mein Leben als Gott

1,00 Stern(e) 1 Stimme

streifl

Mitglied
mein Leben als Gott

nach drei Jahrzehnten absoluter Allmacht
möchte ich nun die Gelegenheit ergreifen
Rechenschaft abzulegen
über meine Zeit als Gott

jenen Lesern die es vielleicht seltsam anmutet
daß ein Gott es für notwendig erachtet
beziehungsweise sich dazu bereit erklärt
Sterblichen gegenüber Rechenschaft abzulegen
möchte ich versichern
daß selbst mich der Gedanke noch vor Tagen seltsam angemutet hätte
dann ist mir mit einem Schlag bewußt geworden
daß Gott zu sein weniger selbstverständlich ist
als man meinen könnte
und daß mein Leben als Gott
ebenso einer Erörterung bedarf
und einer Sinnfrage
wie das eines jeden Menschen

drei Jahrzehnte Gottsein liegen nun hinter mir
und zweifelsfrei unzählige Jahrzehnte vor mir
das bringt das Gottsein mit sich
ob einem das gefällt oder nicht
genauso wie das Menschsein den Tod mit sich bringt
ebenfalls ohne nachzufragen
ob einem das gefällt oder nicht
so wie der Mensch stirbt
lebt der Gott
und wie der Mensch lebt
stirbt der Gott
letzterer Umstand
wird aber von den meisten Menschen vernachlässigt
wenn sie über ihre Sterblichkeit klagen
und Gott um seine Unsterblichkeit beneiden
das Leben aber der Menschen
ist gleichsam der Tod Gottes
und es heißt sterben
als Gott zu leben
ich weiß das
weil ich selbst Gott war
und es immer noch bin
nach drei Jahrzehnten

ich wurde als Gott geboren
und war von Geburt an göttlich
so wie es sich für einen echten Gott gebührt
und so begann mein Leben als Gott
wie man es sich als Mensch vorstellt
wenn man es sich vorstellen könnte
aber man müßte Gott sein
um sich das auch nur vorstellen zu können
den Menschen aber ist einzig und allein vorbehalten
sich ihr Menschsein vorzustellen
und schon damit haben sie genug zu tun tagtäglich
ich hingegen hatte mir nur das Gottsein vorzustellen
und habe mir das Gottsein vorgestellt
und bin genauso göttlich gewesen
wie nur irgend möglich
drei Jahrzehnte lang
war ich Gott
bis ich zu dem Punkt kam
kurz vor dem endgültigen Vorüberstreichen des dritten Jahrzehnts
an dem ich beschloß Rechenschaft darüber abzulegen
über mein Leben als Gott

wäre ich kein Gott
ich würde das wahrscheinlich nicht tun
und fände nicht notwendig es tun zu müssen
an diesem speziellen Punkt meines Lebens
da ich aber Gott bin
muß ich es tun
und tue ich es demnach auch

mein Leben als Gott war durchaus erfüllt
wenn es sich in etwas erfüllen könnte
da es dies aber nicht kann
kommt es auch über ein durchaus
nicht hinaus
Gott ist man nicht für sich
sondern bloß für andere
man selbst hat gar nichts davon
außer daß man Gott ist
und sich als solchen bezeichnen darf
auch wenn es niemanden gibt
demgegenüber man sich so bezeichnen könnte
denn es gibt nur einen Gott
aber selbst wenn es mehrere gäbe
wäre es vertane Zeit
sich denen gegenüber als Gott zu bezeichnen
das wäre als würde man sich als Mensch
Menschen gegenüber als Mensch bezeichnen
das wäre unnütz
hingegen könnte man sich durchaus als glücklichen Menschen bezeichnen
und kann sich aber leider nicht als glücklichen Gott bezeichnen
weil Gott ist wie Gott ist
und man auch nur den Glücklichen vom Unglücklichen unterscheiden kann
wenn es diesen gibt
da es aber nur einen Gott gibt
ist dieser wie er ist
bin ich wie ich bin
bin ich Gott

wenn ich nicht glücklich sein kann
könnte ich wenigstens gütig sein
Gott ist gütig
Gott verzeiht
aber ich habe gar nichts zu verzeihen
und gar nichts gütig zu sein
wenn ich ehrlich bin
interessiert es mich gar nicht
was die Menschen so treiben
ich habe nichts mit ihnen zu schaffen
und sie haben
wenn sie ehrlich sind
auch nichts mit mir zu schaffen
wir leben in vollkommen getrennten Welten
sie in ihrer
und ich in meiner
und dabei leben sie um zu sterben
und ich sterbe bestenfalls um zu leben
und lebe so vor mich hin
was bliebe mir anderes übrig
Gott zu sein heißt
alle Zeit der Welt zu haben
und nichts anfangen zu können damit

mein Leben als Gott ist ein Irrtum
Gott lebt nicht
Gott stirbt nicht
Gott ist bloß
über dieses mein bloßes Sein lege ich Rechenschaft ab
denen gegenüber
den Lesern
die zu mir beten
und gar nicht wissen
es freilich auch nicht wissen können
und wahrscheinlich auch gar nicht verstehen können
daß ich als Gott nur bin
und sonst gar nichts
ich bin
ich war
und ich werde sein
Gott

mein Leben als Gott hat nichts Ursächliches
und nichts Wirkendes
nichts Kausales
und nichts Zusammenhängendes
nicht Sinnstiftendes
Bestrafendes
Lobendes
noch sonst irgend etwas
ich bin bloß
und wünschte doch manchmal
ich müßte nicht einfach nur sein
und könnte nur einmal mehr als bloß sein
und kann doch nur immer wieder
und andauernd
sein
die drei Jahrzehnte
die vergangen sind
genauso wie die unzähligen
die noch vor mir liegen

wer nicht stirbt
kann auch nicht leben
so lebt Gott nicht
lebe ich nicht
und habe gar kein Leben
als Gott
über das ich Rechenschaft ablegen könnte
das ist die traurige Wahrheit
die ich meinen werten Lesern mitteilen wollte
um dieses eine Mißverständnis wenigstens
aus der Welt zu befördern
daß Gott lebt
und ich mein Leben als Gott lebe
wo ich doch nichts anderes tue
als nicht leben zu können
und nicht sterben zu können
und es mein Leben als Gott gar nicht gibt
das ist alles
 

bassimax

Mitglied
wieso gibt es gott erst seit drei jahrzehnten? wozu ist
gott dann nutze? blosses sein als selbstzweck? was ist mit
der göttlichen macht der schöpfung, des erschaffens? was
mit der idee das alles was es gibt die gedanken gottes sind?
wieso diese kleinheit, dieses jammern gottes, dieses unbegrenzt begrenzte?
anfangs fand ich dein stück langweilig, es erschien mir
das dich zu oft wiederholst. aber dann habe ich mich daran gewöhnt, fand ich es immer interessanter. zum nachdenken anregend. aber letztendlich nicht kraftvoll. weil es nicht von kraft handelt.sondern von göttlichem selbstmitleid und desillusionierung.
eine ganz interessante sache
sebastian
 

streifl

Mitglied
ist Gott 30?

Die Frage ist einfach zu beantworten. Er ist weder 30, noch nicht 30. Und davon handelt der Text auch. Er greift eine uralte theologische Frage nach dem Sein Gottes auf. In den meisten Religionen werden Gott menschliche Eigenschaften zugeschrieben. Es steckt aber eine gewisse Absurdität darin, dass das Göttliche menschlich ist. Denn wenn es menschlich wäre, wäre es ja kein Gott mehr. Deshalb ist der Text aus der Sicht eines Gottes geschrieben, der eigentlich nur ein 30jähriger Mensch ist, aber ebenso viel Recht hat, Gott zu sein, und zu behaupten Gott zu sein, wie jeder andere, der dies behauptet. Der Text steht ja auch unter Satire, weil er absurd ist. Die Konstruktion jedoch ist er sehr genau durchdacht und tangiert etliche Fragen, die man sich zu Gott stellen könnte. Aber eigentlich wollte ich mit diesem Text nur amüsieren. Ein gewisses Amüsement bleibt aber wohl denen vorbehalten, die mich kennen, weil ich mich nicht nur im Allgemeinen über etwas lustig mache, sondenr im Besonderen auch über mich selber.
 
B

Bruno Bansen

Gast
Absurd...

Ja, absurd, herrlich absurd das Teil! Satire in Reinkultur. Höchst unterhaltsam aber keine Klamotte und wirklich gut zu lesen. Solche Texte gehören hier rein. Solche Texte können Ansporn und Vorbild sein und sind es wohl auch! Prima gemacht, herzlichen Glückwunsch.

Grüße.

Bruno
 



 
Oben Unten