aus memoiren jüdisch

flammarion

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Old Icke und das Jüdische

Es begegneten mir in meinen ersten Lebensjahren viele jiddische Vokabeln. Einige ge-hörten zur Umgangssprache, andere wurden später als Fremdwort abgestoßen. Ganz natürlich war: "Es zieht wie Hechtsuppe" (zurückzuführen auf "Hechta Supa", schnelle Luft, aber das wußte niemand von uns, wir bezogen den Ausspruch auf ein leckeres Fischgericht), wer "beschickert" war, war noch lange nicht be-soffen; wer in den "Masseltopp" (eine Mischung aus dem jiddischen "mazel tov" und irgendeinem Topf) griff, hatte großes und unverdientes Glück, "meschugge" (so hörte ich es 1949, 1994 hörte ich auch "meschigge" für denselben Begriff) war die ganze Welt, nur manche Menschen waren blöd, bescheuert oder saudoof ("doof" ist übrigens vom hebräischen "dov" - der Bär - hergeleitet). Das Schimpfwortver-zeichnis der Familie L. war schier unerschöpflich. Niemand registrierte, aus welcher Sprache die Worte stammten. Jedenfalls hörte ich von Grete L. die meisten jiddischen Vokabeln, wie ich im nachhinein fest-stelle.
Sie erzählte in meiner Gegenwart u.a., daß sie in ihrer frühen Jugend von einem Mann umworben wurde, der viel älter war als sie und lange Schläfenlocken ("Schabbeslocken" von Grete L. genannt) trug. Sie berichtete mit großen Kulleraugen: "Der meente (sagte) zu mir, er hat mir in ne Schumme! Ick jeh doch nich mit so n Kerl int Schummrije, wer weeß, wat denn passiert!" Sie hat vielleicht nie erfahren, daß "neschome" im jiddischen "Seele" heißt oder wollte es nicht wissen.
Wenn sie vorhatte, einer Bekannten etwas heimzuzahlen, sagte sie mit scharfem Unterton: "Man ie-berseht sich!" Ich hoffte, es sei so gemeint, daß sie die Betreffende in Zukunft ignorieren würde, damit beiden kein Leid geschieht. Jedenfalls wollte ich diese Worte, die ich Jahrzehnte später als jiddische Grußformel (abi me sejt sich) kennenlernte, so verstanden wissen.
Als ich etwa vier Jahre alt war, hörte ich ein Gespräch zwischen Ida und Grete L. mit an, welches die verfügbaren Männer zum Thema: "menschlicher Beistand mit Rat und Tat" sondierte, über einen Mann, den ich nicht kannte, von Grete L. in verächtlichem Ton die Meinung: "Der hat doch keen Koiach (jidd. kojech) nich!" Somit hatte für mich "keen Koiach", wer kraft- und herzlos war. Hier hatte Grete L. ein-mal ein jiddisches Wort richtig angewendet.
Wenn der Grete L. irgendeine Überlegung unsinnig erschien, sagte sie verweisend: "Det sin Kutscha-jedankn!" (im jiddischen sind "kutscherne Gedanken" solche, die zu nichts führen). Über einen ihr unred-lich erscheinenden Menschen sagte sie: "Der is nich kooscher!" Dieses Wort begegnete mir 1977 wie-der, als ich mit einem Mann zusammen-lebte. Da unser Geld recht knapp war, kaufte ich regelmäßig Fleisch und Wurst von der "Freibank". Er warf mir vor, ihm "kosche-res Fleisch" vorzusetzen. Ich wußte, daß ein Rabbiner die koschere Schlachtung auf dem berliner Schlachthof überwachte, aber er wußte nicht, daß koscher "rein" bedeutet. Für ihn war es "jü-disch", also schlecht.
1948 bat Grete L. wieder einmal sehr wortreich um irgendetwas, das ich ob der vielen nie gehörten Worte vergessen habe. Ich weiß nur noch, daß Ida sie freundlich nickend unterbrach: "Nu laß ma deine Mameloschen, mit mir kannste schon deutsch redn." Grete L. verstummte offe-nen Mundes, dann kicherte sie und sagte geradeheraus, was sie wollte. Bei mir blieb nur ein "Er-wachsenenwort" hängen: "Mameloschen". Ich fragte Ida nach der Bedeutung und sie antwortete unwirsch, daß "Mameloschen" so etwas ähnliches sei wie "Babylatein". Daraufhin verdrängte ich alle mir fremd erscheinenden Worte, die ich aus Grete L.s Munde hörte. Aber mein Gedächtnis hat einige gespeichert. Die Lieder von Karsten Troyke, Mark Aizikovitch u.a. erwecken sie in mir und ich erinnere mich an meine Kindheit. Unter "Schlammassel" (jidd. "Schlimazel", Un-glück) verstand Grete L. übrigens ein heilloses Durcheinander.
Wenn irgendwo Kindergruppen laut waren, ohne zu randalieren, mußte ein Erwachsener nur rufen: "Det jeht hier zu wie in ne Judnschule!" und schon waren alle still. Keiner wollte Jude sein. Die Juden waren aus dem deutschen Volk verstoßen worden. Derartiges wollte keiner am eige-nen Leibe erfahren. So fragte auch niemand: "Warum?", und keiner konnte antworten, daß die Juden hohen Wert auf die Äußerung der eigenen Meinung legen, und daher die Stimmbildung fördern, damit sie sich auch in großen Menschenmassen Gehör verschaffen können, ohne die an-deren niederzuschreien.
Einmal spielten Waltraud und Doris in unserer Küche und begannen aus irgendeinem Kinder-grund einen lautstarken Streit. Ida hatte mich Vierjährige auf den Küchentisch gesetzt, um mir die Schuhe zuzubinden, so hatte ich den besten Überblick über die streitenden Mädchen. Plötz-lich riß Ida die Hände auf ihre Ohren, wandte sich um und keifte: "Kennt ihr eich nich iebabe-ten?" Wir lachten über das Fremdwort. Die Mädchen falteten die Hände gegenseitig über den Köpfen und der Streit war vergessen. Für uns war es nur ein Witz, wir forschten nicht nach dem Ursprung des Wortes. Erst als ich 45 Jahre später Mark Aizikovitch ein Lied mit dem Titel: "Lo-mir sich iberbetn" singen hörte, erfuhr ich, daß es aus dem Jiddischen stammt und "sich vertra-gen" bedeutet.
Meine Mutter sah angeblich wie eine Jüdin aus. Zur Nazizeit wurde sie mehrfach auf der Stra-ße verhaftet, weil sie den gelben Stern nicht trug. Ihr Ehemann mußte sie auf dem Revier als sei-ne Frau und Arierin identifizieren. Nicht nur mein Vater, auch meine Mutter konnte den Arier-Nachweis über mehr als die geforderten zehn Generationen zurück erbringen. Meine Eltern ver-standen die Welt nicht mehr: Man durfte nur noch mit gültigen Ausweispapieren auf den Straßen wandeln! Innerlich kopfschüttelnd wies Elly künftig ihre Papiere vor, um nicht immer wieder ver-haftet zu werden.
Wenn ich mich an das Gesicht meiner Mutter erinnere, begreife ich nicht, was die Nazis haß-ten. Was sollte da jüdisch sein? Die grauen Augen vielleicht. Sie ähnelten denen von Rosa Lu-xemburg. Arier haben blaue Augen. Oder war es die Arglosigkeit, die sich in den Augen spiegel-te? War es Mamas Vertrauen in die Menschheit? Ihre Unfähigkeit, einem anderen Menschen weh zu tun? Wenn das jüdisch ist, dann wünsche ich mir, daß es ausschließlich Juden auf dieser Welt geben möge!
Wenn jemand der Ida etwas aufdrängen wollte, was sie nur sehr selten oder vielleicht gar nicht benutzen würde und dabei dennoch behauptete: "Das brauchst du!", erwiderte sie giftig: "Zu Kapoores brauch ick det!" Ich freute mich damals, daß meine Oma die aufdringlichen Ge-schäftemacher abweisen konnte, aber was "Kapores" bedeutet, erklärte sie mir nicht. Bis 1996 war ich mir nicht sicher, ob es sich um einen Feiertag (wir sagten "zu Ostern" bzw. "zu Weih-nachten") oder um eine Speisenzutat (Ida sagte "zu Katoffilsuppe brauchste . . .") handelte. Ich erfuhr die Bedeutung erst 96, als ein Jude im Hackeschen Hof-Theater jiddische Geschichten und Witze erzählte und dabei erläuterte, daß "Kapores" ein jüdisches Ritual ist, welches selbst von den meisten Juden als unsinnig betrachtet wird. Hier wird zum Feiertag Jom Kippur ein Huhn oder ein Hahn geschlachtet und über den Häuptern der Familie geschwenkt, damit das Tier alle Sünden der Anwesenden auf sich zieht. In jenem Witz handelte es sich dabei allerdings um ein Pferd.
Einmal - ich mochte ungefähr zwölf Jahre alt gewesen sein - saß ich ungeduldig in der Küche. Aus irgendeinem Grunde war das Mittagessen nicht rechtzeitig fertig geworden. Ich murrte: "Wann jibt et denn nu endlich Mittach? Ick hab solchn Hunga!" Gerade rechtzeitig, um die letz-ten Worte zu hören, kam Irma in die Küche und fuhr mich an: "Du weeßt doch jar nich, wat Hunga is! Du hast doch noch nie Kartoffelschaaln essn müssn!" und verließ die Küche wieder, ohne daß ersichtlich wurde, was sie eigentlich wollte. Ich fragte Ida, wie man solch ein Benehmen erklärt, und sie antwortete: "Die Irma hat ma wieda de Morrescheue (vom hebräischen "more schchoyre")." Das war wieder so ein Wort, dessen Herkunft und Bedeutung für mich im Dunkeln blieb, bis ich - 50jährig - jiddische Lieder hörte.
Irgendwann einmal - ich glaube gar, es war bei einer meiner Geburtstagsfeiern - wurde Grete L. animiert, etwas aus ihren jiddisch-Kenntnissen kund zu tun. Sie berichtete, daß die Juden einen Oberbegriff für Feiertagsfrieden haben: "Schulriehm" (so sprach sie "Scholem" aus). Ich hatte am Vortag beim Geschichtsunterricht in der Schule gehört, daß es früher keine Schultaschen gab, sondern daß die Schulbücher mit einem Riemen zusammengeschnürt wurden. So wurde "Schulriehm" für mich ein ganz natürliches Wort: Man lernt in Frieden.
Des weiteren sagte sie, daß die Juden all ihre jungen Männer nur "Hosen" nennen. Nun lästerte Ida: "Un die altn nenn se woll "alte Hosn", wat?" (Im jiddischen wird der Bräutigam "Chusn" genannt).
Grete L. behauptete danach: "Die Judn schickn ihre Jörn nich in ne Schule, sondan in de Heide." (Im Jiddischen wird das Schulhaus "chejde" genannt).
Wenn ein Kind einen unbedachten Ausspruch tat, kommentierte Grete L.: "Wie bei die Judn - Seeche im Kopp!" Sie hatte das jiddische Wort "sejchel" (Verstand) falsch interpretiert. Dennoch lehrte sie ihre Kinder u.a. auch das Lied von den zehn Brüdern: "Zen Brider sennen mir gewesen, haben mir gehandelet mit . . ." Doris L. sang das Lied eines Tages Waltraud und mir vor. Ich weiß noch, daß alle Brüder gestorben sind, verstand aber nicht, woran - und womit sie gehandelt hatten. Doris sagte, daß durch dieses Lied kleine Kinder Zählen lernen. Aber Waltraud kannte ein anderes Lied, wo ich zählen lernen konnte, ohne mir Fremdworte merken zu müssen. Bei den "Zehn kleine Negerlein" starben auch alle. Das wurde nun mit mir gesungen. Da waren die beiden Großen doch echt lieb zu mir, nicht wahr? Sie ersparten mir die vielen Fremdwörter, deren Bedeutung sie selbst auch nicht so recht kannten.
An jenem Tag aber, als Grete L. jiddisches Wortgut von sich geben sollte, erwähnte sie auch, daß die Juden nirgendwo Miete zahlen. Ida reagierte erbost: "Wat? Det kann doch woll nich sein!" Grete lächelte: "Det heeßt bei denen Türgeld (dire-geld, aus dem Mittelhochdeutschen stammend)!" Nun wurde darüber gescherzt, daß die Miete wohl höher ist, wenn die Wohnung viele Türen hat.
Grete L. erzählte auch auf einer Familienfeier von einem jüdischen Nachbarn, der fast immer mit zwei Mädchen untergehakt ging, sodaß man die "Kalte nich von die Warme" unterscheiden konnte (die Braut von der Freundin). Verwirrt konstatierte ich Fünfjährige im weiteren Verlauf der Geschichte: Die "Kalte" wird geheiratet, die "Warme" wird zur Erinnerung. Die "Kalle" ist im Jiddischen die Braut. Aber bei mir blieb es so haften, daß man nur Ehefrau werden kann, wenn man kaltherzig ist.
Ich weiß nicht mehr genau, ob es Weihnachten oder Sylvester 1948 war, jedenfalls waren Grete und Walter L. bei uns zu Gast. Zu fortgeschrittener Stunde begann Walter mit innigem Bick auf seine Frau zu singen: "Ich hob dich zuviel lieb . . ." Ich war total verblüfft über die Tatsache, daß dieser brutale Kerl ein so zärtliches Liebeslied singen konnte! Ich konnte mir den weiteren Text nicht merken, wegen der vielen mir unbekannten Worte, aber die zu dem Liedanfang gehörenden Töne behielt ich im Gedächtnis, so konnte ich das Lied 1990 als jiddisches Liebeslied wiedererkennen.
Wenn etwas weit über das Übliche hinaus ging, hieß es im Nazijargon: "bis zum TZ". Bei Grete L. ging es in diesem Falle "bis zum Suff" ("ssof" heißt auf hebräisch "Ende"). Das Wort "Sabbat" benutzte sie nur in Form von "Hexensabbat". Und da es Judas war, der Jesus um 8 Silberlinge (sie vermengte hier großzügig die 30 Silberlinge mit den 8-Groschen-Jungs) verriet, waren alle Juden Verräter.
Wenn Grete L. von "Müschboche" sprach, dann meinte sie nicht nur das jiddische Wort mischpoche (Familie), sondern auch katastrophale Zustände in dieser Familie.
Ich sah meiner Mutter ähnlich, zumindest, was das "jüdische" betraf. Einmal wurde ich - dreizehnjährig - in der Straßenbahn von einer Frau angesprochen, die felsenfest davon überzeugt war, daß ich Jüdin sei. Sie redete mir gut zu, daß ich es jetzt doch zugeben könne, mir würde gewiß nichts geschehen. Sie war sehr enttäuscht, als ich dabei blieb, auch nicht einen einzigen Juden in meiner Verwandtschaft zu haben.
Meine Mutter erzählte mir eine Begebenheit, die sie 1936 erlebte, als sie gerade nach Berlin umgezogen war: Auf dem Weg zu ihrer neuen Wohnung liefen zwei etwa achtjäh-rige Knaben vor ihr, und sie hörte ungewollt ihr Gespräch: "Wo waast n du am Sonn-aamd? Wir wolltn uns doch jedn Tach treffn!" - "Zu Schabbes muß ick imma mit Vaddern in de Synagoge. Un du - wo waast n du am Sonntach?" - "Da hat mir meine Mutta in ne Kirche mitjezerrt." - "In welche Kirche seid n ihr?" - "Na in die da an de Ecke." - "Nee, ick wollte wissn, ob ihr evangelsch oda katholsch seid." - "Woher soll ick denn det wissn? Un iebahaupt, ick fraach dir doch ooch nich, ob du n echta Jude bist!"
Auch die Freundin meiner Mutter befand, daß wir wie Jüdinnen aussahen. Manchmal packte sie mich zärtlich bei den Haaren und sagte: "Schudnschunge" zu mir. Dann fühlte ich mich meiner Mutter verbunden und fühlte mich gleichzeitig als eine glückliche "Tochter Zion".
Wenn Erich mit mir Schach spielte und ich ihn zu dem nächsten Zug drängte, sagte er: „Nur keine jüdische Hast.“ Er als Kommunist hatte nicht begriffen, daß die Juden vor dem Inferno flohen. Er benutzte Nazijargon, wie mir Jahre später klar wurde. Wenn er es wüßte, würde er sich im Grabe umdrehen!
 
B

beisswenger

Gast
?

Hmm, eine Erzählung iss dat nich!
Was issn dat?
Wees ick ooch nich!

Interessant ist es allemal!
Eine Melange aus Lebenserfahrung, Geschichte, Semantik,
Sprachwissenschaft...
Gefallen hat es mir, aber eine Erzählung ist es wirklich nicht!
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
lieber beisswenger,

es is halt ein kapitel aus meinen memoiren. danke für dein interesse und die lieben worte. gruß
 
B

beisswenger

Gast
Memoiren?

Meine liebe flammende Marion,

ist es nicht zu früh, bereits im besten Alter, bevor das Leben erst richtig anfängt, Memoiren zu schreiben. Vor allem dann, wenn die Krönung deiner Erfahrungen, sprich die Altersweisheit, dir noch bevorsteht?
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
lieber beisswenger

jedes alter hat seine weisheit. man muß die sachen anpacken, bevor man tüdelig wird. lieben gruß
 



 
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