austauschbar

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich bin der austauschbare Mensch,
sitze am Morgen in der Straßen-
bahn, oder im Auto, oder im Bus.
Meine Freundin ist schön. Singen sie. Oder
mein Mann, mein Freund, meine Ehe-
frau. Ich esse, trinke, saufe, singe,
ich schlafe, warte, erwarte, alles,
nichts, wenigstens etwas. Die Pflau-
men in meinem Mus sind zerquetscht
oder zerbacken oder zerkocht. Die Pflaumen
in meinem Gehirn toben einmalig, einmal.
Ich stehe an der Drehmaschine,
Waschmaschine, Kaffeemaschine.
Der Balken in meines Nachbarn Auge
ist auch in meinem nicht.
Ich liebe die Natur und vergifte
die Mücken mit Spray und
sprühe Gift über die Nachbarn,
auch sie sind Mücken. Die
rote Nase holte mir die Sonne
oder der Schnee oder ein Boxer,
auch dieser austauschbar, wie
auch ich, dem Schlamm entgegensinkend.
 
W

willow

Gast
Lieber Bernd,

ein wundervolles Gedicht ist dir hier gelungen, sehr sozialkritisch aber immer noch mit einem lachenden Auge bei harter Ironie. Sehr gut sind die Alternativen (Drehmaschine, Waschmaschine, Kaffeemaschine...), sie machen die Austauschbarkeit erst deutlich.

Meine Lieblingsstelle ist vor allem folgende:

"...warte, erwarte, alles,
nichts, wenigstens etwas..."

Wie berührend das ausgedrückt ist. Erst die Erwartung an alles, dann an nichts und schließlich relativiert man zu einem "wenigstens etwas".

Ein wirklich sehr schönes, bedrückendes Gedicht.

Lieber Gruß,

willow
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Danke, Willow, für den Kommentar.

Ich hatte das Gedicht noch leicht überarbeitet, bin aber nicht sicher, ob ich es "verschlimmbessert" habe.
Erst ging der Text so:


Ich bin der austauschbare Mensch,
sitze am Morgen in der Straßen-
bahn, oder im Auto, oder im Bus.
Meine Freundin ist schön. Oder
mein Mann, mein Freund, meine Ehe-
frau. Ich esse, trinke, saufe, kotze,
ich schlafe, warte, erwarte, alles,
nichts, wenigstens etwas. Die Pflau-
men in meinem Mus sind zerquetscht
oder zerbacken oder zerkocht. Die Pflaumen
in meinem Gehirn toben einmalig, einmal.
Ich stehe an der Drehmaschine,
Waschmaschine, Kaffeemaschine.
Der Balken in meines Nachbarn Auge
ist auch in meinem nicht.
Ich liebe die Natur und vergifte
die Mücken mit Spray und
sprühe Gift über die Nachbarn,
auch sie sind Mücken. Die
rote Nase holte mir die Sonne
oder der Schnee oder ein Boxer,
auch dieser austauschbar, wie
auch ich.
 
W

willow

Gast
Hallo lieber Bernd,

du hast das "Singen sie!" herausgenommen, das finde ich gut, da es irgendwie neben dem Gedicht erschien. Es gefällt mir auch nach mehrmaligem Lesen gut und ich habe auch noch einige Anmerkungen, wenn du erlaubst.

In manchen Aufzählungen würde ich die Austauschbarkeit noch ein wenig deutlicher machen. So zum Beispiel:

"...sitze am Morgen in der Straßen-
bahn, im Auto, im Bus..."

"Meine Freundin ist schön,
mein Mann, mein Freund, meine Ehe-
frau..."

und am Ende:

"...Die rote Nase holte (vielleicht eher "verpasste mir" da "holte" aktiv ist. Das scheint auf den ersten Blick interessant, allerdings hindert es meiner Meinung nach den Fluss) mir die Sonne, der Schnee (Wundervoll!!!) oder (hier das "oder" stehen lassen, weil es als einziges und letztes eine erhöhte Wirkung hat) ein Boxer..."

Und in der letzten Zeile würde ich das zweite "auch" streichen...und das Komma dann folglich vor dem "wie" wegnehmen.

Verzeih, ich zerpflücke dieses Gedicht ganz schön, aber ich finde es wirklich wundervoll und wollte meine Alternativen vorstellen. Vielleicht gefällt dir ja die ein oder andere Anregung. Für mich ist es etwas Besonderes, weil es rhythmisch sehr schnell ist, hinweisend auf die kurze Lebenszeit, und dazu eine klare Botschaft enthält, die mich anspricht.

Ganz lieber Gruß,

willow
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Mit dem Singen bezog sich auf die Zeilen:

"Meine Freundin ist schön, als ich aufstand, ist sie gegangen", aus dem Film "Die Legende von Paul und Paula" - deshalb, weil das fast nicht mehr bekannt ist, habe ich es eingefügt, es erschien mir dann aber auch daneben, neben dem Gedicht. http://www.puhdys.com/texte/wenn_ein_mensch_lebt.htm

Das klingt unbedingt mit an - wenn man den Film oder das Lied kennt --- damit auch die Verknüpfung zu Salomon (jegliches hat seine Zeit).

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Mit den Punkten, darüber denke ich nach. Ich glaube, es würde zu viel, muss mich aber da erst einfühlen. Der Punkt zeigt das jeweils Entgültige, die Abgeschlossenheit, Ausweglosigkeit, während drei Punkte eine Hintertür öffnen.

Mit dem "holen" - das stimmt. Ich hole mir die "rote Nase" - es ist ein falscher gebrauch des Verbes, in der Umgangssprache üblich,. "verpasste" wäre inhaltlich besser, passt aber von Rhythmik und Lautung nicht richtig, denke ich.

Vielleicht: brachte, gab.

Das "auch" in der letzten Zeile kann ich in der ersten Fassung weglassen, in der letzten ginge es nicht, aber ich versuche eine Variante ...

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Man erkennt auch wieder das Profil des Kopfes in der Form des Gedichtes.

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Austauschbar

Ich bin der austauschbare Mensch,
sitze am Morgen in der Straßen-
bahn, oder im Auto, oder im Bus.
Meine Freundin ist schön. Oder
mein Mann, mein Freund, meine Ehe-
frau. Ich esse, trinke, saufe, kotze,
ich schlafe, warte, erwarte, alles,
nichts, wenigstens etwas. Die Pflau-
men in meinem Mus sind zerquetscht
oder zerbacken oder zerkocht. Die Pflaumen
in meinem Gehirn toben einmalig, einmal.
Ich stehe an der Drehmaschine,
Waschmaschine, Kaffeemaschine.
Der Balken in meines Nachbarn Auge
ist auch in meinem nicht.
Ich liebe die Natur und vergifte
die Mücken mit Spray und
sprühe Gift über die Nachbarn,
auch sie sind Mücken. Die
rote Nase gab mir die Sonne
oder der Schnee oder ein Boxer,
austauschbar,
wie auch ich.
 



 
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