post mortem

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gox

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Oma Meier verstarb friedlich im Beisein ihrer Familie. Nach dreiundneunzig erfüllten Jahren fanden ihre nimmermüden Hände endlich zur Ruhe. Eine Hand voll Kinder und mehrere Hände voll Enkel und Urenkel zählte ihr Lebenswerk.
Ungeübter Gesang drang auf den Korridor des katholischen Pflegeheimes. Die Angehörigen wollten der Verblichenen mit dem frommen Lied „Die Tore macht weit“ den Weg zum Herrn ebnen. Weite Tore würde Oma Meier benötigen, denn mit ihren einst deutlich über einhundert Kilogramm Lebendgewicht war sie eine Frau von Format gewesen.
Es wurde das Fenster geöffnet, damit die Seele der Verblichenen emporsteigen könnte, trotz der viel zu kleinen Fensteröffnung. Man war übereingekommen, dass Seelen im Gegensatz zu Körpern vermutlich flexibel seien.
Schwerer, betäubender Geruch von Weihrauch durchströmte das Zimmer. Singende Verwandte und dicke Luft - Oma Meier wäre wohl gerne gen Himmel entschwunden. Erst am frühen Abend entfernten sich die Trauernden tränenreich.

Der Bestatter wurde gebeten, erst nach Erreichen der Schlafenszeit die Verstorbene am Hintereingang des katholischen Pflegeheims abzuholen. Keiner der Bewohner sollte daran erinnert werden, dass der Sensenmann ums Haus schlich.
Der Familienclan der Meiers hatte sich schon vor Jahren für einen Vorsorgevertrag beim modernen Discount-Bestatter entschieden. Oma sollte voller Würde und Pietät, aber auch möglichst preisgünstig verabschiedet werden.

Kurz nach Mitternacht rollte die lang gezogene, schwarze Bestattungslimousine an den Hintereingang. Der Beerdigungsunternehmer freute sich über den herbstlichen Konjunkturaufschwung. Als er die Fahrertür hinter sich zuschlug, lächelte er so breit, dass die Lücke eines fehlenden Eckzahns sichtbar wurde. Wohlgestimmt ließ er den Wagen an. Sein Weg zum Krematorium im Bergstädtchen war noch weit. Das Pflegeheim lag in einem romantisch bewaldeten Tal, tief unterhalb der Stadt. Herbstliches Wetter spielte mutwillig mit dem nassen Laub.

Georg war Postbeamter, Familienvater, Mitglied in einem Kegelverein und Lottospieler. Jeden Montag grämte er sich, weil er arbeiten musste, denn die Lottofee hatte ihm am Samstagabend wieder lächelnd einen Tritt versetzt, der hart genug war, um am Montagmorgen aufzustehen und seiner Arbeit nachzugehen. Entspannung fand Georg jeden Freitagabend beim Kegeln. Heute hatte er lange gekegelt, es war bereits ein Uhr in der Nacht. Seine Frau würde ungehalten sein.
Trotz Mondschein war das zu durchquerende Waldstück schlecht ausgeleuchtet. Georg freute sich daher über den großen, dunklen Wagen vor ihm, der mit seinen Rückleuchten den steilen Weg wies.

Bestatterwagen und Georgs Opel bildeten eine einsame, schnelle Kolonne auf der kaum befahrenen Landstraße.
Eine kleine Unaufmerksamkeit für einen noch kleineren Moment ließ den Bestatter das Reh am rechten Fahrbahnrand nicht sofort wahrnehmen. Als er es dann doch bemerkte, trat er mit aller Kraft auf die Bremse. Reifen quietschten. Es gab einen heftigen Ruck, der Wagen stand, die Ladetür sprang auf. Oma Meier schleuderte zunächst nach vorn, prallte ab und rutsche durch die berstende Rückfront des Billig-Sarges „Winterreise“ mitten auf die abschüssige Straße. Georg bremste fast gleichzeitig und kam kurz vor Oma Meier zum Stehen. Er brauchte einige Zeit, um sich im Hier und Jetzt wiederzufinden.
Eine weiße Frau lag vor ihm auf der Straße. Sein erstarrter Körper sah auf die Ladefläche. Es war nach Mitternacht, der Mond stand am Himmel, er blickte auf einen zerborstenen Sarg und eine weiße, nur mit einem Nachthemd bekleidete Frau mit gefalteten Händen lag vor ihm. Georg wimmerte.

Der nun nicht mehr wohlgestimmte Bestatter entstieg seinem Fahrzeug, nahm die Situation in Augenschein und kam zu der Überzeugung, Oma Meier nicht mit eigener Kraft in ihr letztes Heim bugsieren zu können. Er ging nach hinten und klopfte an die Scheibe des Opels. Georg sah einen Sarg, eine dicke, weiße Leiche und einen unheimlichen Mann in dunklem Anzug, der an die Autoscheibe klopfte. Er wimmerte lauter.
Der Bestatter klopfte erneut. Georg brauchte noch eine Weile, um sich zu sammeln. Plötzlich schreckte ihn sein eigenes Gewimmer - schließlich war er doch normalerweise ein richtiger Kerl. Langsam fuhr er die Seitenscheiben herunter.
„Würden Sie bitte aussteigen und mir helfen?“ Georg nickte und stieg mechanisch aus. Moralisch betrachtet, handelte er richtig. Aussteigen und Helfen bei einem Unfall. Er erinnerte sich an seine theoretische Fahrprüfung. Und an die moralische Richtigkeit.
„Brauchen wir einen Erste-Hilfe-Kasten?“ frage Georg, die Theorie erinnernd.
Mit kalten blauen Augen starrte ihn der Bestatter an.
„Das wird nicht mehr nötig sein,“ brummte er und ging voran. Georg tapste unsicher hinterher.
Der Unternehmer packte Omi Meier unter den Achseln und hob sie ein Stückchen empor.
„Würden Sie bitte ihre Beine nehmen, dann können wir sie wieder in den Sarg legen!“
Georg starrte auf die weiße Leiche. Starrte auf den Bestatter. Starrte auf die nackten, blassen, wulstigen Beine und schüttelte den Kopf.
Der Beerdigungsunternehmer konnte die schwere Frau nicht länger halten, sie rutschte an seinen Beinen hinunter.
„Warum packen Sie nicht zu?“ fragte er ärgerlich.
Georg fasste sich. „Sie ist doch ... ich meine ganz ... nein, das kann ich nicht,“ stammelte er. „Ist sie noch warm?“ Er starrte immer noch auf ihre Beine.
Der Bestatter verstand und lächelte. „Sie ist tot, Mann. Sie tut nichts mehr. Tote schlagen nicht zurück.“ Georg sah das Lächeln des Mannes, den fehlenden Zahn und zweifelte, ob er diesem Kerl trauen sollte.
Der versuchte Georg zu beruhigen. „Dort unten müssen sie anfassen,“ befahl er und wies auf die Knöchel. Dann ging er wieder zu den Achseln und hob die Tote hoch.
„Ist sie wirklich nicht mehr warm?“ fragte Georg ängstlich.
„Nein, sie ist nicht mehr warm!“ wurde er beschwichtigt.
Gerade wollte Georg zugreifen.
„Oh, mein Gott ist sie dann etwa schon kalt?!“.
Der Bestatter ließ Oma Meier zum zweiten Mal abrutschen.
„Welche Temperatur hätten Sie denn gerne?“ rief er verärgert.
Waidwunde Augen schauten ihn an. Georgs Frau nannte das seinen Dackelblick. Wenn er so guckte, konnte sie ihm keinen Wunsch abschlagen.
„Können wir um die Beine nicht ein wenig Küchenkrepp wickeln?“ tastete sich Georg vorsichtig vor.
„Ich habe kein K ü c h e n k r e p p dabei!“ Die Stimmung war gereizt.

Georg dachte nach. Die allzu dünnen Erste-Hilfe-Handschuhe kamen nicht in Frage, denn die waren bestimmt gefühlsecht. Aber auf der Hutablage seines Opels lag eine Toilettenpapierrolle unter einem gelben, gehäkelten Mützchen. Schnellen Schrittes holte er die Rolle, drückte sie dem kopfschüttelnden Bestatter in die Hand und der begann, die Knöchel von Oma sorgfältig mit Toilettenpapier zu umwickeln.
„Ist es jetzt genug?“
Georg wies auf eine noch unpapierte Stelle und der Bestatter wickelte weiter.
„Jetzt ist genug!“
„Sicher?“
„Ja!“

Der Bestatter griff mit grober Bewegung unter die bekannten Achseln, Georg fasste mit spitzen Fingern an die umwickelten Knöchel und packte dann zu.
Angewidert stammelte Georg bis zum Ablegen „Oh, Gott, oh Gottogottogott.“
Der Discount-Beerdigungsunternehmer war zufrieden mit dem Ende der nächtlichen Begegnung. Meine Geschlechtsgenossen sind echte Schlappschwänze, dachte er.
Die beiden Autos setzen, mit gehörigem Abstand, ihre Fahrt fort. Von weit her schrie ein Käuzchen und Georg freute sich auf sein Zuhause samt warmer Frau im warmen Bett.

Er entwickelte Stolz, hatte er sich doch als ganzer Kerl bewiesen. Toilettenpapierrollen sind eine geniale Erfindung, dachte Georg. Nach einigen Minuten Abstand fand er, eine große Geschichte erlebt zu haben, aus der er gestärkt hervorgegangen sei und die er für den Rest seines Lebens bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten zum Besten geben konnte.
Oma Meier hatte auf ihrem letzten Weg ein gutes Werk getan und sich zugleich ein Denkmal gesetzt.
 

Rainer

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hallo gox,

ein detail macht mir den ganzen text "uneingängig": nach den gesetzen der physik ist es mir unmöglich, das herausrutschen der oma aus dem sarg nach hinten zu "sehen".
das funzt bei mir nur, wenn der bestatter rückwärts gefahren wäre...


viele grüße

rainer
 

gox

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Hello Rainer -
vielleicht muss ich das deutlicher schreiben, gerade dieses Detail ist dem wirklichen.. öh.. Leben entnommen.

Der Wagen mit dem Sarg fahrt ja schnell bergauf (!). Wenn dann ruckartig gebremst wird, knallt der Sarg zuerst gegen den Rücken des Fahrers, Omi prallt an der Stirnseite ab und wird in die Gegenrichtung geschleudert.
Versuch das mal mit einer Colaflasche ;-)

Ich danke Dir aber herzlich für den Hinweis!

Viele Grüsse vom gox
 

Rainer

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hallo gox,

dass sich dieses leben aber auch nicht nach der physik richten will - himmelherrgottsakrahundverflixter ;).
vielleicht würde sich ein perspektivwechsel an dieser stelle gutmachen: der bestatter freut sich das reh nicht erwischt zu haben und ärgert sich über den unsanften stoss von hinten, hört den sarg dann gegen die hintertür knallen...
... und georg sieht sich im moment des ausgehens der bremslichter den sich öffnenden wagentüren gegenüber.
jetzt geht langsam meine phantasie mit mir durch, aber so eine zweiflügelige autoklappe hat ja auch was von `ner kirchentür, ergo bitte mit sakraler musik in georgs wagen... :)

viele grüße

rainer
 

gox

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hello Rainer,
so, ich habe die unglaubwürdige Stelle überarbeitet und präzisiert und hoffe, dass sie dadurch an Glaubwürdigkeit gewinnen konnte!

Viele Grüsse vom gox
 



 
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