momente des sterbens

M

margot

Gast
(ein erzählfragment - 1981)



tränen fließen über seine wangen. es ist wie ein
zartes streicheln, als sie sich den weg durch die
schluchten seines gesichtes bahnen.
ich bin mit ihm in berührung. es umgibt mich wie
ein rahmen das bild. ich fühle es jetzt, da ich sterbe,
und ich fühlte es damals bei meiner geburt – sehe
mich selbst als gemälde – eben fertiggestellt, ist
die farbe noch feucht, und der künstler betrachtet
sein werk. während die farbe trocknet, will er es
bewerten – aber er ist wieder leer, der rahmen, in
dem er es eben noch sah.
eine neue realität öffnet sich, und ich wachse in
sie hinein, bin alsbald tief verwurzelt mit diesem
traum der träume. ich lebe und fülle den rahmen
von neuem mit farben und formen.
eine wüstenlandschaft.

die luft flimmert. da kriecht ein wesen auf dem
heißen wüstensand. die spur verweht. ein schatten
schatten nähert sich dem wesen, ein lebendiger
schatten, und eine schattenhand greift nach ihm,
greift in den heißen wüstensand. das wesen huscht
die düne hinauf. feiner sand rieselt von der hand
des riesen. das wesen ist verschwunden. der riese
richtet sich auf und geht weiter. mit riesenschritten
entfernt er sich und wird immer kleiner.
an einer stelle oben auf der düne bewegt sich der
sand – nicht vom wind. es summt, hört es deutlich
summen – überall – könnte sich daran gewöhnen,
wenn man nicht hinhören würde; aber da gibt es
nichts anderes als dieses summen und sand, und
oben ist es blau, ein helles, glattes blau bis zum
horizont, dann wird es weiß, dreckiges weiß; und
oben auf der düne bewegt es sich. das wesen
buddelt sich ins freie, verharrt. seine tarnung ist
perfekt, kaum kontrast. mit der entfernung wird
es immer schwieriger es auszumachen. die augen
schmerzen. er hat durst, zu nervös, als er nach
dem wesen griff, griff in den wüstensand.
das summen führt ihn zu den metallgerippen.
das summen wird stärker, er folgt ihm instinktiv.
die sonne brennt jeden klaren gedanken aus seinem
schädel. er spürt trockenheit und staub, fühlt sich
selbst als gerippe; und da ist der moment, an
dem die wirklichkeit erlischt und nicht weiß, ob
sie je wieder aufwacht.

als er zu sich kommt, spürt er kühle. er liegt da
mit einem heißen kopf, aber es ist angenehm kühl.
er liegt da und genießt dieses gefühl, starrt an
die decke und sieht sie nicht. gedanken schwirren
durch seinen schädel, geknickte bilder – papier-
schwalben auf blauem himmel mit eiskristallen
überzogen funkeln in der sonne.
so starrt er an die decke, eine ganze weile, als
noch etwas anderes kommt. das andere ist feucht
und warm. eis schmilzt und tropft in seine augen.
er kneift sie automatisch zu.
als er sie wieder öffnet, sieht er über sich einen
schatten, den schatten einer gestalt. aus der gestalt
wächst eine bewegung, wach und warm spürt er
ihren luftzug und hört ihr knistern. als sie ihn
erreicht, sackt er unter ihr weg und fällt. nur einen
moment – fällt er unendlich lange, bis er auftrifft
mit einem schrei, den er nicht hört.
 



 
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