gewalt ist up de straaten

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Meckie Pilar

Mitglied
gewalt is up de straaten


Von der anderen Seite der Kreuzung her kann jeden Moment ihr Bus auftauchen.
Sie sind ihr sofort aufgefallen. Ein ganzes Stück weiter vorne liefen sie quer über die stark befahrene Straße.
Im Gehen knüpft sie den Mantel zu. Es ist doch kühl geworden heute Nachmittag, kühler als sie gedacht hat. Die blasse Bläue des aufgerissenen Oktoberhimmels, der durch die Doppelglasscheiben des Büros so freundlich aussah, hat sie getäuscht. Im Bus wird es wieder warm sein, warm und eng. Sie hat es eilig, die Haltestelle zu erreichen.

Dennoch sind sie ihr gleich aufgefallen. Und jetzt, auf der anderen Straßenseite, stößt sie fast mit ihnen zusammen. Der Kleinste der Drei rempelt sie an. Er schwankt auf sie zu, stößt sie fast um, ohne, dass sie den Grund für sein Verhalten erkennen kann. Für eine Sekunde, länger, als es nötig wäre, sieht sie in seine Augen, sieht in etwas Dunkles und bleibt daran hängen. Sie sieht ein Gespenst. Jemand stürzt auf sie zu, die geöffneten Arme greifen nach ihr. So sieht kein Mensch entgegenkommende Passanten an. Solchen Blicken begegnet man nur in Albträumen! Trotzdem geht sie einfach weiter. Es ist besser, jetzt weiter zu gehen. Jemand lacht.
Der Körper des jungen Mannes schneidet ihr noch einmal den Weg ab. Um einen zweiten Zusammenprall zu vermeiden, weicht sie zur Seite aus und geht noch schneller. Was wollen sie von ihr?’ Sie spürt auf einmal den Schreck in ihre Adern schießen.
An der letzten Ampel muss sie stehen bleiben. Es ist rot. Sie wartet mit anderen Leuten auf Grün, was sonst kann sie tun? Sie steht scheinbar unbeteiligt da, sieht sich nicht nach ihnen um, sieht nur nach dem Bus, der längst hätte kommen können. Der Panik ist jetzt ein starres, gespanntes Abwarten gefolgt. Konzentriert lauscht sie auf die Geräusche hinter ihrem Rücken. Sie ist auf dem Sprung.
Jetzt stehen sie seitlich hinter ihr und warten auch. Sie kann sie sprechen hören. Sie beobachtet sie unauffällig aus den Augenwinkeln, ohne den Kopf zu wenden: Es sind drei Jugendliche, Jungen zwischen 14 und 18 vielleicht, zwei groß gewachsene, einer davon blond, einer dunkelhaarig und beide ziemlich kräftig gebaut. Der dritte Junge ist kleiner und untersetzt. Die drei puffen und schubsen sich mit der bei Jugendlichen üblichen Heftigkeit. Ganz normal also. Oder doch nicht? Ist das, was sie sieht, vielleicht etwas ganz anderes? Was wollen sie? Mit einem Mal hört sie ihr Herz klopfen. Wie schnell sie sich bedroht fühlt! Wie leicht und wie selbstverständlich sie Gewalt für möglich hält!
Als es Grün wird, drängeln sich die drei an ihr vorbei über die Straße. Sie zeigen keinerlei Interesse an ihr.

Der Bus hält. Sie steht in der Schlange, sieht die Aussteigenden an, einen nach dem anderen, wartet, bis sie endlich einsteigen kann.
Noch einmal fallen ihr die drei Jungen in die Augen. Sie sind in der Nähe stehen geblieben. Offenbar wollen sie nicht in den Bus. Der kleinere von den Dreien steht in der Mitte. Die beiden anderen haben den Arm um ihn gelegt. Sie sieht den mittleren Jungen an. Jetzt fällt ihr auf, wie verstört seine Züge sind, verstört und gleichzeitig stumpf, beinahe dümmlich. Abgestumpft. Die beiden anderen lachen laut. ‚Es klingt gutmütig’ denkt sie. Auch der Kleinere scheint zu lachen. Aber sein Lachen sieht gequält aus. Und jetzt sieht sie es genau: Hinter seinem Rücken verdrehen sie seinen Arm. Er versucht sich loszureißen, windet sich. Der große Dunkelhaarige lächelt ihm breit ins Gesicht und tritt ihn gleichzeitig mit dem rechten Knie ins Kreuz. Der Kleine stolpert, wird aber von dem Blonden am Arm hochgerissen. Die beiden großen lachen wieder. Nein, es klingt nicht gutmütig, es klingt zynisch.
Nun hat sie es begriffen, weiß auf einmal, was aus diesen Augen gesprochen hat: Das war pure Angst. ‚Da hatte einer Angst’, denkt sie verstört, ‚schlimme, panische Angst, Todesangst vielleicht’.

Fassungslos steht sie vor der lässig kaschierten Gewalt der beiden Großen. Der Kleinere versucht, wegzulaufen, abzuhauen. Sie halten ihn grob an den Oberarmen fest. Jetzt beugt sich der Blonde runter und sagt ein paar leise Worte. Sie kann natürlich nichts verstehen. Der Straßenlärm schluckt die Stimmen. Aber die Worte wirken offenbar stärker als alles Schubsen und Treten. Der Kleine krümmt sich zwischen den beiden zusammen, fügt sich, gibt auf. Jetzt laufen sie zu dritt weiter, an ihr vorbei die Straße hinunter. Er geht in der Mitte und keiner berührt ihn. Aber seine Leibwächter lassen ihn nicht aus den Augen, die Arme im Anschlag. Sie gehen ungehindert mitten durch die wartenden und aussteigenden Menschen. Keiner von den Umstehenden reagiert, kaum einer sieht hin.
Der Junge sieht niemanden an. Wer auch sollte, wer würde ihm helfen? Wer würde begreifen? Hatte sie vielleicht gleich begriffen? Und hat sie etwas getan? Mitten unter all den Menschen ist er ausgeliefert an die da und hat keine Chance.
Unten an der Einmündung der nächsten Seitenstraße springt der Kleinere plötzlich noch einmal zur Seite. Er wird sofort gepackt und zurückgerissen. Jetzt nehmen sie ihn wieder fest zwischen sich. Der Dunkelhaarige hat ihn untergehakt, der andere legt ihm den Arm um die Schulter. Sie schleppen ihn fort. Es gibt für ihn kein Entrinnen.
Wenn die Straßen einsamer geworden sind, später, wenn die Laternen die Seitenstraßen nicht mehr ausleuchten, hinter einer Hofeinfahrt oder in dem verhassten Raum mit der alten Couch und der dreckigen Tapete, werden sie den Schein ablegen. Das grobe Lachen wird sich noch hässlicher färben, er wird Schmerzen haben, er wird wieder leiden müssen. Keiner wird ihm helfen. Heute nicht. Und morgen wird alles wieder so sein. Wohin sollte er auch gehen? Wohin entkommen?

Sie zögert noch, einzusteigen. Kann sie denn jetzt einfach einsteigen und wegfahren? Die Warteschlange schiebt sie in den Bus. Von dort starrt sie entsetzt durch das Fenster und kann es nicht fassen, dass da auf offener Straße die Gewalt einher wandelt, unbehindert, ungesehen.
Warum nur tut sie nichts? Warum tut denn keiner was? Warum geht keiner hin und nimmt diesen Menschen zu sich? Warum unterbricht keiner diesen Bann?
Der Bus hat sich in Bewegung gesetzt. Jetzt gleitet die Gruppe hinter den Fensterscheiben vorbei. Jetzt kann sie noch einmal sein Gesicht sehen. Ja, es war der Ausdruck der Angst, der sie vorhin so erschreckt hat.
Sie schluckt an Tränen. Woher nur kennt sie dieses Gefühl, die Ohnmacht des Opfers und die Ohnmacht derer, die zusehen?
Ein Tier wird zu Tode gehetzt. Alle Kinder lachen. Sie steht da und würgt, an Tränen, an ihrer Wut. Sie möchte sich auf die Jungen stürzen, die die Maus quälen, möchte ihnen das Tier entreißen und mit ihm fliehen. Sie tut nichts. Sie kann nichts tun. Die Jungen sind viel stärker als sie, viel älter auch. Sie hat keine Chance. So wenig wie die Maus. Der läuft das Blut aus dem Maul. Sie fühlt die Scham in den Knien. Wut auch. Aber am meisten die Angst.

Sie starrt aus dem Rückfenster. Noch kann sie die Gruppe ausmachen. Ihr ist jetzt so, als liefe sie neben ihnen her, stritte mit den beiden Typen, fordere den Kleineren auf, mit ihr zu gehen, irgendwohin, von ihr aus auch zur Polizei. Sie hört das böse Lachen und sein Schweigen. Sie fühlt es. Sie fühlt, wie sie gestoßen wird. Sie schmeckt das Blut, das ihr aus der Lippe läuft, sieht benommen auf die zerrissenen Strümpfe, den Dreck auf ihrem neuen Mantel. Hört, wie der eine der Großen „verrückte Zicke“ ruft, und wie ein Passant, der ihr hilft, wieder aufzustehen, murmelt, mit solchen Typen solle sie sich doch nicht einlassen.

Recht hat er. So ist es eben. Sie hat mühsam gelernt zu begreifen, dass sie dies alles nichts angeht. Ab einer gewissen Entfernung ist man für jeden Schrei taub. Auch frau. Die Luft müsste schrillen vor Schmerzgeschrei. Einen Kilometer weiter stürzt ein Haus ein. Alles ist ruhig. Nicht einmal die Luft zittert. Während sie hier im Bus sitzt und durch die Scheiben glotzt, toben Kriege, sterben Menschen durch Gewalt, wird geschlagen, gequält, gehungert, gedemütigt, getrauert, gefoltert. Sie weiß es, aber sie hört nichts.
Die Kinder dieser Stadt fallen ihr ein, die jetzt vor Sadopornos sitzen, allein in der Wohnung, vielleicht auch mit den Eltern. Sie kennt genug davon. Und ihr kleiner Sohn fällt ihr ein, seine verzweifelten Tränen, weil ihn seine Freunde nicht mitspielen lassen. Und die Wunden fallen ihr ein, die sie ihm selber zufügt, wenn er ihren Ärger über seine Empfindlichkeit zu spüren kriegt, wo er doch nur Verständnis braucht. Und wie weh das ihr selber tut!

Nein, sie darf an all das nicht denken! Sie fährt jetzt heim. Sie kann sich nicht um alle Tränen kümmern. Sie hat mit sich selbst genug zu tun. Sie hat sich daran gewöhnt. Sie musste sich daran gewöhnen.
Aber an was alles soll sie sich noch gewöhnen? Und an wie viel wird sie sich doch nicht gewöhnen können? Jetzt sind die drei nicht mehr zu erkennen. Ausgeblendet, als gäbe es sie nicht.
Sie kann sie sich noch immer vorstellen, wie sie den Kleineren vor sich hertreiben. Sie sieht seinen gehetzten Blick. Aber das Bild beginnt zu verlöschen.
In den Busscheiben spiegeln sich die Mitfahrer. Dahinter gleiten die Lichter der Innenstadt vorbei. Draußen ist es inzwischen dämmrig geworden. Weiter vorne im Bus unterhalten sich zwei ältere Frauen über die Krankheiten ihrer Männer. Jeder hört zu und alle bemühen sich um unbeteiligte Mienen. Manche lächeln.
An der nächsten Haltestelle, an der sie aussteigt, fallen ihr die drei Jungen noch einmal ein. Fast hatte sie sie schon vergessen.
 



 
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