kaltes Wasser

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plosiv

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Kaltes Wasser

Das kalte Wasser lief über meine Stirn, über meine Wangen von beiden Seiten hinunter zum Kinn, meinen Konturen folgend, meine Falten nachzeichnend, sich vereinend zu einem Rinnsal, das mir den Hals benetzt und mir eine Gänsehaut schenkt. Ich halte meine Augen einen Moment länger geschlossen, spüre mich nach und hole Luft. Ich schaue in den Spiegel und betrachte mein Gesicht. Es ist still geworden, leer in mir. Das kalte Wasser hat mich nicht erfrischt. Ich sehe müde aus und erschrecke, denn ich habe diese Müdigkeit monatelang nicht zulassen können, doch jetzt gehört mir mein Körper nicht mehr und je länger ich mich betrachte, um so dunkler werden die Ringe unter meinen Augen, um so erschöpfter mein Blick, um so grauer die Haut und um so strenger mein Mund. Ich fühle mich als wäre ich innerlich geschrumpft, mein Körper zu groß für meine Seele. Ich fühle mich zurückgezogen, gefangen in einem mechanischen Käfig, der den Anforderungen der Außenwelt genügt. Ich schaue mich nicht länger an. Ich brauche Zeit.

Zeit. Vor langer Zeit war ich einmal sehr glücklich gewesen. Ziemlich kitschiges Bild. Und je länger ich darüber nachdenke, um so unwirklicher wird jener Moment in meiner Vergangenheit, der meinen Weg in unseren Weg vereinen sollte. 'Ja'. Und meine Mutter weinte, und du strahltest, und ich liebte dich für alles, was du warst. Nein, ich liebte dich, weil du warst. Deinen Humor, die Geborgenheit, die ich spürte, wenn du mich in den Arm nahmst. Diese Stärke, diese Sicherheit. Groß und stolz warst du, und doch hatte ich niemals das Gefühl, nur neben dir zu stehen. Du trugst mich auf Händen, und auch du ließt dich von mir tragen. Schaute ich in deine Augen, sah ich tief empfundene Bewunderung und Respekt für mich. Niemand wird mich je so kennen, wie du mich kanntest. Du warst mir so nah. Ich wünschte mir diesen Zustand für immer.

Für immer. Ich bemerke, dass ich mir immer noch die Hände wasche. Ich trage deinen Ring. Ich habe noch heute keine angst vor der Bedeutung und Konsequenz der Worte 'für immer', schließlich habe ich doch auch gute Zeiten gehabt. Andreas versucht immer meinen Tatendrang zu bremsen, doch eigentlich begreife ich erst heute, in diesem Moment, in dem ich meine Hände beinahe nicht mehr spüre, wo das kalte Wasser von meinem Ring perlt, wie weit ich für dieses 'für immer' gegangen bin. Es ist immer noch still in mir und ich friere. Ich habe mich tatsächlich nicht mehr im Spiegel erkannt. Hast du das so gewollt?

Wir wollten so viel. Seitdem mein Herz sich bedingungslos für dich entschieden hatte, begann ich Pläne zu schmieden, in die Zukunft zu schauen. Du hast oft genug über mich gelächelt. Ich hatte keine besonderen Bedürfnisse, ich brauchte kein Geld, keinen Reichtum, kein Prestige. Du hast mir genügt. Ich hätte mich am liebsten mit dir verkrochen. Vielleicht hatte ich die Tendenz, mich mit dir, in dir zurück zu ziehen. Du hast nur gelächelt. Ich fühlte mich verstanden. Du hast mir genügt.

Genüge ich dir jetzt? Ich bin mir nicht mehr sicher, was du denkst. Andreas sagt mir immer, dass du nie weißt, was dein Gegenüber denkt. Aber du warst meine Stütze, mein Leben, meine Liebe. Was bleibt jetzt?

Irgendwie betraf mich deine Diagnose zunächst nicht. Ich habe gehört, was der Spezialist sagte, ich habe es nur nicht verstanden. Mir war klar, was ich zu tun hatte. Wir gehören zusammen, wir stehen das durch. Wir werden das überleben.

Überleben. An einem Punkt in unserer Geschichte, habe ich aufgehört, zu existieren. Ich hatte meinen Sinn gefunden, und ich folgte dir bedingungslos. Ich brauchte mir um mich keine Sorgen mehr machen, ich war in deinen Armen geborgen. Deine Liebe war alles, was ich brauchte. Mich brauchte ich nicht mehr. Deswegen sehe ich in den Spiegel und erkenne mich nicht mehr. Deswegen fühle ich mich gefangen in einem Körper, der nicht meiner ist. Je mehr du dich von deinem Leben, von deinem Körper gelöst hast, um so mehr hast du mich mitgenommen. Ich übernahm jede Funktion deines Körpers, ich lieh dir meine Augen, meine Ohren, meine Stimme. Ich reagierte auf deine Schmerzen. Ich gab mich hin. Und dennoch werde ich dich überleben.

Andreas sagt mir immer, ich müsse beginnen, dich loszulassen. Doch er weiß nichts, von den Qualen, die ich ausstehe. Ich wünsche mir so sehr, dass du aufhörst zu atmen. Nachts denke ich oft daran, wie sehr du leidest, von welchen Schmerzen du erlöst werden würdest, wenn du nur aufhören könntest, zu atmen. Ich flehe um Erlösung. Doch dann merke ich, dass der Rest in mir um Erlösung fleht. Ich will erlöst werden. Dann schäme ich mich und wache die ganze Nacht an deinem Bett. Doch du nimmst immer mehr von mir und die Geborgenheit, die du mir gegeben hast, erhalte ich nicht mehr von dir. Du schaust mich nicht mehr an, du berührst mich nicht mehr. Du nimmst nur noch.

Ich drehe den Wasserhahn zu und trockne mir die Hände. Andreas ist da, und wir werden dich heute baden. Ob er mir ansieht, wie häufig ich dir schon in Gedanken das Kissen auf dein Gesicht gedrückt habe?
 



 
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