nachtmar

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A

Architheutis

Gast
Hallo laudabilis,


Müsste "nachtmar" nicht mit h geschrieben werden?

Ich verstehe die Zeilenumbrüche nicht. Die wirken etwas gewollt:

durchs land [blue]längst[/blue]
hingemordet alle
den samariterkorb [blue]kommt[/blue]
erneut vom weg ab vermeintlich
als die morgendämmerung [blue]als[/blue]
endlich schlafen zu dürfen
Warum ist es wichtig, dass diese Wörter noch vorgezogen stehen? Die so erzeugten Sprechpausen in der Syntax betonen eben die Wörter, die ich blau markiert habe. Mir ist unklar, warum selbe einer solchen Hervorhebung bedürfen.

untote geistern wieder
durch die vollmondnacht
nichts sehnlicher wünschen
die wiedergänger herbei
Diese Strophe ragt deutlich hervor. Vor allem kommt sie ohne diese komischen Zeilenumbrüche aus.

Wie wäre dieser Kahl-Vorschlag?:


nachtma[blue]h[/blue]r

[blue]untote geistern wieder
durch die vollmondnacht
nichts sehnlicher wünschen
die wiedergänger herbei

als die morgendämmerung
als endlich schlafen zu dürfen[/blue]


Lieben Gruß,
Archi
 

laudabilis

Mitglied
hallo archi,
mag sein, dass manche duden-redakteure heute "mahr" für die richtige schreibweise halten. die letzte wäre ja nicht die erste rechtschreibreform, die die deutsche schriftsprache gründlich verhunzt hat. (vgl. "behende", dass auf neudeutsch jetzt "behände" geschrieben wird, aber überhaupt nichts mit der hand zu tun hat, sondern sich aus dem germanischen "hen" für "schnell" herleitet). in diesem sinne begreife ich "mar", und zwar ohne "h" ebenfalls aus dem germanischen hergeleitet. oder würdest du die verniedlichung dieses wortes, nämlich "märchen" ebenfalls mit "h" schreiben?

nun zu deiner kritik an den zeilenumbrüchen:
der ganze text ist eine aneinanderreihung von traumsequenzen. jeder mensch, na ja, fast jeder, träumt albe ebenso wie erotische phantasien. genau diese mischung war es, die früher an verglimmenden herdfeuern erzählt wurde. damals, als es noch keine computer, kein tv, keine zeitungen, keine horror- und sexfilme gab und zumindest im ländlichen raum auch bücher nicht allzu verbreitet waren. und zu einer zeit, als es auch die gebrüder grimm noch nicht gab, die später das, was sie in diesem ländlichen raum mühsam recherchiert hatten, entschreckt und vor allem entsexualisiert und, bevor sie es niederschrieben, alles auch noch in einer gehörigen portion moralin ersäuft haben.
diese mündlich überlieferten geschichten am herdfeuer strotzten vor schrecken und sexualität, und sie strotzen vor inneren brüchen auf dem weg vom einen zur anderen und wieder zurück. diese brüche will ich darstellen.

ergo: danke für deine mühe und dein hilfsangebot. aber in diesem fall bleibe ich bei meiner version.

liebe grüße
laudabilis
 
A

Architheutis

Gast
Hallo nochmal.

Dein eytmologischer Einwand ist nicht von der Hand zu weisen. Dann also "nachtmar". ;-)

Nicht überzeugend finde ich hingegen deine Erklärung der Zeilenumbrüche. Ist nicht gerade das mündlich vorgetragene Gedicht auf eine effektsame Betonung angewiesen? Ich sehe hier weiterhin die Betonungen an den falschen Stellen gesetzt, aber das ist ja nur meine ganz persönliche, bescheidene Meinung. Andere mögen es anders sehen, das ist OK für mich.

Lieben Gruß,
Archi
 

laudabilis

Mitglied
dein stolpern hat mich dazu gebracht, noch mal alte texte hervorzukramen und darin zu blättern. es gab eine zeit in den 80er jahren, da waren so unklare umbrüche in meinen texten sogar stilbildend. das war die zeit, in der lyrik von der lediglich umbrochenen prosa über diesen umweg tatsächlich wieder den weg zurück zu einer wirklich lyrischen sprache fand. diese texte gaben dem leser wie dem rezitator gewisse freiheiten, seine eigenen schwerpunkte in dem text zu finden und zu setzen.

und auch in dem text, den wir gerade diskutieren habe ich diese für dein empfinden ungewöhnlichen umbrüche bewusst gesetzt, um doppeldeutigkeiten herzustellen ohne mich in unendlichen wortwiederholungen verlieren zu müssen.

beispiel 1: "alle" im sprung von vers drei auf vers vier der ersten strophe. es bleibt dir als leser und selbst mir als vorleser situativ überlassen, dieses "alle" auf die hingemordeten wölfe oder auf die besiegten ängste zu beziehen.

beispiel 2: "vermeintlich" im sprung von vers drei auf vers vier der zweiten strophe. kommt rotkäppchen nun nur vermeintlich vom wege ab oder kommt sie tatsächlich vom wege ab, aber lediglich vermeintlich "nur um blumen zu pflücken"?

diese für dich so schwer verdaulichen umbrüche sind also wirklich geezielt gesetzt.

in der vierten strophe habe ich den ungewöhnlichen zeilensprung gesetzt, um zu vermeiden, dass die nur zwei verse dieser strophe beide mit dem wörtchen "als" beginnen. mit deiner kritik/deinen anregungen im hinterkopf habe ich jetzt noch mal drüber nachgedacht und bin nun selbst zu dem schluss gekommen, dass das eigentlich blödsinn ist und werde das unverzüghlich ändern. der erste vers dieser strophe endet folglich ab sofort mit "morgendämmerung". ich finde mittlerweile sogar, dass die aussage verstärkt wird, wenn diese schlusszeilen beide mit "als" beginnen.

insofern haben deine mühe und dein hinterfragen also doch etwas bewirkt und - wie ich finde - zur verbesserung meines textes beigetragen. herzlichen dank dafür.

lg,
laudabilis
 

laudabilis

Mitglied
nachtmar

es heulen wieder wölfe
durchs land längst
hingemordet alle
ängste besiegt geglaubt

rotkäppchen packt wieder
den samariterkorb kommt
erneut vom weg ab vermeintlich
nur um blumen zu pflücken

untote geistern wieder
durch die vollmondnacht
nichts sehnlicher wünschen
die wiedergänger herbei

als die morgendämmerung
als endlich schlafen zu dürfen
 
A

Architheutis

Gast
der erste vers dieser strophe endet folglich ab sofort mit "morgendämmerung". ich finde mittlerweile sogar, dass die aussage verstärkt wird, wenn diese schlusszeilen beide mit "als" beginnen.
Das finde ich auch.

insofern haben deine mühe und dein hinterfragen also doch etwas bewirkt und - wie ich finde - zur verbesserung meines textes beigetragen. herzlichen dank dafür.
Das freut mich. :)

Auch ich habe ja was lernen können. Die die von dir geschilderte Tendenz in den 80ern war mir bis hierhin völlig unbekannt. Wieder um eine Erfahrung reicher.

Eine klassische win-win-Situation also, fruchtbar für Leser und den Autor. Kann man es sich besser wünschen?

Lieben Gruß,
Archi
 

laudabilis

Mitglied
nee, kann man sich eigentlich nicht wünschen und sollte man auch nicht tun.
für dich, archi, noch ein kleiner nachtrag. bisweilen liebe ich es geradezu, in meine texte solche stolpersteine einzubauen. der leser ist dadurch in einer situation, einem fußgänger im straßenverkehr vergleichbar. wenn du beim überqueren einer straße über den gegenüber liegenden bordstein erst einmal gestolpert bist, wirst du zumindest für gewisse zeit deine schritte aufmerksamer setzen.
und was kann einem autor besseres passieren als ein leser, der im text gestolpert ist und deshalb seine aufmerksamkeit erhöht?
lg,
laudasbilis
 

laudabilis

Mitglied
hallo archi,
was die umbrüche der lyrik angeht, das muss in der literaturgeschichte wohl erst noch beschrieben werden. der mainstream in der zweiten hälfte der 70er und der ersten hälfte der 80er war ohnehin scheiße. ich habe mein abitur erst im alter von 31 jahren im zweiten bildungsweg abgelegt. das war 1985 und wir hatten sicherlich nicht ohne grund im deutschunterricht nicht ein stück lyrik behandelt.
was ich meinte, das war eher szene-lyrik. was haben wir nicht erich fried bei seinen lesungen die türen eingerannt, bis wir erkannten, dass er als lyriker einfach nur ein scharlatan war, der prosaische sätze zu versen umbrach, die sonst nicht einmal als epigramm getaugt hätten! ich habe noch heute alle seine bücher, mit denen sich der verleger klaus wagenbach eine goldene nase verdient hat. das liegt aber nicht an der qualität der gedichte, sondern an meiner einstellung, dass bücher wegschmeißen und bücher verbrennen ziemlich nah beieinander liegen. bezeichnenderweise ist das einzige buch von fried, das heute noch vor meinem auge bestand hat, sein einziger roman: "ein soldat und ein mädchen".

in diesem zusammenhang ein zitat von hans traxler von der sogenannten "Neuen Frankfurter Schule" (einem autoren- und illustratorenkreis rund um die satirezeitschrift titanic):
"Die schärfsten Kritiker der Elche
waren früher selber welche".

solltest du nach der lektüre von "nachtmar" und unserer kleinen diskussion darüber lust am literarischen stolpern gefunden und zudem auch noch ein faible für prosa haben, hier noch zwei literatentips aus zwei ganz verschiedenen epochen des vergangenen jahrhunderts:

alfred döblin
arno schmidt

beide haben es auf ihre jeweils eigene art und weise und in ihrer jeweiligen zeit (döblin in den 20er, schmidt in den 60er und 70er jahren)zur wahren meisterschaft im setzen von stolpersteinen gebracht.

das sind texte, die man nicht einfach abends vor dem einschlafen noch eben ne halbe stunde im bett konsumieren kann. die texte dieser beiden autoren fordern ihren lesern echt harte arbeit ab. aber wenn man dann schließlich die eigene aufmerksamkeit als leser gefunden hat, machen beide, jeder auf seine weise, richtig viel spaß.

den wünsche ich dir bei der lektüre und hoffentlich auch bei der lektüre meiner texte hier bei ll.

lg,
laudabilis
 
A

Architheutis

Gast
Jo, Döblin ist mir wohl ein Begriff, aber wirklich präsent ist er mir zZt nicht. Vielleicht werde ich mich mal mit ihm (und Schmidt) näher befassen. Gegen "unbequeme" Texte habe ich an sich nichts. Aber es gibt noch so vieles andere...das Leben ist leider zu kurz, um eine ganze Bibliothek zu lesen.

Alles Gute weiterhin,
Archi
 

laudabilis

Mitglied
so, wie der längste weg mit dem ersten schritt beginnt (laotse), fängt die ganze bibliothek mit dem nächsten buch an.
lg, laudabilis
 
A

AchterZwerg

Gast
Lieber Eberhard,
dein Gedicht gefällt mir über weite Strecken gut, insbesondere die Idee, die hinter dem Ganzen steckt. Mit den Zeilenumbrüchen habe ich persönlich keine Probleme, möchte aber etwas mehr Verdichtung vorschlagen.
Und "Nachtmahr" kenne ich auch nur mit h. Zudem gibt es ein Projekt des göttlichen österreichischen Musikers Rainer, das genauso heißt, also einer Überlegung wert ist. :)

es heulen wieder wölfe
durchs land. längst
hingemordet alle
ängste besiegt [strike]geglaubt[/strike]

rotkäppchen packt [strike]wieder[/strike]
den samariterkorb [blue]und [/blue]kommt
erneut vom weg ab - vermeintlich
[strike]nur[/strike] um blumen zu pflücken

untote geistern [strike]wieder[/strike]
durch die vollmondnacht
wünschen sich sehnlichst die
wiedergänger herbei

die morgendämmerung endlich
schlafen zu dürfen
Hmmm? Ist n u r ein Vorschlag, gell?

Liebe Grüße
das achte Zwergenmischwesen
 

laudabilis

Mitglied
nachtmar

es heulen wieder wölfe
durchs land längst
hingemordet alle
ängste besiegt geglaubt

rotkäppchen packt
den samariterkorb und kommt
erneut vom weg ab vermeintlich
nur um blumen zu pflücken

untote geistern durch
die vollmondnacht
nichts sehnlicher wünschen
die wiedergänger herbei

als die morgendämmerung
endlich schlafen zu dürfen
 

laudabilis

Mitglied
liebe heidrun,

schön, wieder von dir zu lesen. ich dachte schon, dich gibts hier gar nicht mehr.

zunächst zum titel: ich bleibe bei mar ohne "h". einfach deshalb, weil es etymologisch richtig ist. aus diesem mar hat sich übrigens später die mär (heute: das gerücht) entwickelt. und wenn man da wiederum mit einem "h" reinschlagen würde, wäre man ja fast schon beim pferd kurz vor dem rossschlachter.

was deine sonstigen änderungsvorschläge betrifft: fast zwei drittel davon habe ich sofort und spontan übernommen. nicht alles, auf einiges habe ich mit meiner version versteifen müssen. aber lies mal die neue version mit den von mir übernommenen änderungsvorschlägen von dir.

du hast mal wieder, wie fast jedes mal, ein echtes händchen zur verbesserung eines textes von mir gezeigt.

liebe grüße
eberhard
 

laudabilis

Mitglied
noch ein bisschen mehr etymologische herleitung

liebe heidrun, lieber archi,

noch ein bisschen mehr etymologische untermauerung dafür, dass ich auf "mar" ohne "h" bestehen will und muss.
sicherlich kennt ihr den ebglicshcen begriff "nightmare" für albtraum. "nightmare" ist alles andere als ein anglizismus. ich hab es aber für meine überschrift zurückgedeutscht.
lange vor den römern und noch viel länger vor wilhelm dem eroberer haben die angeln und die sachsen die inseln besiedelt, die wir heute als "das vereinigte königreich" kennen.
aus dem sprachgebrauch dieser keltisch-germanischen stämme leitet sich das wort "mar" her, das wir heute noch im englischen "nightmare" wiederfinden. übrigens längst nicht der einzige anglizismus, der seine ahnentafel auf die keltisch-germanische sprachfamilie zurückführen kann.
die verhunzte rechtschreibreform des vergangenen jahrzehnts im deutschsprachigen raum war im lauf der deutschen sprachgeschichte sicher nicht die einzige ihrer art. vielleicht waren es die grimms, die in ihrem wörterbuch ein "h" in dieses wort hineingelogen haben, um damit den langgezogenen vokal zu unterstreichen.
etymologisch betrachtet ist es aber auf jeden fall falsch, und deshalb bleibe ich entgegen aller widerreden bei "mar" ohne "h".

liebe grüße euch beiden,
eberhard
 
A

AchterZwerg

Gast
Da muss ich glatt nach meinem etymologischen Wörtebuch kramen. Aber hinter deinen Worten sehe ich schon jetzt eine innere Logik leuchten.
Der Text liest sich nun insgesamt flüssiger und gefällt mir deshalb noch besser.
Herzliche Grüße
Heidrun
 

laudabilis

Mitglied
danke, heidrun, für dein lob.
noch ein kleiner hinweis für deine etymologischen nachforschungen. das wort "märchen" wirst du ja wohl auch schwerlich mit "h" schreiben. dabei handelt es sich hier nur um eine verniedlichung von "mär" bzw. "mar".
liebe grüße,
eberhard
 



 
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