meine Stadt

klara

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Hier bin ich. Wieder da. In einer Stadt, die weder meine Wahlheimat ist, noch zu der ich gezwungen wurde. Ich bin wieder da.
Noch habe ich an meinen Schuhen den Staub der Strassen von Izmir. An meinem Kleider ruht noch mein Schweiß, ein werk der Ägäischen Sonne. Eine große Tischdecke, luftig und zart, gehäkelt in den Händen meiner Tante, gefüllt mit dem Augenlicht meiner Tante, kleidet wohl und edel meinen Tisch.
Wieviel Kilometer Faden es gewesen sein muss, was über ihren linken Zeigefinger gelaufen ist, bis dieses wundervolles Ding fertig war? Milimeter für Milimeter, wieviel Gedanken müssen in ihrem Kopf durch gegangen sein, während sie häkelte?

Aus meinem Koffer, den ich einfach nicht vollständig ausräumen kann, hängen so allerlei Farben, Muster, Spitzen, Spitzen und Spitzen... Meterlang Träume, Gedanken, Säufzen, Tränen. Meterlang, nein unermäßlich schillerndes Leben. Und unter Ihnen hängt der Büstenhalter, den ich in Izmir gekauft habe. Er ist auch aus Spitze. Auch an ihm hängen meterlang Gedanken, Träumen... Auch an ihm hängen das Säufzen der Fabrikarbeiterinnen, die ich nicht kenne. Doch er trägt vor allem die leichte Berührung meiner Mutter, die ich kenne, die ich nicht aus meinem Gedächtnis nicht weg bekomme. Die ich behalten will.

Was tue ich hier? Was bedeutet mir denn diese Stadt, in der ich nicht einmal mich traue, meinen Koffer auszupacken?

An dem Büstenhalter sitzt noch die Berührung meiner Mutter. Büstenhalter, Marke "Kom", beliebt, bewährt, teuer. Hatte sie je so einen?
Meine Mutter?
Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht, ob sie je einen Büstenhalter, Marke Kom besitzt hat? ich bilde mir ein, dass ich diese Marke von ihr hörte, "wie gut sie doch sitzt!".
War es nur ein Traum von ihr? Den sie aus Erzählungen Anderer geträumt hat?
Ich weiß es nicht!
Dieses Nichtwissen macht mich traurig.

Ich war an ihrem Kranken Bett gekommen, hatte mich hingesetzt und hob meine Bluse hoch und zeigte ihr meinen Büstenhalter. "Schau, heute gekauft. Hübsch, nicht?".
Ihr, einst sehr helles Lächeln, jetzt sehr schief, trüb und mühevoll, breitete sich in ihrem Gesicht. Sie streckte ihren weniger kranken Arm zu mir. Mit ihre weniger kranken Hand berührte sie die Träger des Büstenhalters so, als würde sie sie streicheln. Dann nahm sie meine Bluse und rückte sie zurecht. Mit liebe zum Detail versteckte sie die Träger unter den Schultern der Bluse. Dann klopfte sie an meine Brust.
Sie klopfte und klopfte an meine Brust.

Was mache ich denn hier? Noch bin ich an ihrem Krankenbett. Noch habe ich nicht genug erfahren, noch nicht genug erzählt. Jetzt weiß ich, was ich ihr noch erzählen könnte.

denn,

einige Tage bevor meine Mutter endgültig ihre Sprache verlor, unterhielten wir uns über dieses und jenes. Unter anderem über mich.
- .........
- .........
-Wo lebst du?
-In Deutschland, Mama.
-Das weiß ich doch. Wo dort?
-Ich lebe in Rosenheim, Mama.
-Das weiß ich. Wo, dort?

Sie gab sich große Mühe, sich verständlich auszudrücken. Ihre Zunge, die in Begleitung ihrer sanften Stimme unsere Sprache majestätisch zu formen wußte, verlor auch ihre Künste.
Ich schämte mich dafür, dass ich kurz dachte, sie habe wohl vergessen, wo ich lebe. Sie war doch nur krank. Ihr Körper hatte bereits vor Jahren die Bewegung nur an einem Arm und an einem Bein überlassen. Ihre, einst flinke Beine lagen schon so lange nebeneinander, ohne Ahnung voneinander, lang gestreckt auf ihrem Krankenbett.
Ich hielt ihre Hand. Ohne Kraft drückte sie meine zurück.
Diese Hände, jetzt sehr klein und beinahe leblos, bedienten nicht nur in voller Sorgfalt die Maschienen in der staatlichen Textilfabrik, dreißig Jahre lang und zwanzig davon in drei Schichten, sondern sie hielten Bücher in der selben sorgfalt. In der selben Sorgfalt beherrschten sie das Weberknoten, in der selben Sorgfalt haben diese Hände Kleider für uns Töchter aus den selbstgewebten Baumwolle geschneidert.
Ihre Haut auf der Hand war überall blasrosa mit ein Hauch Gelbstich darin, blasblau schimmertem ihre Adern durch.
Nur ihre Augen!
Sie waren gleich geblieben. Klar und gütig, wie ihr Herz und Verstand. Nein. Sie hatte nicht vergessen, wo ich lebe. Sie hatte nur Schwierigkeiten mit dem Spr...
mir war sehr schwer ums Herz. Sie schaute mich mit ihren klaren Blicken an, etwas unsicher wegen meiner nachdenkliche Stille, sagte sie mühsam;
-wie ist die Stadt?
irgendwie, wußte ich plötzlich, was ich zu erzählen hatte. Plötzlich war mir klar, worum es in ihre Frage ging:
-im Rieder Garten, Mama, sagte ich,
-gibt es ein Kanadischer Maulbeerbaum.
-wie in Eregli?
-Genau wie in Eregli. Der Baum heißt bloß "Kanadasicher" Maulbeerbaum. Er lässt seine Blätter und seine reifen Früchte auf den Bürgersteig, auf die Strasse fallen. Also auf den Boden, Mama, genau wie in Eregli.
-Wie überall auf der Welt.
-Ja, Mama, wie überall auf der Welt.
Und wie überall auf der Welt, Mama, zertreten die Passanten die Früchte. Dort entstehen Flecken. Weißt du Mama, an einem Tag, wo ich mich sehr schlecht fühlte und deshalb eher meine Füße ansehend vor mich hin lief, sah ich diese Flecken. An den Flecken habe ich den Baum erkannt. Ich schaute hoch, und siehe da! An dem Baum war auch die Heiterkeit!
-............
Sie dachte noch etwas nach. Dann stellte sie gütig fest:
-Rosenheim ist schön!
-ja, Mama, sagte ich. Sie ist sehr schön.

Diese Stadt! Sie hätte bestimmt gerne erfahren, wo die Post ist? Ob ich sie leicht erreichen kann? Denn sie wußte, dass ich gerne Briefe schreibe. Sie hätte auch gerne gewußt, ob es hier ein kleines Theater gibt, so einen wie in Ankara? sie liebte, mich Spielen zu sehen. Sie hätte gerne wissen wollen, ob ich viel Wasser sehen kann, wann ich will? Denn sie wußte von meiner Verliebtheit in die Stadt Antalya, am Meer.
Ich habe doch noch so vieles zu erzählen.
Mama, es gibt hier Post, die ich zu fuß erreiche, ein Theater, wo ich gerne bin. Es gibt hier Seen, einen Fluß, Wälder, Berge in der Nähe...

Nichts kann ich ihr mehr erzählen. Ein Tag nach ihrem Begräbnis in Izmir, ihre Wahlstadt für ihr Grab, weil sie nicht begreifen konnte, warum eine Leiche zu ihrem Gemahl, der ja auch beerdigt war, nach Antalya hingebracht werden sollte, bin ich geflogen.
Ganz im Sinne Ihrer Worte;
"Du bist mein Zugvogel!"

Diese Stadt! Nicht meine Wahlheimat, zu der ich aber auch nicht gezwungen bin..., ich werde dieser Stadt von meiner Mutter erzählen. Ich werde den Maulbeerbaum, die Post, das Theater, die Seen, den Fluß, die Berge, die Wälder... davon in Kenntnis setzen, dass meine Mutter hier fliegt, mein engel
mit ihrem Engelsgeduld.

Manchmal braucht es nicht viel, eine Stadt zu eigen zu machen.


klara
 

Haremsdame

Mitglied
Liebe Klara,

Deine Geschiche hat mich sehr berührt. Zwischen all den Zeilen konnte ich die Liebe zu Deiner Mutter spüren und die Trauer, dass Du ihr nun nichts mehr über Rosenheim (ich kenne diese Stadt am Fuße der Alpen) erzählen kannst. Die Trauer darüber, dass Du zu ihren Lebzeiten noch nicht fähig warst, ihr all das zu sagen, was Du ihr noch erzählen willst. Nun wird sie Dich als Engel begleiten und Deinen Gedanken lauschen, wann immer Du willst.

Bei Deiner Geschichte wurde es mir ganz warm ums Herz. Ich habe sie sehr gerne gelesen! Ich finde ich es faszinierend, wie emotional Du auf Deutsch schreiben kannst! Da ich selbst im Ausland lebe, weiß ich, was es bedeutet, in einer fremden Sprache zu schreiben...

Grüße von der Haremsdame
 



 
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