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para_dalis

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Der Muschelsucher

Es war spät, aber nicht zu spät und es wäre ein Leichtes zu behaupten, dass ich das alles gar nicht beabsichtigte.
Was beabsichtigt man schon. Beabsichtigt man sich zu verlieben? Mit vorgerücktem Alter doch nicht mehr. Schließlich haben wir die Schmetterlingsphase längst hinter uns. Es interessieren keine Schmetterlinge, wichtig sind nur der eigene Vorteil und Bauchfühlen... was bitteschön ist das denn?
Wollte ich nicht immer Männer mit „mein Haus, mein Auto. Mein Kontostand...“
?
Wollte ich das?
Es wäre ein Leichtes zu behaupten, dass ich das alles gar nicht beabsichtige. Natürlich beabsichtige ich nicht, mit dem Gedanken an Liebe einzuschlafen, aufzuwachen, wachzuträumen.
Und doch gibt es da einen Muschelsucher.
Er, dieser Treibgutsammler hinterläßt mehr Eindruck als so mancher Falter meiner erlebten Pubertät. Ich sehe ihn am Meer entlangschreiten, mit weit ausholenden Schritten, kein Wunder bei der Länge seiner Beine. Seine Arme geben seinen Beinen Befehle, beim Schreiten. So wirkt es auf mich, die ich ihn in der Ferne beobachte.
Täglich ist er da am Ufer und scheint irgendwie auf der Suche zu sein. Auf der Suche nach Tang, Muscheln und auch Bernstein. Nach Strandgut. Ich weiß nicht, ich habe das Gefühl, dass er manches Mal müde ist und sein Schritt schwer, trotz dieser großen Schritte, die dann einer Flucht ähneln. Als ob er an einer Last zu tragen hätte, die er gern dem Meer anvertrauen möchte. Er legt die Last ins Meer und eilt davon.
Doch auch das Meer wehrt sich dagegen und ist mit der eigenen Weite beschäftigt. Seine Lippen bewegen sich beim Gehen. Einmal bewegten sie sich so ausdrucksvoll, dass ich annehmen musste, er schrie ins Meer. Übers Meer, unters Meer in eine andere Sphäre. Er wollte seine Last von sich werfen, er wollte sie ertränken, ersäufen, vernichten. Er wollte sie in schwarzer Tiefe sehen. Gefesselt und für immer verschwunden.
Und das Meer warf wellenförmig seine Worte zurück an den Strand. Das Meer warf ihm seine eigenen Worte zurück.
Er ist groß. Und sein Haar wird bereits von silbernen Fäden durchzogen. Seine Haut straft seinem Haar Lügen. So glatt und weiß und eben sind seine Beine, seine Arme und auch sein Oberkörper. Manchmal entkleidet er sich in der Mittagshitze und ich denke, weil ich meinen Blick nicht abwenden kann: „Spannerin ich. Spannerin. Sieh doch endlich weg, sieh weg!“ Und doch kann ich nicht wegsehen, und ich sehe und sehe und sehe und sehe... Und ich bilde mir ein, ich könne ihn riechen, ihn schmecken. Seine Haut leicht salzig vom Geruch des Meeres.
Er, der Muschelsucher weiß, dass Bernstein nicht leicht zu entdecken ist und seine Kostbarkeit hinter verkrustetem Sand und grünlich, schwarzem Algengewirr verbirgt. Und dennoch erkennt er das Leuchten des Steines und bückt sich in seiner ganzen Länge um dieses Gelbgold zwischen seine Finger zu nehmen. Seine Finger. Seine Hände. Ich wünschte mir, Treibgut zu sein und von ihm aufgenommen zu werden. Ich, in meinem Haus am Meer. Gut geschützt vor Sturm, gut geschützt. Ich brauche mich ja nicht ans Ufer bewegen, nicht wahr? Vielleicht sollte ich mich ins Meer legen? Mich ans Ufer spülen lassen? Doch ich war in meinem Haus am Meer und beobachtete den Muschelsucher. In sicherer Entfernung. Und ich wünsche mir doch nichts sehnlichster, als das dieser Mann endlich erkennt, dass ich ein Bernstein bin.
Und gefunden werden möchte. Und sacht von ihm berührt werden möchte. Zärtliche Finger, die behutsam all den verkrusteten Sand der Gezeiten entfernen. In der Bewegung innehalten. Mich voller Ungeduld erzittern lassen, voller Ungeduld nach weiteren Berührungen seiner Hände. Und seine Hände, die sich weiter tasten, im Bemühen, mein Leuchten zum Vorschein zu bringen.
Oder bin ich doch ein „Hühnergott“?
Eine Hühnergöttin?
Eine der Vielen, die man im Sand findet, ohne das man genauer hinsehen will oder hinsehen muss, um sie aufzunehmen. Mitzunehmen, um sie im Weidenkorb zu den andern zu legen. Dort, wo sie dann verstauben und man achtlos an ihnen vorübergeht. Sie nicht mal mehr bemerkt. Ein Stein, an dem man schwer trägt. Solang schwer trägt, bis der Stein bei den anderen Steinen im Weidenkorb liegt. Ein Stein oder zehn? Wie viele Steine liegen da?
Da im verstaubten Weidenkorb.
Weiß der Muschelsucher, dass Hühnergötter einst am Leben waren?
...
..
.
Vor langer, langer Zeit, als die Welt noch nicht von Menschen besiedelt war,
lebten am Wasser ausschließlich Hühner. Sie bauten keine Nester in den Sand, in die sie liebevoll ihre Eier legten. Sie ließen ihre Nachkommen einfach in den heißen Sand fallen und beachteten sie nicht weiter. Diese Hühner waren auch nicht weiß oder braun oder geflammt oder angenehm anzuschauen.
Sie waren schwarz und von plumper Gestalt. Und sie hatten auch keine Federn, sondern dicke, borstige Stacheln, die straff über ihrer Haut gespannt waren.
Es waren keine normalen Hühner, es waren Monster. Große und kräftige Monsterhühner. Und sie waren äußerst aggressiv. Sie waren gefräßig. Ihre Gier war grenzenlos und es kam wohl auch vor, dass sie ihre eigenen Eier fraßen. Ihre eigenen Küken. Die jedoch nicht weich und flaumig und zartgelb waren, sondern ebenso schwarzborstig wie diejenigen, von denen sie achtlos im Sand abgelegt wurden.
Ständig flatterten diese Monster wild umeinander, stritten sich um das größte Korn, stopften sich herangespültes Strandgut gierig in den Schlund. Sie fraßen alles. Ob Fisch ob Sand ob Tang. Ob Stein ob Sand ob Ei.
Und ihr Geschrei und Gegacker war so schrill, das dem Einhalt geboten werden musste.
Über dem Wasser und dem Sand und dem Land lebte ein alter, weiser Gott
Er hatte diese Hühner geschaffen in der Hoffnung auf eine Bereicherung, einer Abwechslung. Vielleicht hat er die Hühner auch nur zum Sinne der Nahrungsaufnahme geschaffen? Wer weiß das schon. Vielleicht dachte er an saftige Hähnchenschenkel. Vielleicht dachte er auch nur an süße, flauschige Küken?
Jedenfalls war seine Schöpfung mißraten und tagaus tagein ärgerte er sich darüber. Er legte seine Stirn in Falten, stapfte mit den Füßen auf die Erde. Er wurde zornig.
Und eines Tages schrie er seinen Zorn heraus. Und er verfluchte sie.
„Ihr, die ihr gierig und bösartig am Wasser lebt, Ihr, die ihr vor nichts haltmacht, Ihr, die Ihr Euch gegenseitig vernichtet sollt zu Stein werden!! Da wo euer Herz ist, ihr gefräßigen Monster, da wo euer Herz ist, soll ein Loch sein. Ein Loch, durch das die Gezeiten spülen. Ihr sollt versteinern und Euer Herz soll ein Loch sein!!“

Und so geschah es.
Die Hühner wurden zu Stein. Und da,
wo einst ihr Herz war, wurde ein Loch durch das die Gezeiten fließen.
...
..
.

Der Mann,
der mit dem Haus und dem Auto und dem Kontostand
?
fordert Einlass. Einlass in mein Herz.
Mein Herz ist ein Loch.
?
Er steht in meiner Nähe, abrufbereit. Nur eine winzige Geste, ein Blick meiner Augen wäre ausreichend und ich brauchte mir keine Gedanken mehr um meinen nichtvorhandenen Reichtum zu machen.

Und ich beobachte den Muschelsucher.
Er,
der Bernstein erkennt. Der Bernstein erkennt, auch wenn er verkrustet tief im Sand vergraben liegt. Und ich lege mich ins Meer und lasse mich ans Ufer treiben.
© Heike Hultsch
 

Rainer

Mitglied
hallo paradalis

nachdem ich deinem werk "realität" (die korrekte schreibweise erspare ich mir) nicht viel abgewinnen konnte, bin ich nun doch überrascht; eine schöne geschichte hast du da geschrieben.
kritikpunkte:
"
Und ich beobachte den Muschelsucher.
Er, der Bernstein erkennt. Der Bernstein erkennt, auch wenn er verkrustet tief im Sand vergraben liegt. Und ich lege mich ins Meer und lasse mich ans Ufer treiben.
"
den dritten satz würde ich weglassen, inhaltlich und vom rhytmus der geschichte her. außerdem (ganz großer smily), könnte dem leser an dieser stelle die frage einfallen, warum der bernstein verkrustet ist. ein spätes mädchen, dem verhältnisangebote von reichen männern gemacht werden, ist da wenig wahrscheinlich (noch größerer smily).
warum heißt der bernsteinsucher im 2. titel muschelsucher? (den treibgutsucher wegen des schönen bildes aber unbedingt beibehalten.)


allgemein: letztes genöhle für heute, deine schreibweise der titel erweckt zwar aufmerksamkeit, aber die form und der inhalt der geschichten sind, und das ist absolut nicht abwertend gemeint, bei weitem nicht so experimentell wie die titelschreibweise.

ansonsten bin ich sehr gespannt auf deine nächste geschichte

gruß

rainer
 



 
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