte bedauernd: "Ach, die arme Frau! Konnte det denn nich eene passiern, die sowieso schon n Fehler hat?" Soviel Gedankenlosigkeit kann man schon Herzlosigkeit nennen.
Wann immer ich auf die Straße durfte, versuchte ich, mich gründlich auszutoben. Darum sagte Grete L. eines Tages zu Ida: "An der Christa is n Bengel valorn jejang! Wat soll dadraus bloß noch weern! Womöchlich ne zweete Irma!" Sie wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit Ida, die daraufhin eine Schnute zog. Ich wußte damals noch nicht, wie die Worte gemeint waren und begriff nur, daß Irma wahrscheinlich minderwertig war. Ich fand sie gar nicht so schlecht. Sie war mir jedenfalls wesentlich sympathischer als Grete L., deren Verlogenheit mir sehr zuwider war, ebenso ihre Art, sich bei Ida einzuschmeicheln, um dies und das zu erbeuten. Aber gleich bei meiner ersten zaghaften Andeutung diesbezüglich wies Ida mich mit hart zurecht, daß Kinder sich über Erwachsene kein Urteil zu erlauben haben und Erwachsene wissen, was sie tun.
Gegen Ende der Fünfziger Jahre sprach Grete L. mit Ida auch darüber, ein Testament zu machen. Ida lachte: "N Testament? Uff wat denn? Ej, wat de hier siehst, is allet, wat ick habe. Det kricht Gerda. Wenn se et will. Wat se nich will, kann se vaschenkn oda wegschmeißn. Un det weeß se. Un dazu brauch ick keenn Notaa, der mir noch Jeld kostn würde. Basta!" Grete L. meinte, daß da vielleicht noch irgendwelche Werte seien, historische Werte, wie z.B. die Krone der Silberbraut oder auch das alte Buffett. Ida sagte mit verschlossener Miene: "In det Beewee sin schon lange die Würma. Un mein Silberbrautschmuck is meina. Ick will, det a mir mit int Jrab jejeehm wird."
Ich weiß nicht, ob Idas Silberbrautkrone mit ihr bestattet wurde. Ich hatte inzwischen eine neue Welt für mich entdeckt (meine Phantastereien), und wußte seit langem, daß ich von Idas Wertigkeiten weit entfernt war. So war mir jegliche Entscheidungskraft genommen. Ich hatte mich zu fügen wie eh und jeh und konnte nicht einmal für die Rechte meiner Erzieherin eintreten. Ich war ja auch erst fünfzehn, also lange nicht "maascheräng" (majorin).
 



 
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