Hallo Karl,
dein Gedicht ist sehr gut verdichtet und enthält schöne Verse.
Der erste Vers bereits überzeugt durch seine Zweideutigkeit, hervorgerufen durch die Ähnlichkeit zwischen "seele hab ich" und "seelig hab ich".
Interessant ist auch das Paradoxon der gefangennehmenden Freiheit, denn auch ich habe oft beobachtet, wie eine steigende Auswahlmöglichkeit eine umso größere Lähmung und Verwirrung mit sich ziehen.
"Lese den Spruch an der Wand."
An einer Wand stehen zumeist Binsenweisheit, weshalb ich zunächst an etwas derartiges gedacht habe, ganz durchdringen konnte ich ihn aber nicht, vielleicht willst du das sogar gar nicht, da es keine Weisheiten gibt und erst recht nicht etwas, das imstande ist, Dinge objektiv und wahrheitsgetreu wiederzugeben, da das Wort "Wahrheit" weitaus nebulöser in Erscheinung tritt, als uns das Wort selbst vermitteln will.
Interessant ist, dass das lyirsche Ich entweder etwas benennt, steht oder wartet, eine wirklich aktive Haltung nimmt es nur in der Benennung der grauen Katze ein, deren Farbe Tristheit und Monotonie suggeriert.
Der Bruch erfolgt versteckt am Ende, da aufmerksam gelesen werde muss, um den Unterschied zwischen Strophe eins und zwei zu erkennen, den entscheidenden Unterschied. So beschreibt das lyr.Ich in Strophe 1 bloß die Tat des Gefangen-Nehmens als eine, die über ihn einstürzt und derer es sich nicht erwehren kann. In Strophe 2 hingegen fordert es die Freiheit dazu auf, ihn gefangen zu nehmen.
Dein Gedicht lässt viel Platz für Interpretationen, meine ist die Folgende:
Das lyrische Ich durchlebt ein tristes Leben, seine Seele bleibt ungebraucht und ungelebt, alles scheint öd und gleich. Die graue Katze, welche das lyr.Ich Seele nennt, symbolisiert dabei eben jene Monotonie in der Seele des lyr.Ichs.
Es will nicht mehr bloß gefangen sein im Kerker des Alltags und fordert die Freiheit dazu auf, ihn gefangen zu nehmen, also aus dem Trott entführt zu werden.
Der Spruch an der Wand scheint für mich, aufgrunddessen, dass er nicht erwähnt oder rezitiert wird, eine leere, belanglose Phrase zu sein, deren Wert das lyr.Ich bereits gegen null gehend reduziert hat. Der Spruch berührt und motiviert nicht mehr.
Das lyr.Ich steht, es gibt keinen Schritt nach vorne, nicht einmal nach hinten, oder nach rechts und links bewegt es sich. Es steht.
Dann erfolgt der Bruch in der Wiederholung, die erneut den immerfort gleich verlaufenden Alltag ausdrückt. Nun hat aber eine Veränderung im lyr.Ich stattgefunden, es scheint entweder gemerkt zu haben, dass die Freiheit ihn nicht einfach so gefangen nimmt, oder es ist bereits ein Mal gescheitert,- nun wird das lyr.Ich erstmals wirklich aktiv und spricht die Aufforderung an die Freiheit aus, ihn endlich zu entführen.
Kurzum:
Das Gedicht beschreibt ein lyr.Ich, das im Alltag gefangen ist, in dessen Leben Tristesse und Gräue vorherrscht. Das lyr.Ich will ausbrechen und möchte, dass die Freiheit ihn von seinem monotonen Leben be-frei-t.
Mir hat es gefallen, lieber Karl.
Herzliche Grüße,
Haki