die Flucht

anemone

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Die Flucht


Aljoscha hatte seinen Spaß gehabt mit mir und mit einigen anderen Kindern. Aljoscha war überhaupt ein Pfundskerl. Verbote kannte der Junge nicht. Seine Eltern sahen die Dinge anders: „Es macht nichts!“ sagte er nur, während wir in der Nähe des Spielplatzes auf dem alten Auto seines Vater mit bloßen Füßen hinauf- und hinunter liefen. Man musste sich beeilen, denn das Autoblech brannte unter den Fußsohlen, eine Erfahrung, die man nur machen konnte, wenn man verbotene Dinge tat; ein ganz neuer Reiz für mich.

Doch die Nachricht von unseren Eskapaden war eher zu Hause, als ich selber. Das hohe Gericht wartete bereits auf mich: „Stimmt es?“ wollte meine Mama wissen, „dass ihr auf Autos herumlauft?“ Jetzt waren es schon Autos!

„Nein!“ wollte ich ihr gerade zur Antwort geben, doch sie wartete den Rest meines Satzes nicht ab, schon erhielt ich eine saftige Ohrfeige und sah mich wenige Minuten später am hellichten Tag im Bett liegen.

Ich weinte, ob dieser brutalen Behandlung und hörte die Türglocke. Es musste Aljoscha sein.
Mutter leugnete es ab: „Der Junge ist nicht zu Hause!“ gab sie Aljoscha knapp zur Antwort.
Es war so gemein, diese Lügerei! Ich war erbost, außer mir, ob dieser Ungerechtigkeit und mir fiel nichts anderes mehr ein, als mich mit Tränen in den Augen in mein Schicksal zu fügen.

Nicht jedoch Aljoscha: Er stand kurze Zeit später unter meinem Fenster. Ich hörte die kleinen Steinchen gegen die Scheibe klicken; ich hätte jubeln können. Aljoscha ließ mich nicht allein.
Auch diese Erfahrung war eine neue für mich, mochten die Eltern sagen was sie wollten:
„Ich verbiete dir, noch einmal mit diesem Wüstling zu spielen! Seine Eltern haben einen denkbar schlechten Ruf, sie kümmern sich nicht um ihre Kinder und nehmen Drogen!“ Für mich stieg Aljoscha in meiner Achtung, ja er war ein Junge, für den ich alles tun würde und während ich früher nie den Mut aufgebracht hätte, mich gegen den Willen meiner Mutter zu stellen, so stieg ich jetzt wie selbstverständlich die Leiter hinunter, die Aljoscha unerschrocken gegen die Wand gelehnt hatte. Ich bewunderte ihn täglich mehr und seine Freundschaft schien mir von Tag zu Tag wichtiger zu werden.

Das Zimmer hatte ich vorsichtshalber von innen her verriegelt, bevor ich es durch das Fenster verließ. Es gab keinen zweiten Schlüssel, das wusste ich und meine Eltern hatten es versäumt, meine Flucht zu beobachten.

Wir unterhielten uns unterwegs über das Thema Freiheit. Bisher war ich der Meinung, ich hätte alles was ich brauchte und hatte noch nie etwas vermisst, doch Aljoscha zeigte mir meine Grenzen, die sich immer häufiger wie eine Wand vor mir aufbauten. Was Freiheit war, das wusste Aljoscha. Sie war jedenfalls nicht: Pünktliches und regelmäßiges Essen, waschen am Morgen und Zähne putzen. Seine Freiheit sah anders aus: Essen dort, wo etwas zu finden war, ein zu Hause nur, wenn es gar nicht anders ging und Uhren, die konnte man vergessen, für ihn gab es keine Zeit. Ich wusste nie, dass die Tage so lang sein können, seitdem ich Aljoscha kannte. Es war einfach mit ihm, er wischte die Mauern und Zäune in meinem Leben einfach weg. Für ihn waren sie nicht vorhanden. „Schlaf einfach bei mir diese Nacht sagte er so leichthin. Ich zog es aber doch vor, heimlich über die Leiter wieder ins Haus zu schleichen.
„Wie du willst!“ sagte er nur; es schien ihm nicht so wichtig. „Wär ja nur ein Vorschlag, falls du Ärger bekommst.“ Damit war für ihn das Thema erledigt, nicht aber so für mich, denn als wir uns nach langer Zeit aufmachten – Aljoscha ging mir zuliebe mit und wollte die Leiter verschwinden lassen, wenn ich oben war - da sahen wir schon den Polizeiwagen vor der elterlichen Tür stehn und mir wurde Angst und Bange bei dem Gedanken daran, welchen Aufstand ich jetzt erleben würde. Ich entschloss mich kurzerhand, noch schnell Aljoschas Angebot anzunehmen und wir schlichen uns hinter den Gärten entlang davon. Ob es mir leid tat? Nein, es tat mir kein bisschen leid. Wir hatten noch einen schönen langen Abend, denn es interessierte sich keiner für uns. Irgendwann recht spät kamen wir bei Aljoscha zu Hause an.

Die Eltern waren gar nicht da und wir sahen nach, was denn der Kühlschrank noch so hergab.
Aljoscha warf die Türe mit Schwung wieder zu, kaum hatte er hineingesehen. „Igitt, da stinkt es abscheulich! Lass uns woanders suchen!“ empfahl er mir. Tatsächlich war da noch ein Paket Zwieback. Wie alt mochte das schon sein. Wir aßen ihn mit Gurken, das war alles. „Da wird es bei euch wohl bessere Sachen geben?“ erkundigte sich der Freund, während er die Gurken mit Heißhunger zermalmte. Ich schüttelte den Kopf, obwohl ich ihm beipflichten musste. Aljoschas Schwester kam zurück und wir beide machten noch einen kurzen Nachtbummel. Von unterwegs rief ich bei meinen Eltern an, „Macht euch keine Sorgen, aber ich komm heut nicht nach Hause. Ich will frei sein!“ dann legte ich schnell den Hörer auf.
 



 
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