meine lieblingsgeschichte..für jasmin,sanne und alle frauen..

zettelstraum

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Wo war mein Teddy in jener Nacht?

Es ist fünf Uhr morgens, wie man an der Turmuhr erkennen kann. Laternen beleuchten die Straßen und Gehsteige, auf denen sich relativ wenig Leben abspielt. Relativ, da man ja nicht erwarten kann, daß an einem normalen Herbsttag sich um diese Uhrzeit Menschen freiwillig jener Morgenfrische aussetzen.
Eine Gestalt wandelt ziemlich orientierungslos, aber scheinbar zielsicher, zwischen jenen Lichtspendern umher. Ihren Blick hat die Person durch ihren Instinkt ersetzt. Wenn man sich dieser Gestalt nähern würde, könnte man erkennen, daß es sich um eine Frau handelt. Die Person, homo sapiens alcoholicus, biegt in eine Seitengasse ab, um dann wieder ,über eine andere Seitengasse, auf derselben großen Straße weiterwandeln zu können. Die romantischste Art diesen Spaziergang zu beschreiben bietet der Ausdruck Traumtänzer. Woher kommt diese Person?
Sie kommt aus einer Kneipe, in welcher sie mit der Absicht landete, sich zu betrinken. Der Grund dafür existiert scheinbar nicht, nur der offensichtliche Wille. Ihr Vorhaben ist aufgrund eines spendablen Tresennachbars geglückt. Der ihr noch immer Unbekannte hat ihr ungefähr den Inhalt einer Flasche Schnaps stets nachgefüllt, in ein Glas, daß sich stets wieder neu nach einer Füllung sehnte, so hatten es ihre Augen jedenfalls gesehen.
An einem jener vielen Häuser dieser Stadt geht sie zur Tür in eine Wohnung hinein. Sie geht den Flur entlang, sich von einer Wand zur anderen stürzend, verharrt dann aber ruhig vor der Tür hinter jener sich ein Bett verbirgt, um Gewißheit zu bekommen, daß ihre Sehnsucht nach Schlaf stärker ist als die Menge alkoholisierter Ungeheuer, die ihr Gleichgewicht stören. Sie öffnet die Tür, stolpert auf das Bett zu, setzt sich auf die Decke und zieht ihre Schuhe aus, legt ihre Beine hoch, ihren Kopf auf das Bettkissen und schläft ein, tief und fest.

Am selben Morgen, nur einige Zeit später, die gleiche Szenerie. Eine wandelnde Gestalt zwischen den selben Laternen, auf der selben Straße. Einzig, daß es sich hier um einen Mann handelt. Er begeht die Seitenstraßen nicht. Unterwegs im Stil eines Arbeiters, der seinen letzten Rest an Lohn seiner Stammkneipe verschenkt hat, Teufelskreis seiner Rolle als homo sociologicus. Doch vergleicht man die Szenen, so ist die Vorstellung des Akts mit der männlichen Figur leichter nachvollziehbar. Der Mann hatte nämlich nicht den Willen sich zu betrinken, sondern die Sucht nach Beruhigung, Ermüdung. So ist es auch ein Malheur, daß er - um der Theorie des Arbeiters zu folgen - noch zu viel Geld für jenen Kneipenbesuch übrig hatte.
Auch er gelangt zu einem jener vielen Häuser, öffnet die Tür mit einem Handdruck, geht den Gang entlang, bleibt noch einmal stehen, um festzustellen, ob der Alkohol stärker ist als der Wille zum Schlaf. Scheinbar ist er bei ihm stärker, denn er wendet sich um, geht den Gang wieder zurück, hält an einer anderen Tür kurz inne, öffnet dann diese, setzt sich in einen Sessel, betrachtet das aufgeschlagene Fernsehprogramm, sieht eine Möglichkeit der entspannenden Unterhaltung, steht noch einmal kurz auf um den Fernseher einzuschalten, setzt sich wieder in den Sessel und schläft nach kurzer Zeit ein.









Ihre Augen öffnen sich wie man dem Ei den Kopf abschneidet, um dem Inneren nahe zu kommen, der eigentliche Wunsch, das Ei zu verzehren. So geschieht es denn auch, daß sie sich langsam erhebt, nachdem sie ihren Körper strecken konnte, um das Leben in ihm erwachen zu spüren, den Schrei des Kindes bei der Geburt. Sie geht zum Fenster, öffnet es, schaut auf die Straße und beginnt plötzlich an der Realität zu erschrecken, die sich ihren Augen in jenem Moment zeigt. Noch nie sah sie diese Eisdiele auf der Straße gegenüber, noch nie solche Menschenmassen auf der Straße. Wo war sie?
Sie nimmt die Finger ganz leicht vom Fingerbrett, lehnt sich gegen den Druck des Raumes, um doch in ihn zurückzukehren, dreht ihren ganzen Körper, blickt in ein Zimmer, welches ihr nicht bekannt ist, schaudert erneuert, hält sich die Hände vor den Mund, um nicht zu schreien. Noch weit weg ist die Angst vor den Menschen, welche dieses Haus bewohnen, dem Menschen, der dieses Zimmer bewohnt. Der Schrecken, den sie nun spürt, ist die Angst sich nicht zurechtzufinden, sie, die immer Sicherheit gewohnt war, schon da sie geplant wurde.
Gleich nach der Geburt hatte die Mutter sie zu sich genommen und sie dann auch nicht mehr zurückgeben wollen. Selbst ihr Vater durfte sie in den ersten Wochen nicht in den Arm nehmen. Und als sie dann älter wurde, wohnte man stets in der Nähe der Schule, die sie zu besuchen hatte, so daß sie so bald wie möglich Zuhaus sein konnte, um von ihrer Mutter getröstet werden zu können, da sie doch keine so perfekte Schülerin sein konnte wie es ihr Vater von ihr erwartete. Doch trotz der Ziele, welche der Vater setzte, war die Mutter die Gewinnerin im Kampf um die Erziehung.
Sie, die jetzt so fehlt. In ihrem Kampf gegen die Starre, die den Körper durchfließende Angst. Angst, Phänomen der Freude. Wenn jene uns verläßt, und das Ungefühl auftritt, dann kann uns in einer schwachen Minute der Schreck erwischen und uns in eine völlig gegenteilige Lage versetzen. Sie versucht diese Angst zu erwürgen, mit Hilfe des Ballen der zarten, geschwächten Hände, doch dauert es einige Zeit bis sie Ruhe genug findet, um auf die Tür zuzugehen, einen weiteren Schritt in Richtung Ungewißheit zu lenken. In ihrer Angst vor jedem Schritt, in diesem unnatürlichen Zustand, vergißt sie, auf den Boden zu schauen, sieht sie den Hocker vor ihren Füßen nicht, und fällt also mehr auf die Tür zu, als daß sie sie ruhig erreichen kann.
Kein Schrei beim Fall, nur das Geräusch einer umstürzenden Person auf einen Teppichboden. Wieder wartet sie, bis sie sich traut, den Weg weiter zu gehen. Die Tür öffnet sich, ein dunkler Flur, beinahe derselbe wie der ihre, zeigt sich, alle Türen, die sie sehen kann, sind halb geöffnet, als sie ihren Weg zur Haustür weitergeht. Plötzlich bemerkt sie im Weitergehen das Geräusch eines laufenden Fernsehgerätes - wieder diese Fremde, denn sie hat keinen bei sich. Sie schleicht weiter der Haustür entgegen, am Zimmer mit jenem Geräusch vorbei, als er sich erhebt, die Tür ganz öffnet, hinter welcher dieses eigenartige Rauschen von Worten herkam, ihrer gewahr wird, sie freudig anlächelt und ihre erstarrte Augen sanft anspricht: „Ja, so ähnlich schaute meine Besucherin in jenem merkwürdigen Traum aus. Bleiben Sie doch da, bitte. Ich heiße Alex.". Und schon geht er ihr entgegen, nimmt ihre Hand, bittet sie, nicht so erschreckt zu sein. Doch sie schreit, schreit ihn an, so laut, daß er ihr die Hand vor den Mund halten muß, damit sie nicht Angst und Verwirrung im Haus stiftet. Da sie seine Hand nicht berühren kann - es hätte ihr zuviel bedeutet -, stößt sie ihn mit beiden Händen von sich, bleibt aber selbst stehen, jedoch nicht mehr aus Schrecken, denn nun kann sie die Fremde vermenschlicht sehen, Gleichstand der Gegenstände, gleiche Chancen, ebenfalls Gefühle, ebenfalls Verletzbarkeit. Ihre Gedanken pulsieren hinter ihrer Stirn, pfeilschnell, bannen sie in einen Kreis von Angst, Neugier und - tatsächlich! - Erregung. Sie, das schüchterne Mädchen, noch immer das Kind ihrer Mutter, sie spürt jenes Kribbeln unter der Haut, jenes `geile´ Gefühl, von welchem ihre Freundin ihr bei deren ersten Freund erzählt hat, als jener sie bat, sie küssen zu dürfen. Doch sie muß sich jetzt zusammennehmen, zeigen, daß sie flüchten will, hinaus aus diesem fremden Haus, diesen fremden Räumen, die er ihr anbieten will.
„So gefällst du mir besser, beruhige dich doch bitte. Freundschaften geschehen immer aus schicksalhaften Fügungen, nichts anderem wie hier. Wie heißt du eigentlich?"
Mit seinem unerschrockenen Lächeln im Gesicht wirkt er ihr überlegen, ausgewogen. Jedoch riecht man seinen Alkoholgenuß der Nacht zuvor; er ist hier genauso geschwächt wie sie. Dies ringt ihr ein gewisses Lächeln ab, gibt ihr ein bißchen Halt, läßt sie jedoch auch bedenklicher werden, denn die Gebärden alkoholisierter Männer kennt sie nur zu gut.
„Marianne."
„Schön Marianne. Würde es dir vielleicht etwas ausmachen, zusammen mit mir zu frühstücken? Ich lade dich ein, zu einem relativ frischen Brot, noch geeignet für dicken Marmeladenaufstrich, und zu einem starken Kaffee. Wollen Sie vorher duschen? Das Bad ist gegenüber dem Zimmer, aus welchem ich gerade kam.".
So wie eine Schachspielfigur kommt sie sich vor, kurz vor dem Schachmatt; zwei Möglichkeiten bleiben ihr noch, um ihren König zu retten, die Flucht oder der Gegenangriff. Sie steht ungünstig und hat wenig Zeit sich zu entscheiden. Die überlegte Frau setzt unbedacht auf Angriff, jedoch mit Bedacht, denn es gilt auch, die Dame zu halten, ihre stärkste Waffe gegen die mächtigen Türme, welche er schon in Aufstellung gebracht hat.
„Gut, lassen sie uns frühstücken, doch erst möchte ich noch ihre Toilette benutzen."
„Die Tür kennen Sie, ich bereite das Frühstück eine Tür weiter schon einmal vor. Haben Sie keine Angst, Marianne, einen Traum kann man nicht vernichten."
Seine Höflichkeit pläsierte ihr und nur ein leichter Flaum von Angst umhüllt noch ihren Schatten, als sie die Badezimmertüt hinter sich verschließt. Nachdem sie ihre allmorgendliche Toilette so gut wie möglich hinter sich gebracht hat, beginnt sie wieder festzustellen, daß sein Waschbecken dem ihren sehr ähnelt, wie das Schlafzimmer, der Flur, ja sogar die Zweckerfüllung der Zimmer sind scheinbar gleich. Sie spielt schon mit der Vorstellung, daß ihre Wohnung im Haus gegenüber liegt, als sie plötzlich beim Anblick des Spiegels wieder erschrickt. Sie kann ihre Gesichtszüge nicht erkennen! Nur verschwommen nimmt sie wahr, was sich vor ihren schläfrigen Augen abspielt. Hatte sie so viel getrunken!? Oder was ist der Grund dieser Blindheit? Und schon gewinnt die Angst wieder im Spiel der Gefühle.
Sie geht zur Tür, hat schon vergessen, daß sie abgesperrt hatte und findet sich also eingeschlossen. Es folgt ihr zweiter Schrei. Nicht so laut wie der erste, jedoch ängstlicher, denn nun ward sie einem Schicksal ausgeliefert, nicht einem Menschen.
„Marianne, was hast du? Der Schlüssel muß doch noch stecken. Du hast dich selbst eingesperrt."
Diese Stimme, jene fremde, scheint ihr helfen zu wollen; sie spürt es in der Ruhe, die in jenen Worten liegen. `Wirklich, er hat recht!´ erkennt sie, als sie den Schlüssel sieht, welcher im Schlüsselloch steckt, sie anlächelt wie ein frecher Sohn, der seine nichtsahnende Mutter auf den Arm genommen hat. Sie öffnet und sieht ihn wieder lächeln.
„Das wird ja wohl einige Zeit dauern, bis du deinem Schrecken entfliehen kannst. Vielleicht hilft dir ja ein guter Kaffee. Es ist fast fertig angerichtet."
Merkwürdig diese Ruhe. Sie kennt dies nicht, ihre Mutter würde sie zurechtweisen, ihre Freundin würde sie trösten, aber jener Mann verzieht keine Grimasse. Es geniert sie so sehr, daß sie sich nicht traut, ihren Schrecken zu zeigen, sondern ihm statt dessen ungezwungen in die Küche folgt. Sie geht direkt auf ihren Platz zu, dem Stuhl, welcher dazu nötigt, die Wand anzustarren, wie sie jetzt merkt. Er stellt noch Kaffee und Milch auf den Tisch, dann beginnen sie zu frühstücken. Sie schenkt sich mit noch leicht zitternden Händen den Kaffee in die Tasse, mit viel Milch dazu. Er schmeckt wirklich gut. Sie schaut ihn an, im Hintergrund nur die weiße Wand, wie er sich ein Brot schmiert, dick mit Marmelade. Seine Hände sind kräftig, doch nicht angsteinflößend, seine Fingernägel sind sauber.
„Gefalle ich Ihnen wohl, da Ihre Augen so nahe an mir heften? Mach ich dir keine Angst mehr? Dann ist es schön."
`O Gott! Hätte er doch nur gut gesagt.´
Schon wieder wird ihr bange.
`Was will er? Natürlich verschwindet meine Angst langsam, doch nicht so schnell. Diese Männer, die nie ein Gefühl für Zeit haben, immer müssen sie alles schnell hinter sich bringen.´
Sie traut sich nichts zu erwidern, schenkt sich, mehr aus Verlegenheit, noch Kaffee nach, trinkt einen Schluck und senkt dann schnell ihren Blick, um nicht noch einmal in Verlegenheit zu kommen.
„Komm, ich wollte dich doch nicht verletzen. Wo sollst du denn sonst hinschauen? Menschen können nicht durch Wände blicken. Iß ein bißchen was. Oder ist dir etwa schlecht? Hast du etwa zuviel getrunken gestern Nacht?"
„Nein, ich habe morgens nie großen Hunger. Danke."
„Ich würde dir sogar eine schmieren, das würde mir eine Freude machen."
„Nein, danke."
Diese Art mag sie gar nicht, jene kindliche, scheinheilige, unehrlich wie eine Einladung zu einer Party, bei welcher unglücklicherweise die restlichen Gäste ausbleiben.
Sie spürt zwar, daß sie Hunger hat, aber ist sich im Klaren darüber, daß sie wahrscheinlich noch gar nichts bei sich behalten kann. Ihre Kopfschmerzen sind noch ein bißchen vorhanden, ein bißchen wacklig fühlt sie sich auch; am liebsten wäre ihr jetzt ein Aspirin. Aber sie mag nicht diese Schwäche zeigen, einem Mann, der ihr sowieso überlegen ist, so, daß sie sich eigentlich fürchten müßte. Doch seine ruhige Art zu frühstücken, nimmt ihr die Angst. Sie beginnt sich eine Rolle auszumalen, die sie bereit sein muß, in diesem Spiel zu spielen.
„Na, du arbeitest sicherlich auch in dieser Stadt?"
„Ja."
„Ganztags oder hast du Gründe, weswegen du nur halbtags arbeiten mußt?"
„Ganztags."
„Und wo denn? Bäckerei, Metzgerei, im Friseurladen?"
„In einer Buchhandlung."
„Aber in einer sehr verschollenen, wahrscheinlich."
„Wie kommen Sie darauf?"
„Na ja, weil ich meine Mittagspausen stets in eine der vielen Buchhandlungen verbringe, Käsestangen kauend, nach Büchern schauend, welche ich dann doch nicht kaufe."
„Sie interessieren sich für Bücher! Welche Richtung, wenn ich fragen darf?"
„Politik, Wissenschaft, Philosophie. Welche Bücher können Sie mir in jenen Bereichen empfehlen?"
„Bitte lassen Sie diese versteckte Ironie."
Sie glättet ihren Rock, kommt dabei mit ihren Fingerkuppen an die Knie, gefällt sich einen kurzen Moment, jene zu streicheln, bemerkt aber bald wieder, daß sie einem Mann gegenüber sitzt und wird leicht nervös, streicht sich mit der linken Hand durch ihre kurzen, dunklen Haare, um dann aber gleich weiter nachzuhacken, aus einfachem Interesse an jener Schizophrenie von unbekümmerter Männlichkeit und Interesse an geistiger Wissensbildung.
„Wer ist in jenen Bereichen Ihr Lieblingsautor, wenn es so etwas ähnliches bei Ihnen gibt?"
„Peter Scholl-Latour. Er verbindet alle drei Themen und ist interessant zu lesen. Nicht nur sein Buch über den Islam. Obgleich ich zugeben muß, daß ich weder ein Buch von ihm besitze noch eines ganz durchgelesen habe. Ich habe eigentlich stets nur die Zeit, bei jedem Buch jeweils ungefähr 20 Seiten zu lesen; bei Thomas Mann sind es gerade einmal zehn Seiten gewesen."
„Thomas Mann, von ihm mußte ich einmal den Doktor Faustus lesen. Das war eine Plage. Nächtelang versuchte ich es, Satz um Satz, doch schließlich mußte ich meiner Leiterin gestehen, daß jenes Buch noch zu schwer sei."
„Was geschah dann?"
„Sie meinte, daß, wenn ich daraus folgern könnte, daß es sich hier um anspruchsvolle Literatur handle, ich doch mein Lernziel erreicht hätte."
„Na schauen Sie, ist doch gut gelaufen."
Sie wundert sich über diese Unbefangenheit, die plötzlich in ihr auftritt. Ist es, weil es um den Beruf geht, den Alltag, also nicht um das Leben? Beweist das vielleicht, daß Leben, welches nur existiert, wenn es den Menschen ganz einnimmt, nichts mit dem Alltag zu tun hat, beweist es die Nichtigkeit der Arbeit? Welch revolutionärer Gedanke! Aber es bleibt anzunehmen, daß Arbeit den Menschen in eine gleichgültige Stimmung versetzt, seine eigentlichen Gefühle abschaltet, sie unterbindet.
„Entschuldige, darf ich dich etwas fragen?"
Noch eingehüllt in die Unparteilichkeit, in die Uneingenommenheit, in die Passivität, verneint sie seine Frage nicht, sondern vermeint, daß es sich um ein spezifisches Interesse handelt, daß es weiterhin mit ihrem Beruf zu tun hat.
„Ich kenne da ein Gedicht, welches ich mir einprägte, da es damals aus meiner Seele hätte entspringen können. Ich las es aus einem Buch, von dem ich weder Autor noch Titel weiß. Vielleicht fällt Ihnen der Autor oder der Titel des Buches ein. Das Gedicht lautet so:
Mehr als die Existenz
ist ein Geheimnis, daß es existieren
und Sein gibt, daß ein Sein vorhanden ist -
irgendeins und nicht dieses, weil es dieses -
dieses Problem verstört am allermeisten.
Was ist das, existieren - und nicht wir
oder die Welt - sondern die Existenz an sich?
Es war kein deutscher Philosoph, denn auf der gegenüberliegenden Seite fand sich diese Stelle in einer fremden Sprache."
„Nein, dazu weiß ich nichts, keinen Titel, keinen Autor. Ich würde jetzt gerne duschen gehen."
Sie findet diese Art von Philosophie, jene, welche das Sein zu abstrahieren versucht, abstoßend, manchmal auch angsteinflößend. Für sie gibt es genug Dinge, welche ihr Angst machen, weswegen also Gedanken weiterspinnen, die sowieso keine Antwort bieten können? Außerdem spürt sie den Schweiß unter ihren Achseln. Und wenn eine Frau sich unwohl fühlt, dann flüchtet sie am liebsten in ihre Einsamkeit. Wenn sie sich dann auch noch unsauber meint oder auch nur unschick, dann sucht sie ihr Badezimmer, ihren Spiegel, der ihr Bestätigung, Selbstsicherheit geben soll.
„Ja, bitte, gehen Sie ruhig duschen."
Diesmal hat sie ihn nicht gefragt, sondern hat sich die Erlaubnis selbst gegeben. Keine Angst mehr in ihr, sie will sich den Sieg zuspielen, durch einen geschickten Pferdesprung. Im Bad sperrt sie die Tür ab, schaut in den Spiegel, sieht ihre verschlafenen Augen, die zerzausten Haare, ein ziemlich fertiges Gesicht. Aber sie sieht sich, besser als vorher, die verflogene Angst läßt die Realität wieder zurückkehren. Sie zieht ihr Kleid aus, ihre Unterwäsche, vergewissert sich noch einmal, ob die Tür abgesperrt ist und geht dann unter die Dusche.
Es dauert einige Sekunden, bis daß das Wasser warm wird und so gibt sie sich erst einmal dem kalten Wasser hin, zuerst auf ihren Füßen, dann langsam die Beine herauf, so langsam, daß es an ihren Schenkeln schon angenehme Temperatur erreicht hat. An den Armen
angelangt, muß sie schon kaltes Wasser zugeben, sonst würde sie sich verbrennen. Aber sie genießt das Duschen. Sie spürt wie der Körper das Verwöhntwerden aufnimmt, wie es ihr innerlich wird. Am Schluß dreht sie das warme Wasser ganz ab und erfrischt ihren Körper noch einmal mit kaltem.
Sie steigt aus der Dusche, nimmt sich ein Handtuch, welches auf der Waschmaschine liegt und fängt dann an, sich trocken zu rubbeln. Sie legt das Handtuch wieder auf die Maschine und sieht nach ihrer Unterwäsche. Da beide Teile nicht mehr frisch sind, streift sie sich einfach ihr Kleid über ihre nackte Haut, steckt die Wäsche in ihre Handtasche und geht zum Spiegel.
Kurze Zeit später kommt sie wieder zurück in die Küche. Der Mann lächelt sie an.
„Gut siehst du aus. Jetzt werde ich duschen gehen. Du hast sicher nichts dagegen."
„Nein, geh ruhig. Spar dir aber deine Freude, sollte ich wider Erwarten nachher noch da sein."
"Du wirst da sein."
Plumps, das saß! Back to reality. Wie die Kelle des Polizisten vor den Augen des stark angetrunkenen Autofahrers. All ihre Wärme, ihre aufgeblühte Schönheit, ihre wiederbelebte Lebensfrische, ist weggeblasen. Sie starrt vor sich hin ( und ist natürlich zu abgelenkt, um wirklich einfach zu gehen ), starrt ans Fenster, durch die Glasscheibe, durch das Haus gegenüber, den Wald dahinter, über die Felder, bis sie scheinbar wieder, nachdem sie die ganze Erdkugel umkreist hat, in ihren Kopf zurückgefunden hat. Seine Kaffeetasse steht vor ihr, hat noch zwei Schlücke zu bieten. Sie trinkt die Tasse leer, stellt sie wieder auf den Tisch zurück. Sie fühlt sich alleine, umgeben von Nichts. Sie empfindet keine Einsamkeit, nur ein Alleinsein. Sie spürt wie sie sich nicht da raus retten kann und gibt dem Drang nach, ins Nichts zu schwimmen, sie verflüchtigt sich...
Früher saß sie gerne im Garten ihrer Mutter, zog Löwenzahn aus dem Rasen, weswegen sich komischerweise ihre Mutter sich immer freute, sah in die Sonne und träumte vom Meer. Sie ist bis jetzt noch immer nicht am Meer gewesen.
Das Meer war für sie ein ganz großer See, in welchem viele bunte Fische schwammen, in jeder Größe. Die Fische waren zwar alle freundlich, aber trotzdem hielten sie den Abstand zum Ufer, da sie die Menschen nicht ärgern wollten. Sie ärgerten sich lieber gegenseitig, indem sich die Kinderfische in den Korallen versteckten, und die großen Fische ärgerten die Geister, die in den versunkenen Schiffen lebten. Früher gab es für sie den Tod als etwas endgültiges noch gar nicht, sondern sie glaubte daran, daß alle Menschen zu Geistern würden, friedlichen Gespenstern. Die toten Menschen in Gestalt von Geistern trieben den ganzen Tag Unfug, da ja kein lebendiger Mensch sie zu Gesicht bekommen konnte. Sollte aber doch zum Beispiel ein Taucher vorbei kommen, verwandelten sie sich zu Haifischen, um diese zu vertreiben. Das war aber schon sehr gefährlich, denn als Hai konnte man dann doch sterben. Die Aufpasser auf die Haie waren die Wale, die waren groß und schwer und vor allem Dingen lang. Die Menschen am Strand waren braun von der Sonne und überall sah man hohe Sandburgen, die von den herumtobenden Kindern gebaut wurden. Außerdem gab es ältere Kinder, welche mit dem Ball spielten und Verliebte, die sich küssen, weil man das ja zu hören bekommt. Jedenfalls schien immer die Welt am Strand in Ordnung zu sein. Es war der Himmel für die älteren Menschen, die sonst stets abends schlecht gelaunt nach Hause kamen.
Eines Tages hat sie dann mitbekommen, daß es nicht mehr viele Wale gibt, weil schon so viele beim Walfang getötet seien. Da mußte sie heulen, so richtig laut, daß es jeder hörte, damit die Mutter kam, um sie zu trösten. Sie erzählte der Mutter ihre Gedanken und verriet ihr, daß sie nun Angst vor dem Tod habe, da es keine Aufpasser mehr gäbe, nicht mehr für die Fische, nicht mehr für die Gespenster und auch nicht mehr für die Haie. Die Mutter aber schellte sie ob dieser Gedanken und meinte nur trocken, daß man vor diesen großen Fischen sich in acht nehmen müsse, da sie die Menschen töten könnten.
Da verstand sie die Welt nicht mehr, nicht mehr das Leben, nicht mehr den Tod.
Doch aus dem Nichts wird ein Blumenmeer. Sie nimmt es mit ihren Augen verschwommen wahr, drei Farbtöne beherrschen es, Formen sind nicht registrierbar, Nach einigen Sekunden jedoch erkennt sie das verschwommene Bild vor ihren Augen als einen Strauß Blumen, höchstwahrscheinlich aus dem Garten. Er scheint sie gepflückt zu haben, während sie duschen war. Sie schauen nett aus, als ob sie sie anlächeln würden.
Da geht die Tür auf und er kommt zurück.
„Du bist da. Ich habe es gewußt schön."
„Ich finde die Blumen schön. Sie könnten aus meinem Garten sein. Willst du dich nicht an den Tisch setzen?"
„Doch. Nur möchte ich erst ein Glas Saft trinken, damit ich richtig frisch werde. Magst du auch eins?"
„Ja, gerne." meint sie und wartet geduldig darauf, daß er sich hinsetzt, denn sie mag diese Unruhe nicht, die wieder in ihr aufkommt, da er sich nicht um ihre Anwesenheit kümmert.
„Da, dein Saft. Und jetzt hör zu! Ich werde dir etwas erzählen. Eine Geschichte. Meine Geschichte. Sie beginnt mit der Geburt zu einer späten Stunde in einem abgelegenen Schuppen von Frankreichs ewigen Feldern. Eine Hebamme verrichtete ihre Dienste so gut, daß mein Vater mich immer das `flotte Kerlchen´ nannte. Sonst gab ich nie Grund für solch einen Spitznamen. Meine Mutter überstand die Geburt so gut, daß sie sich eigentlich noch ein zweites Kind wünschte, doch mein Vater verließ sie, bevor sie sich jenen Wunsch hätte erfüllen lassen können. Es war Krieg damals und meine Mutter liebte diese gutaussehende,. kräftigen deutschen Soldaten. Meine Mutter kannte Hitler nicht, so auch nicht seine Söhne, sie sah nur die Männer, von denen sie gerne träumte, besonders im Zusammenhang mit ihrem Wunsch nach einem zweiten Kind. Kurz und gut, ein schlechter Soldat nahm sich ihres Wunsches an und nahm sie als Frau mit nach Deutschland. Ich war gerade vier Jahre alt. Für mich war es erschreckend, dieses enge Deutschland, diese Städte, verwüstet, zerstört vom endenden Krieg. Wir zogen in das Haus des deutschen Soldaten. Seine Eltern waren nett und in ihrer Gegenwart erschien er mir auch nicht mehr wie ein kleiner Soldat., sondern wie ein hilfloser Mensch, der sich und immer wieder verteidigen muß. Ich wurde zweisprachig erzogen. Bekam einige psychische Erkrankungen im Kindesalter, von denen ich mich aber im Laufe der Jahre wieder erholte. Man lernt sich anzupassen. Jedes Jahr fuhren wir nach Frankreich. Jedesmal weinte ich auf der Rückfahrt. Nun lebe ich in Deutschland alleine, getrennt von meinen Eltern, arbeite und fahre noch immer jedes Jahr nach Frankreich. Noch nie war ich verliebt, außer in mein Heimatland, nie aber in eine Frau. Wahrscheinlich liegt es an meiner Mutter. Sie erzog mich nicht, sondern überließ es der Mutter ihres Mannes. Sie verehrte diesen Mann, der ihr noch zwei Kinder schenkte, meine Geschwister. Ich kenne sie nicht mehr. Ich mag gerne allein sein. Man muß kein Theater vorspielen. Die Welt bietet Theater genug. Ich werde sterben. Irgendwann. Hoffentlich in Frankreich. Bis dahin möchte ich noch viel spazieren gehen und viel Rotwein trinken. Das ist mein Leben. C`est la vie."
Während er ihr seine Geschichte erzählt hat, wählte sie die Blumen auf dem Tisch als Blickfang für ihre Augen. Noch immer haften sie darauf, gespanntes Nachsinnen. Sie sieht sein Schweigen, sieht in ihr Stummsein, legt beides in die Blumen und träumt von seinem Leben, von ihrem Leben, von seinem Inneren, versteckt hinter der Mauer des Schweigens, welche mit dem Bild seiner eigentümlichen Geschichte angemalt ist. Sonst nur nichtsaussagende, doch mächtige Steine. Seine Augen, sie traut sich in selbige zu blicken, sind wie ein endloses, schwarzes Meer mit kleinen weißen Booten. Sie schwimmt ein bißchen in jenem Meer, blickt sogar einmal kurz in die Tiefe, doch erkennt sie nichts in der Dunkelheit. So kehrt sie wieder in sich zurück, findet sich trostlos, vom Alkohol der letzten Nacht behindert zu erleben, zu sehen, zu tun, zu denken. Und da sind dann wieder die Blumen auf dem Tisch. Auch in dem Garten ihrer Mutter stehen diese Blumen. Sie hat ihr letztes Mal einen Strauß wunderschöner Blumen mitgebracht, welche aber schon verwelkt sind, nun draußen auf dem Komposthaufen ruhend.
Sehr leise aus einem dieser wenigen Räume der Verschlossenheit nimmt sie Töne wahr, die sich zusammentun , um eine Melodie zu bilden. Eine sanfte Komposition. Sehr dumpf zwar, aber ihr Gefühl berührend, jenes Gefühl, daß nur in ruhigen Momenten angesprochen werden kann. Keine hohen Töne, die erheitern könne, sondern schwere, welche schwere Gedanken wiedergeben sollen, welche aber treiben, nicht fesseln. Ihr Klavier gefällt sich unter diesen Händen, jenes Klavier, welches sie so oft zu Wutausbrüchen reizt. Aber nein, es ist ja sein Klavier! Sie sitzt an einem fremden Tisch, in einer fremden Wohnung, bei einem fremden Mann. Kurz überkommt sie das Frösteln der Angst, das Begreifen der Realität, der Absurdität der Situation. Doch dann läßt sie sich wieder anziehen von der sanften Musik, die aus den Händen eines kräftigen Mannes sich bildet.
Sie geht in das Wohnzimmer, setzt sich in einen Sessel, betrachtet ihn, verträumt am Klavier sitzend, mit den Fingern auf dem Klavier einen Mondscheingangspaziergang machend, dann den Raum, eingehüllt in jene besondere Stimmung. Sie fühlt nicht diesen Zwang wegzuschauen, diesen egoistischen Zwang, ja nicht sich herzuschenken und sich einzufühlen in ein schönes Bild. Sie würde so gerne ein Liede zu dieser Melodie singen, die in regelmäßigen Abständen kurz wiederkehrt, um danach wieder neu improvisiert zu werden. Doch sie kann nicht singen. Also beginnt sie zu träumen, mit offenem Mund, sprechender Zunge, ohne Angst gehört zu werden, sich zu offenbaren in ihrem Geheimsten.
„Stärker als die Inbrunst eines Liebenden ist das Gefühl des Alleinseins. Niemals empfindet man stärker als in den Momenten des bewußten Verweilens in der Zeit ohne weltliche oder menschliche Beeinflussung. Dann schwinden einem die Stützen, man bricht zusammen unter der Last seiner schweren Gedanken. Er, der Mensch, kann nicht ausbrechen, sitzt verzweifelnd in einem Raum, der seine Zelle wird. Er begreift das Leben als alltägliches Gefängnis, in welchem es gilt, den Wärter zu bestechen, um kurz daraus entfliehen zu können, ein bißchen Sonnenstrahl zu erhaschen. Man wartet auf ein Klingeln der Türglocke oder des Telephons. Man wartet ungeduldig, doch ziellos. Was würde man dann tun? Man weiß es nicht. Man ißt etwas, trinkt etwas, liest ein bißchen etwas, empfindet jene schwächende Schläfrigkeit. Man legt sich hin, steht wieder auf. Und all das in ein paar Stunden. Intensives Erlebnis, dem man nicht entweichen kann. Nichtintellektuelle Dekadenz. Wenn es sich denn auch noch mit der Sehnsucht nach einem bestimmten Menschen verbindet, er im Moment nicht zu erreichen ist, so schmerzt es besonders. Es unterlaufen malheurs, man verliert seinen Glauben, verliert jegliche Vernunft, verliert das Gefühl für die Zeit, den Raum, irrt umher. Man wünscht sich nichts, besitzt keinen Traum, nur Verzweiflung, die man auskosten muß, denn es gibt kein Entrinnen. Der Schmerz ist intensiver als das Glück."
Sie verstummt, denn er hat sein Spiel beendet, seine Dame hat ihren Turm geschlagen. Sie betrachtet ihn während er sich umdreht, als wäre er ein Freund mit dem sie öfters ausgegangen ist und der sich plötzlich, zum Guten hin, verändert hat.
„Es war ein langer Tag, ein freier Tag, erlebt ohne jede körperliche Anstrengung. Ich hatte ein bißchen von allem gekostet, ohne es jedoch zu genießen. Es geschah manchmal, daß ich mich einfach hinlegte, nur um auszuruhen, und doch für ein paar Stunden eingeschlafen bin. So empfand ich es. Ein Buch fiel mir in die Hände, daß ich schon drei Mal gelesen hatte. Ich laß es ein viertes Mal und plötzlich schien es mir, als ob ich reif genug sei, auch eine Geschichte dieser Art zu erleben. Es handelte sich um eine Liebesgeschichte ohne Happy-End. So ging ich des Abends in ein Café, bestellte einen Cognac und wartete ab, was für Gäste erscheinen würden. Es war ein verstecktes Café in einer abgelegenen Straße und so mußte ich lange warten, bis eine Gruppe junger Menschen erschien. Mit dieser Gruppe war ein Mädchen gekommen, welches mir besonders auffiel. Es hatte kurze, braune Haare, ein schönes, enganliegendes Kleid an und war von einem dunklen Teint. Es erinnerte mich an mein geliebtes Frankreich. Vielleicht hatte es mich deswegen so in ihren Bann gezogen. Sie hatte wunderschöne Augen und ich mußte fürchten, daß ihr meine Blicke auffielen, denn ich wußte nicht wie meine Augen wieder von ihr abzuwenden. Sie bestellte sich einen Kaffee. Ich saß am anderen Ende des kleinen Raumes. Meine Überlegungen gingen dahin, noch einen Cognac zu trinken, um lockerer zu werden und um dem Ober Grund zu geben, mich hinauszuwünschen, aus diesem Paradies. Die Gruppe junger Menschen hatte sich zwei Flaschen Wein bringen lassen, was annehmen ließ, daß sie länger bleiben würden. Plötzlich saß diese Frau an meinem Tisch, mit einer Flasche Rotwein und zwei Gläsern. `Lassen Sie uns trinken.´ sagte sie. Ich fühlte mein Herz pochen, mein Knie schwach werden und verlangte vom Ober eine Packung Zigaretten. Ich hatte in meinem Leben nur in meiner Jugend kurze Zeit geraucht, doch verlangte es mir jetzt nach diesen scheinbaren Beziehungsdrogen. Ich nahm eines der gefüllten Weingläser und stieß mit ihr an. Ihre Augen waren feucht, sie muß geweint haben. Wir sprachen kein wichtiges Wort mehr miteinander, sondern tranken nur zusammen. Gegen vier Uhr am Morgen verlangte es dem Wirt nach Schlaf und wir mußten gehen. Nachdem wir die Tür geschlossen hatten, wachte ich auf. Ich hatte geträumt, meinte ich. Doch nun sehe ich Sie heute morgen und sie ähneln dieser Frau, jener einzigen Person, die mein Herz aufschrien ließ."
Sie steht auf, läßt ihn am Klavier sitzen, als ob er eine Katze wäre, die keinen Anspruch fordert, geht ins Bad, verschließt die Türe hinter sich. Sie will alleine sein, weg von diesen Geschichten, die sie betreffen sollen, ihr Gemüt bewegen sollen.
`Was will er?´ fragt sie sich. Ihre Gedanken kreisen in die Ferne, sie hat sie auf fremde Bahnen geschickt, damit sie sicher ist. Nun ist sie ergriffen von Angst, nicht mehr die Angst vor jenem Mann, sondern die Angst vor ihrem Ich, welches sie bisher noch nie kennenlernen mußte. Jenes unbekümmerte Mädchen wird mit Vorstellungen eines Mannes von einer Frau konfrontiert, deren sie entsprechen könne. Die Flucht ist ihr kein Thema mehr, sie würde sich verlieren an eine Sehnsucht, die sie so noch nie empfunden hat. Warum soll sie keinen Gefallen an jenen Empfindungen finden? Sie setzt auf sich auf den Badewannenrand, dreht das Wasser auf, spielt mit ihren Fingern im rauschenden Strahl, gibt sich den Ausschweifungen ihrer Gedanken hin. Sie fragt sich, was er denn gerade wohl macht? Nicht was er denkt oder gar fühlt. Sie würde ihn nie verstehen können, daß weiß sie jetzt schon. Natürlich versteht sie auch nicht die Mücke, die auf dem Spiegel gelandet ist, doch das ist eine ganz andere Sache. Wenn sie sich nicht vorstellen kann, daß dieses Insekt sich im Spiegel wiedererkennen kann, liegt das an ihren fehlenden biologischen Kenntnissen. Wenn sie aber diesen Mann nicht verstehen kann, dann liegt es an der Art und Weise wie er sich gibt. Er mag offen sein, aber er zeigt nur Bilder, ohne die notwendige Information. Ihr wachsendes Interesse, welches er geweckt hat, verlangt aber nach Information. Ihr Ich handelt nicht mehr aus dem Kopf heraus, sondern folgt dem Willen ihrer Sinne. Ihre Handlungsweise wird nun nicht mehr von ihr gelenkt. Gerade der Fluchtraum Badezimmer deutet ihr das. Das Badezimmer ist der Raum des körperlichen Bewußtseins. Hier regiert der Narzismus. Sie betrachtet sich im Spiegel, fährt sich durch die Haare, streicht sich mit der Handinnenfläche über die rechte Backe, streckt ihren ganzen Körper, um ihn auf`s Neue erwachen zu lassen. Sie spürt sich, überläßt ihren Geist ihrem Körper. Diesen drängt es nach dem Gegenpol.
Er verläßt das Badezimmer, kehrt zurück in das Wohnzimmer, doch Er ist nicht mehr in jenem noch relativ unbekannten Raum. So sucht die Frau ihn in der Küche, wo sie ihn dann am Tisch sitzend findet, einen Zettel vor ihm, einen Stift in der Hand haltend. Sie stellt sich hinter ihn, richtet ihre Augen auf das Geschriebene und liest für sich:
`Du vielschichtiges Erlebnis,
treibst mir einen Keil ins Herz,
unwissend, schweigendes Ergebnis;
bin ich doch bereit und wär`s nur ein Scherz.
Ich bin erwacht, am Leben,
sehe Blumen, vermenschlicht, blühend,
möchte, doch kann nicht, geben,
kämpfen, alle Kräfte mühend.
Wärme war mir stets ein fremdes Wort,
kalt gilt es zu sein, um zu überzustehen,
hab keine Angst vor deinem Mord,
für sie würd` ich ihn begehen.
Dann läg ich sterbend neben ihr, küssend ihre Haare,
sie erlebend nur mit mir,
lebender Tod für ewige Jahre.´
Ihr Körper ist enthauptet, der letzte Akt ist ein Kuß, den sie ihm gibt, dann rennt der Stumpf ins Wohnzimmer, setzt sich in den Sessel und schaltet den Fernseher ein. Unfähig, unwillens etwas aufzunehmen, spielt sie ihr eigenes Spiel. Sie legt ihre Hände in den Schoß, um sie zu wärmen, sie zu schützen, sich zu schützen, ihre Schwäche spürend. Ja, sie zittert, aber nicht vor Kälte. Ihr Körper hat sie überwältigt, ihr Herz ist der Befehlshaber über ihren Geist geworden. Alle Barrieren scheinen gefallen. Die Wollust breiter sich aus. Ein Kuß auf die Backe und sie steht kurz davor das Spiel zu verlieren. Ihre Bauern haben sich geopfert, ihre Läufer sich verschenkt. Sie wartet auf seinen Angriff, versteckt hinter ihrem letzten Turm.
Sie hört wie er sich ins Wohnzimmer schleicht, spürt seinen leisen Atem, spürt die Bedrohung. Diese Bedrohung existiert für sie, da sie nunmehr nur noch Körper ist, nur als Reiz. Keine Angst, sondern Erwarten. Vielleicht banges Erwarten, da sie Ausgang des Spiels nicht kennt.
Im Fernsehen läuft ein alter Schwarz-Weiß-Film. Krieger einer sterbenden Macht erkennen das Ziel, daß für sie bestimmt ist. Sie reden in schweigenden Nuancen. Der Alkohol ist ihr fehlendes Lebenselixier und sie starren sich an, als ob sie nicht mehr wissen, warum sie sich eigentlich für etwas hergeben, was mit ihnen ja nichts mehr zu tun hat. Sie vertreiben Melancholie für die, welche ohnehin um den Unsinn solcher heroischen Taten wissen. Der Krach der Schüsse bestimmt die Szenerie, einige Treffer, einige hundert unsichtbare Flugbahnen dieser kugeln, die von Mensch zu Mensch geben sollten. Tauschware des Krieges.
Sie weiß nichts mit jenen Bildern anzufangen, greift zur Fernbedienung, Automation der Freiheit, schaltet auf ein anderes Programm, neue Bilder, farbenfroh, mit heiteren Menschen. Familie mit jugendlichem Sohn in einer kleinen Wohnung am Rande einer Großstadt. Sie essen Spaghetti. Die Eltern reden, der Sohn schweigt. Die Einstellung auf ihn fixiert; er scheint keinen Hunger haben. Er steht auf, als sie ihn aufgrund seiner Appetitlosigkeit schimpfen, geht aus dem Haus, zum Bus, der zufällig gerade ankommt, steigt ein, fährt in die Stadt. Nachdem er sich irgendwo eine Flasche Whisky gekauft hat, sieht man ihn auf dem Marktplatz sitzen, Menschenmassen an ihm vorbeiströmend. Aus dieser Masse tritt ein Mädchen, bildschön natürlich, spricht ihn an, weil sie sich kennen.
Sie weiß was kommen wird, lehnt sich tief zurück in das weiche Leder des Sessels, spürt wie ihr Körper wieder die Macht zurückgeben will, da er keine Spannung mehr besitzt, müde wird.
Doch das Fieber ist noch nicht ganz zurückgegangen, das Erwarten ist noch da. Sie spürt noch einmal seine Anwesenheit hinter ihrem Rücken. Sie hat keine Angst mehr sich umzudrehen, doch ist sie sich bewußt, daß sie damit ihr Vorhaben, ein Remis zu erlangen, aufgeben müßte. Es gilt nur kurz ein Lächeln zu zeigen, eine kleine Höflichkeit als Dank für die Kurzweile, die der Fernseher bietet. Und da, als der Junge im Film seine Whiskyflasche aus lauter Zorn über die Dummheit seiner Mitschülerin derselben über dem Kopf zerschmettert, so daß sie mit schwersten Blutungen am Hinterkopf, besonders auf ihren wunderschönen, blonden Haaren sichtbar, ins Krankenhaus eingeliefert werden muß, in welchem er sie dann täglich besuchen wird, da dreht sie sich um.
Ihre Augen schrecken auf, ihr Blut pulsiert, ihre Denkströme erliegen, ihre Hände beginnen zu zittern, ihre Lippen werden trocken, ein Bild der nackten Unschuld vor ihr, scheinbar aus der Antike, solch überwältigende Schönheit, entstiegen der Kleidern der Unnatürlichkeit, sich öffnend der Freiheit der menschlichen Begierde.
Sie erhebt sich aus dem Sessel, geht langsam auf ihn zu, der verloren an der Wand lehnt, setzt sich neben ihn, sieht, daß er nichts sieht. Sie will ihre letzten Figuren schenken, ihre Ohnmacht ihm begreifbar machend. Ihre Finger werden die Instrumente ihrer Begierde, ihres willigen Begehrens gegen den Rest an Angst vor dem Unbekannten. Sie betasten seine Fußzehen, erst zögernd, dann tastend, dann zart knetend, geben ihr ein Gefühl für die Weichheit seiner Haut, für die Wärme ihres Körpers, jenes Wohlgefühl, jenes wahre Begreifen. Langsam kommt es ihr entgegen, dieses Strömen von Energie aus seinem Körper in ihre Blutbahnen. Sie ist das Herz, daß Blut zugepumpt bekommt und es wieder weiter gibt, den Kreislauf erst zu einem Kreislauf macht. Ihre Finger gleiten an ihm empor, tagelang, nicht mehr suchend, doch erfahrend. Sie gibt sich hin, indem sie ihn nimmt. Sein Körper ist die Quelle ihres Bedürfnisses, sein Gesicht ist der Gott, der existiert. Seine Augen sind leblos, seine Stirn eine mächtige Pulsader. Alle Person ist in einem Gesicht vereint. Ihre Augen betrachten den Körper, nicht mehr den Fremden. Sie betrachten mit Erwartung, mit keuscher Hoffnung, friedlich, aber doch ausdrucksstark. Sie spürt ihren Blick wie einen Strahl einer Lampe durch ein dunkles Zimmer. Seine Leblosigkeit wird ausgefüllt durch ihr Leben, läßt sie frei sein. Ohne sein Verlangen befreit sie sich von ihrem Kleid, schlüpft in ihre neue Rolle., fordert ihn zum Tanz auf, einem unendlichen Tanz durch alle Welten, alle Geschehnisse, alle Einzelheiten eines verwerflichen Lebens, alles Verlangens. Langsam und leise beginnt sie zu summen, ein Lied, daß ihre Mutter ihr gelernt hat, summt es ihm ins Ohr, um ihre Musik seine Musik werden zu lassen, eine Hymne für tausend und eine Nacht. Schwach vernimmt sie einen Kanon, dessen Einklang unvereinbar ist. Und trotzdem lodert das Feuer um sie herum, läßt sie erscheinen als einen Engel der Hölle.
Kein Ton fährt über ihre Lippen, kein Geräusch der Straße erreicht sie, nur das Summen ihrer Melodie, die Berührungen ihrer tanzenden, nackten Füße auf dem Teppichboden dieses Raumes, der an Bedeutung verliert, je länger sie sich drehen, je kraftvoller ihre Stimmen werden.
Plötzlich stehen sie vor dem Bett und, noch immer genauso verloren, gesteht er ihr: „Ich bin nicht.".
Sie wird aufwachen, spät am nachmittag, einen ziemlichen Kater haben, einen starken Kaffee trinken und dann im Büro anrufen, um sich zu entschuldigen, daß sie diese Woche nicht arbeiten kann, da ihre Mutter gestorben ist.
 
C

caspar

Gast
stendec

seit stunden grübele ich.
es zerschneidet mir das hirn und ich merke den regen auf meiner haut der grollend sich am horizont ankündigt. ich blicke auf den boden, wo in schwarzen buchstaben
für jasmin, sanne und alle frauen steht,
und streife eine träne voll fleisch aus meinem gesicht.
jasmin, sanne... keine frauen?
 

Marc Mx

Mitglied
Was bist Du, Wissenschaftler?

Hallo zetteltraum,
Dein Name verspricht ja eine Menge, aber das hier...

< "Die Person, homo sapiens alcoholicus..." >

An dieser Stelle hatte ich schon keine Lust mehr, weiter zu lesen! Denk mal darüber nach, woran das liegen könnte. Wenn Du sooo einen langen Text schreibst, dann MUßT Du Deine Leser und Leserinnen fesseln!!! Und mit solchen Ausdrücken schaffst Du das bestimmt nicht...
Wenn Du Dich selbst als Anfänger outest, dann fang doch erst mal mit kurzen Texten an!!!
Sorry, aber... naja...
Viele Grüße
MarcPlanet.de
 
J

Jasmin

Gast
Bitte nimm es mir nicht uebel, aber...

ich schaffe es beim besten Willen nicht, den Text zu Ende zu lesen. Ich habs paar Mal versucht, einige Anlaeufe genommen, aber ich komme ueber den Anfang nicht hinaus. Etwas straeubt sich in mir und das ist wohl mehr als nur pure Langeweile.
Auch kann ich nicht verstehen, warum du mir diesen Text widmest und was ich mit Sanne gemeinsam habe. Kannst du mir da vielleicht auf die Spruenge helfen?

Gruss
Jasmin
 

zettelstraum

Mitglied
es ist eine frauengeschichte..

..ein versuch eine geschichte aus der sicht einer frau zu schreiben.
ich finde es sehr eigenartig,daß sich keiner der antwortenden leute getraut hat, sich in den Sog (extra für sanne groß geschrieben) reinreißen zu lassen, der es schafft, daß diese beiden menschen etwas besonderes erleben.
ich muß auch ehrlich dazu sagen, daß diese geschichte 10 verschiedene leute gelesen haben, was wohl der unterschied zu eurer art und weise das werk zu durchsehen und zu durchforsten gewesen sein mag, und daß alle dieser 10 verschiedensten menschen, von der ärztin bis zur webdesignerin, die mittlerweilen sogar beim bayerischen rundfunk arbeitet, jedenfalls alle dieser 10 menschen fanden die geschichte sehr mitreißend und sie konnten vieles davon nachvollziehen, da sie ähnliches bereits erlebt haben.
sind diese menschen ehrlicher, leben sie intensiver, sehen sie besser - oder sind sie zu einfach???
da man ja doch sicher nicht behaupten darf, daß die menschen der leselupe zu wenig intellektuell seien, als daß sie wenigstens das besondere des vergleiches einer eroberung in einer menschlichen beziehung und einem schachspiel herausgefunden haben und angesprochen.
ich weiß ja nicht, nur, daß ich auf diese meinungen, die nur begriffe und formfehler suchen, keinen wert legen werde.
sorry.

ich bin so frei, ehrlich zu sein.

christoph
 

zettelstraum

Mitglied
ach ja.

..die geschichte war auch deswegen für all die damen, da ich endlich mal literarisches hier er-leben wollte,kritik natürlich inc.
bloß nehm ich da keine kritik ernst wo sie nicht mit ernstzunehmenden bsp. aufkreuzt.
vielleicht bin ich darin eigen, doch genau diese eigenheit sollte uns ja alle ausmachen, sonst würden wir alle die gleichen geschichten schreiben.
und eine geschichte extra für dich zu schreiben, sanne, das wär n schmarrn.
ich will keine streitigkeiten erzeugen und einen meinungsaustausch führ ich lieber mailtechnisch aus.
so.
chris
p.s.: ach ja, ich hasse TV und marcel r.r. kenn ich nur vom hören sagen und was ich vom hören sagen kenn, nehm ich nicht für wichtig.ich erwartete mir einfach konstruktive kritik, nicht aber ne lästerablasse wie erlebt.
denn dafür, daß ihr euch nich in sachen wagt, die neu sind in der literatur sondern schmalzgeschichten schreibt - wer ist wir frag ich mich selbst, ich meine nicht die leselupe generell-, seid ihr echt krass gegenüber jemandem der mal was neues einbringt. und nicht nur von trauer, gefühl, tod oder sonstwas schreibt.
es gibt viele gute geschichten in der leselupe, aber ich komme leider nicht umhin die antworten auf meine geschichte als eine subjektive meinung über meine person zu betrachten, nicht als eine objektive ausseinandersetzung. langes p.s., sorry.
 



 
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