eine kleine verstimmung

3,30 Stern(e) 4 Bewertungen
M

margot

Gast
er hat sich abreagiert. jetzt sitzt er in einem viel zu
lauten cafe. der blick nach draußen ist gut. ein haufen
menschen. eigentlich ist jetzt alles wieder gut. nur das
ändert nichts. niemand ändert sich, bloß weil es gut ist.
wenn er sie so reden hört, könnte er vor wut platzen.
dann geht er schwimmen, und alles ist vergessen.
sie geben ihm geld, und er kann es gut gebrauchen.
vergessen? irgendwann, sagt er sich, haut er ab.
ganz allein, schnell vergessen. jeder ist austauschbar.
dann überlegt er sich eine geschichte.
er geht zu seiner eigenen beerdigung. ein haufen leute.
seine mutter in tränen aufgelöst. das wetter ist beschissen.
warum sollte er gerade jetzt glück mit dem wetter haben?
ein paar pfützen und dreckspritzer auf schwarzen schuhen.
geflüster: „ich verstehe es nicht ... so ein junger bursche.
schrecklich ... schluchz ...“ andere sind still. kurz gesagt:
eine stinknormale beerdigung.
wenn er vorher niedergeschrieben hätte: „ich will keine
beerdigung – streut meine asche in die luft!“ ?
der ausgefallene wunsch eines toten ist ihnen keinen
pfifferling mehr wert. nur nichts unüberlegtes und unge-
bräuchliches machen! gel?
aber es soll ihm egal sein, was sie mit dem verwesenden
stück fleisch machen, das ihn einmal verkörperte.
es ist ein schicksal des menschen, das er nicht aus seiner
vergangenheit lernt, sondern ihr nur nachtrauert. darum
sind beerdigungen traurig. und überhaupt das ganze
leben.
am frühstückstisch lässt sich gut argumentieren. da fühlt
sich der eigene bauch am wohlsten. aus 50 jahren leben
wird weisheit – ein privileg der alten. sie haben etwas,
das er noch nicht hat. haben kann. ein gewisses alter,
in dem man klüger ist. nach der devise: wer mehr hat,
gilt mehr.
ein reicher schimpft: „ich musste mir auch alles erarbeiten.
wollen sie die verantwortung übernehmen, die auf mir
lastet? ja, sehen sie. arme und reiche wird es immer
geben.“ und etwas leiser: „ natürlich helfen wir, wo wir
können ...“
ein hochgekommener kleinbürger: „ wir schuften ein
leben lang für ein häuschen mit garten und so.
und der nachbar hat 3 autos und eine villa stehen.
ich will nicht wissen, woher. der könnte doch mal was
locker machen für entwicklungshilfe und so. aber da soll
der kleine mann wieder herhalten ... damit die bonzen
unsere gelder einsacken?! nein! kommt überhaupt nicht
in die tüte. wir zahlen unsere steuern.“ und etwas leiser:
„also, wenn man sich die buden anschaut, in denen die
gastarbeiter hausen, da fragt man sich, ob die nicht selbst
schuld haben an ihrem elend. ein bisschen ordnung ist
doch nicht zu viel verlangt. schauen sie sich diese
zustände mal an ... ein bisschen ordnung ...“
ein fabrikarbeiter: „lasst mich nur in ruhe! ich schaffe
meine arbeit. geld macht nicht glücklich. oder meinen
sie, die reichen sind glücklicher?“ und etwas leiser:
„wenn ich im lotto gewinnen würde, das wäre eine
sache ...“
alte leute überweisen einen teil ihrer kleinen renten
auf fragwürdige spendenkontos. und ganz weit weg weinen
kinder vor hunger. die opfer schreien. der kleine sebastian
lutscht kieselsteine.

er ist bei seiner eigenen beerdigung, doch es bereitet ihm
keine genugtuung. eine langweilige, selbstmitleidige
vorstellung. wenn er ihre gedanken wirklich lesen könnte,
was wollte er dann hören?


(frühling 1982)
 
R

Rote Socke

Gast
Hi Ralph.

Puh, das war harter Tobak. Jede Zeile, fast eine Geschichte für sich. Irgendwie beklemmend und irgendwie melancholisch und irgendwie doch nachvollziehbar. Mir ging der Text unter die Haut. Damit hast Du Dir ehrliche 10 Points verdient. Ich bin beeindruckt, und das sage ich nicht so daher.

Nachdenkliche Grüße
Socke
 
L

Lotte Werther

Gast
Hallo Ralph,

Du hast einen älteren Text überarbeitet. Du hast Recht getan. Er hat nichts von seiner Wahrheit verloren. Der Reiche schimpft immer noch, der Kleinbürger schielt nach wie vor neidisch auf die Villa des Nachbarn, der Arbeiter will seine Ruhe am Stammtisch haben, und die alten Leutchen teilen ihre Rente auch heute mit denen, die in zweifelhaften Bettelbriefen um Spenden bitten...

Ich habe den Text mit Beklemmung gelesen und mich trotzdem deiner Sprache erfreut.

Gruß
Lotte Werther
 



 
Oben Unten