kopfleere

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Perry

Mitglied
kopfleere


nach dem ersten schreck - ratlosigkeit
da sind lücken
in der zeit, ihrer zeit - ausradiert, weggesperrt
es fehlt die koordination
im neomammalia

bin doch aufgestanden
wie immer
fühlte mich nur etwas unwohl
kann mich nicht erinnern
wie ich hierher kam

draußen
vor dem klinikfenster
drückt der februarschnee die tannenzweige nieder
ihre arme sind so schwer
vor allem der rechte

der gehwagen stößt an den schrank
grimassen schneiden im spiegel
aus dem mundwinkel tropft speichel
unbemerkt
wie aus einem leck

bin nur aufgestanden
mein mund war so trocken
wollte etwas trinken, telefonieren
doch die tasten wussten ihre reihenfolge nicht
kann mich nicht mehr erinnern

die märzsonne taut den schnee weg
ein ast ist geknickt
hebt sich nicht mehr
bewegungsbad um zehn
anschließend sprechübung mit dem logopäden

hallo mama
wie geht’s dir heute
ich bin’s
ja, ja mein junge du liegt mir auf der zunge
aphasie, amnestische aphasie

gemeinsames kochen
gemüse putzen
die nudel hüpft von der gabel
und der speichel tropft
unaufhörlich auf die strickweste

der frühling hat sich durchgesetzt
neue zweige sprießen
synapsengrün
komm mama, wir fahren nach hause
willst du ein taschentuch?


was du mir sagst, vergesse ich
was du mir zeigst, daran erinnere ich mich
was du mich tun lässt, das verstehe ich
(konfuzius, 500 Jahre nach Christus)
 
M

mirami

Gast
hallo manfred,

dein gedicht gefällt mir außerordentlich. sehr einfühlsame worte hast du gefunden das innenleben und außenerleben nach einem schlaganfall zu beschreiben. wortfindungsstörungen setzen die menschen auf der anderen seite des flusses ab, brücken zu bauen geht nicht von heute auf morgen und bedarf von beiden seiten, dem betroffenen sowie den angehörigen/pflegekräften/logopäden/krankengynasten viel arbeit, einfühlungsvermögen, geduld und mitgefühl. in deinem gedicht kommt das, ohne auf die tränendrüse zu drücken, aber dennoch sehr liebevoll herrüber. auch das konfuziuszitat am ende passt sehr gut. ein gelungener schluss.

falls die zeilen einen wahren persönlichen hintergrund haben, alles gute und viel kraft.

lg
mirami
 

Perry

Mitglied
Hallo mirami,
danke für deine berührenden Worte. Der Text hat leider einen wahren Hintergrund. Gott sei Dank geht es meiner Mutter jetzt wieder so gut, dass sie ihr Leben selbstständig meistern kann.
Es freut mich, wenn der Text neben der inhaltlichen Dramatik auch lyrisch bei Dir angekommen ist.
LG
Manfred
 

Suse

Mitglied
sehr gut!

ich finde es fantastisch, dass sich mal wieder jemand relativ unverhohlen an ein solches thema wagt. normalerweise wird in diesen bereichen zu sehr ausgeklammert und zu sehr abstrahiert oder man driftet in schock-effekte ab. das ist hier nicht der fall.

bravo dafür!

trotz allem könnte an einigen wenigen stellen ein bisschen verknappung nicht schaden. aber wie gasagt: ein bisschen!!!! wo genau, das wage ich noch nicht anzuführen. vielleicht lese ich's besser noch einige male und traue mir dann einen vorschlag zu.

liebe grüße,
suse
 

Perry

Mitglied
Hallo Suse,
trau dich ruhig ran. Dieses Gedicht ist ein Stück weit auch ein kleines Experiment von meinem üblichen Stil der Prosalyrik ein wenig abzuweichen und da ist konstruktive Kritik immer willkommen.
Vielleicht nur soviel, das Wiederaufgreifen und Weiterführen einiger Bilder ist stilistisch von mir beabsichtigt.
Ansonsten danke vorerst für deine lobende Einschätzung und LG
Manfred
 

rosste

Mitglied
Hallo, manfred

das gefällt mir sehr gut
der vergleich der lähmungen mit den tannenzweigen, synapsengrün... schöne bilder

"anschließend sprechübung mit dem logopäden"
- ist etwas doppelt gemoppelt
"anschließend sprechübungen" ist besser

lg, Stephan
 

Perry

Mitglied
Hallo rosste,
danke für den Hinweis und deine positive Einschätzung. Da bei dem Gedicht ein paar Fachbegriffe zur Prägnanz wichtig sind, lasse ich lieber das "Sprech" von übung weg und behalte den Logopäden.
LG
Manfred
 

nachtfalter

Mitglied
Ursprünglich veröffentlicht von mirami
hallo manfred,

dein gedicht gefällt mir außerordentlich. sehr einfühlsame worte hast du gefunden das innenleben und außenerleben nach einem schlaganfall zu beschreiben. wortfindungsstörungen setzen die menschen auf der anderen seite des flusses ab, brücken zu bauen geht nicht von heute auf morgen und bedarf von beiden seiten, dem betroffenen sowie den angehörigen/pflegekräften/logopäden/krankengynasten viel arbeit, einfühlungsvermögen, geduld und mitgefühl. in deinem gedicht kommt das, ohne auf die tränendrüse zu drücken, aber dennoch sehr liebevoll herrüber. auch das konfuziuszitat am ende passt sehr gut. ein gelungener schluss.

falls die zeilen einen wahren persönlichen hintergrund haben, alles gute und viel kraft.

lg
mirami

Auch ich habe an einen Schlaganfall gedacht.Was ist es für eine Kunst, in so einem kuzen Gedicht so viel auszudrücken , wie es ist und die Gefühle.Ich gartuliere Dir.Falls Du es selber bist, alles Gute!
LG
nachtfalter

 

Perry

Mitglied
Hallo Nachtfalter,
danke für deinen netten und mitfühlenden Kommentar. Bei dem Gedicht geht es um meine Mutter, die sich Gott sei Dank wieder soweit erholt hat, dass sie ein selbstständiges Leben führen kann.
LG
Manfred
 

Mara Krovecs

Mitglied
Lieber Perry,

es ist schon alles gesagt, das ausdrücken könnte, wie ich Dein Gedicht auch empfinde.
Vielleicht noch: Dein Gedicht zeigt trotz aller Schlichtheit ( oder gerade deswegen) viel Gefühl..........

Liebe GRüße aus einem schönen Sommertag


Mara
 

Perry

Mitglied
Hallo Mara,
es freut mich dich bei mir zu lesen. Nichtbeschriebe Gefühle wirken am intensivsten, weil sie im Leser selbst entstehen (lächel).
Danke und LG
Manfred
 



 
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